Frankfurter Allgemeine Zeitung - 11.03.2020

(Greg DeLong) #1

Bobby McFerrinsingt,was auf den
Tisch kommt.Ermusseinenrobusten
Magen undstarke Geschmacksner ven
haben.Alles,auchUnverdauliches und
Rohes, vorallem aberUnverträgliches
für die HauteCuisinevonJazz und
Klassikgleichermaßen wirddaohne
großeUmstände gnadenlos zerkaut.
Ein Andantecantabile vonTschaikow-
sky,garniert mitgutturalem Scat-Ge-
sang, VivaldisDoppelkonzertg-Moll,
bei demdie zweiteCello-Stimme–ja,
wo istsie denn?Kein Problem,ein
Da-Be-Di-Du-Dab-Souffléals Kontra-
punkt macht auchsatt. Bach-Präludien
als Hausmannskostfür Laienchöre,
herbe Miles-Davis-Phrasen mitvoka-
lem Schlagobers,Blues-Tristesse im
Happy-go-lucky-Sud.
Man täusche sichnicht.Bobby
McFerrin, dieser hochgebildete(Juil-
liard, Bernstein, Ozawa,die ganze Pa-
lette), pädagogischaktive(Work-
shops, Singkurse, honorigeProfessur)
und rastlos dieKonzertsälevonOtta-
wa bis Malaysia füllende Künstler
(Jazzmusikerwärezuwenig des Gu-
ten) weiß, wasertut, wenn er singt,
wasanderenicht mal spielenkönnen.
Underweiß, werHugo Riemann ist,
kennt dieverlorengegangenen Selbst-
verständlichkeiten in der Improvisati-
onskunstdes Mittelaltersund ver-
wechselt dieKontrafaktur der Bach-
Zeit, diefast alles erlaubt, nicht mit
demKontrabassvon RonCarter, der
zuweilen schlecht intoniertund trotz-
dem ein Genie ist.
Es gabinder Karrieredes Sängers
aus NewYorkimmerVorbehaltege-
gendie scheinbareWahllosigkeit sei-
nes Repertoires oder die Banalität
mancher Songs,die unverhofftzu
Ohrwürmernwurden und seinenAu-
toraufsmusikalische Mittelmaß des
Popstars reduzieren wollten. Auch
seine Ambitionen als Dirigent wur-
den zunächstbelächelt, bis er den
Nachweis seiner natürlichen Bega-
bung auchals Orchestererzieher,vor
allem mit dem SaintPaul Chamber
Orchestra, erbrachte. Die meistensei-
ner Skeptiker aber hat McFerrinbei
seinenKonzertenals Sänger wider-
legt, witzigen, inspirierenden,vorur-
teilsfreien und musikalischüberaus
kompetenten Auftritten, bei denener
alle ästhetischen Hierarchien, Schlag-
bäume, Dogmen, Scheuklappen, Bor-
niertheiten, dasganze musikalische
Pathos mit seiner außergewöhnlich
agilen, zu jederAusdrucksnuancefä-
higenStimmecharmant inLuft auf-
löste.
BobbyMcFer rinkann vokalalles,
mit Zischlautenund bloßem Ein-
atmen, durch Flüstertöne und Gau-
menschnalzen einenChor ersetzen
oder mit denFinger namMikrofon
und derflachenHand aufdem Reso-
nanzboden seines Brustkorbs eine
ganze Jazzcombo imitieren. Under
kann Neues schaffen, weil ihmkein
Geräuschzugering und nichtsheilig
ist. Er zeigtvor allem eines: dass
KunstSpaß macht, besonders,wenn
man sie nicht in Groß-und Klein-
kunstunterteilt.ImWiederzu-
sammenfügenist BobbyMcFer rin
Meister. Heutewirdersiebzig Jahre
alt. WOLFGANGSANDNER


E

ssieht nach wenig aus. Ein Klum-
pen Gips, dereinemselbstgeba-
ckenen Brot gleicht.Dochverkör-
pertdieserAbdruc keines Papier-
knäuels die Essenzderbemerkenswerten
Ausstellungder LondonerRoyalAcademy
über PicassosAusschöpfungder kreativen
Mög lichkeitenvonPapier.Denn derAb-
druc kführt vorAugen, wie derKünstle rdie
FlächigkeitvonPapier negierte. Vielmehr
betrachteteeresals taktilen undformba-
renStoff.Schon als Kind reizteihn das drei-
dimensionalePotentialvonPapier,wie die
witzigen kleinen Scherenschnitteeines
Hundes und einerTaube gleichzuBeginn
zeigen. Der unscheinbareGipsbrocken
bringt Picassos haptisch-räumlicheAuffas-
sungdes Materials ebenso auf den Punkt
wie dessen Eigenwert für diekünstleri-
sche Gestaltung.Zugleichversinnbild-
licht er dieAufhebung der Grenzen zwi-
schen den Gattungen, Prozeduren und
Materialien, die in der zusammen mit
dem Cleveland Museum of Artgestalte-
tenAusstellung ein ums andereMal zu be-
obachten ist.
„Picasso undPapier“stellt die Bedeu-
tung der Materialität für denSchaffenspro-
zess außerordentlich aufschlussreichin
denVordergrund. Die Brisanz derAusstel-
lungverdankt sichnicht nur derAuswahl
vonrund 350vornehmlichaus der persönli-
chen Sammlung unddem riesigenPrivatar-
chiv desKünstle rs im Pariser Picasso-Muse-
um kommenden, oftunbekannten Expona-
ten, sondern auch deren klugerAnord-
nung.Papierist derAriadnefaden, dervon
den Anfängen in der akademischenTraditi-
on zum ungestümenSpätwerkführt. Picas-
so zeichnete, wie er dachteund wie er leb-
te,schrieb seinFreund und Biograph Ro-
landPenrose: „Dasganze Drama seines Le-
bens, Liebensund derUnvermeidlichkeit
desTodes istzugegen.“ Dieses Drama ent-
faltet sichhier in demMedium, das am un-
mittelbarstenEinblickindie Gedanken-
welt einesKünstlers gewährt.
DieArbeiten auf,aus und mitPapier
sindweitgehendchronologischumSchlüs-
selwerke aus denverschiedenen Etappen
vonPicassoskünstlerischem Daseingrup-
piert, beginnend mit seinem ersten Meister-
werk,der großen,schwermutvollen und
symbolträchtigenLeinwand, „Une Vie“
von1903, in der seine blauePeriode gipfel-
te.Wie Satzzeichenstrukturieren dieGe-
mäldeund Skulpturen dieFülle des Materi-
als in den opulentenRäumen auf der Bel-
etage, deren Pracht durch niedrigere, einge-
stellte Wändegedämpftworden ist. Den
Schlusspunkt setzt das schonungslose
Selbstporträt, in dem sichder Neunzigjähri-
ge mit todesfürchtigemBlickaus leerenAu-
genhöhlen als Schädel zeichnet.
Papier istfür Picasso niebloß Malgrund
oder Bildträger.Erbemalt,belichtet,be-
schriftetund bedrucktes; erfaltet,zer-
schneidet, zerreißt undmodelliertes; er
klebt damit oder brennt mit derZigarette
Löcher hinein, um zurAufheiterung der
Geliebten DoraMaarnachdem Todihres
Hundes einen Serviettenfetzeninein Ab-
bild deswolligen Bichonfrisé zuverwan-
deln.Variationendes Gitarrenmotivsver-
anschaulichen die BedeutungvonPapier
bei der Entwicklung einerrevolutionären,

mit Raum undFläche spielendenFormen-
sprache,die nicht dasAuge,sondern den
Versta nd täuschen sollte, wiePicasso wit-
zelte.Fotografien vonDoraMaar doku-
mentieren, wiePicasso bei der Arbeit an
„Guernica“verschiedenePapierentwürfe
mit Stecknadeln an die Leinwand heftete,
bevorersichfür die endgültigeFassung ent-
schied,eine Methode,die er bei seinemVa-
tergelernt hatte. Als er sich in den fünfzi-
gerund sechzigerJahren mitManets „Früh-
stückimFreien“auseinandersetzte, bastel-
te er ausPappe undPapier persiflierende
Faltskulpturen des „flottenVierers“, die
ihm bei der Anordnung derFiguren in sei-

ner Interpr etation halfen. Sie sind in einer
Vitrinevoreinigen der zahlreiche nVaria-
tionen nach derVorlageaufgestellt.
Immersteht hinterdiesen Experimen-
tendie rastlose Suche nachneuenkünstleri-
sche nAusdrucksformen, aus der sich auch
die vielenStilwechsel unddas Material-
spektrum ergeben. Nichtnur,dassPicasso
mit denunterschiedlichstenUtensilien und
Texturenspielte.Erbewahrteauchjeden
Fitzel auffür denFall,dasserdafürVer-
wendungfinde:Metro-Kar ten, Menüs,Zei-
tungen,Hotelbriefpapier,Pappe,Noten-
blätter, Tapetenstücke undwas ihm sonst
nochunter die Händekam. Jean Cocteau
nannte ihn dennaucheinengenialenLum-
pensammler. Picasso bezeichnete sich
selbst als „Papierfraß“.Über die „gefunde-
nen“ Objektehinaus belegen Musterbü-
cher diegezielt eJagd nachverschiedenen
Papiersorten, alt undneu, deren Beschaf-
fenheitsichfür dieVerwirklichung seiner
Vorstellungen eignete. Dem Fotografen
BrassaïteiltePicassobeglückt mit, dasses
ihmgelungensei, Japanpapier zu ergat-
tern.Ersei da vonverführtworde n.
Dieverführerische Macht desPapiers
wirkt in Einklang mit der zwanghaften
Scha ffenswut.Sie macht sichimBeiläufi-
genebenso bemerkbar wie in ambitionier-
tenProjekten. Beider intensiven Bildfin-

dung der „Demoiselles d’Avignon“, der ein
ganzerRaum gewidmetist,entstandenin
demkurzen Zeitraum zwischenHerbst
1906 und Sommer 1907 HundertevonSkiz-
zen.Wenn er einenGedankenfesthalten
will, dientihm alles,was ihmgerade in die
Fingerfällt:ein Briefumschlag,eine Rech-
nung, ein elegantes Modefoto, dasermit
flüchtigen Federstrichen erotischauf-
motzt, odergareineSalatschüsselaus Oli-
venholz, in derenUnterseiteereinenStier-
kämpfer einbrennt, den er wiederum auf
Velinpapierabdruckt.

D

ora Maar behauptete,esverän-
deresichbei Picasso immer al-
les, wenn er die Geliebteaus-
wechsle. In fast jedem Ab-
schnitt derAusstellung istdenn auchdie
Leidenschaftfür eineFrau im Spiel. In
„Femmesàleurstoilette“, derfast fünf Me-
terlangen, drei Meterhohen Collageaus
Tapetenstücken, die Picasso 1937 bis 1938
unmittelbar nach„Guernica“ alsVorlage
für einenTeppichschuf, macht er sichden
Spaß,die Frauen in seinerVariation zu
dem beliebten Motiv derKunstgeschichte
gegeneinander auszuspielen. DoraMaar,
die damaligeNummereins, sitzt in der
MitteamFrisiertischund wirdzuihrem of-
fensichtlichenKummervonzweiVorgän-

gerinnen umrahmt. LinksPicassosFrau
OlgaKhokhlova undrechts Marie-Thé-
rèse Walter ,die DoraMaar mit ihrem Spie-
gelbild triezt.Durch den Türbogen istin
der vorherigen Galerie diegroße bronze-
ne Büstevon Marie-Thérèse zu sehen, um-
geben vonVorzeichnungen, in denen Pi-
casso mit ihrer markantenNase spielt,der
erphallischen Charakterverleiht.
In einemRaum wird ein Ausschnittaus
Henri-GeorgesClouzots1955gedrehtem
Film „Le MystèrePicasso“ neben einigen
fris ch restauriertenImprovisationen ge-
zeigt, dievorder Kameraentstanden sind.
PicassosFilzstifte durchbluteten dasdünne
Papier. Aufder Leinwandwirkt es, alswer-
de derStiftvon unsichtbarerHandgeführt.
Clouzotwolltedem GeheimnisvonPicas-
so aufdie Spurkommen, indem er den
Schöpfungsprozessfesthielt.„Um zu wis-
sen,wasimKopf einesMalers vorgeht,
reicht es, seinerHand zufolgen“,erklärt er
einleitend. Picassoweiß, dasser beobach-
tetwird, und setzt sichals Künstlergenie in
Szene. In der LondonerAusstellungkann
man seiner Handfolgen undseine protei-
sche Kreativität unmittelbarerleben, ohne
jedesGetue.

Picasso undPapier.In derRoyalAcademy,
London;bis zum 13. April. DerKatalogkostet
gebunden 40, broschiert 25 Pfund.

D

er „Staatsbürgerplatz“ (Kansa-
laistori)zwischen Helsinkis
Hauptbahnhof und der nach
Feldmarschall Mannerheim be-
nannten Prachtstraße scheint, wie so vie-
les in dieserStadt, einem Bebauungsplan
aus einem Gusszufolgen:Überragt von
dem wuchtigen Granitblockdes Parla-
ments, wirderdurch das elegantgeboge-
ne Kunstmuseum Kiasma und das eher
kantigeKonzerthausflankiert, und die
2018 eröffnete Zentralbibliothek bildet
den Abschluss.
Dochtatsächlichwurde um die Gestal-
tungdiesesBereiches lange gerungen.In
den altenEisenbahnmagazinen, die der
Neubebauungweichen mussten,hatten
noch Resteinner städtischer Subkultur
überlebt.Nun prangthier einrepräsentati-
vesEnsembleaus Tempeln der Demokra-
tie,Kunst, Musik undLiteratur.Unter den
Holzrippen deskühn überhängendenEin-
gangsbereichsvonOodi –den Architektur-
wettbewerbgewann dasfinnische Büro
ALA–wirdman wiedurch die Bartenei-
nes massigenWals eingesaugt.
Voninnen betrachtet, scheint das Ge-
bäude aufseinem eigenenErdgeschosszu
schweben wieauf einemLuftkissen.Wer
Stadtbibliotheken mitKunstli chtund be-
tongrauer Patinagewohntist,musssich
umstellen. Schließfächer gibteskeine, der
Rucksackdarfmit hinein.AnBüche rn
sieht man aufden ersten Blicknur ei npaar
Regale mitBestsellern.Dochdie energi-
sche Leiterin Anna-MariaSoininvaara
wirkt mitdickrandiger Brille,Jeanskleid
undanthrazitgrauerWeste wie einemus-
tergültig eBibliothekarin. Sie führt den Be-
sucherinden Bauchdes Wals, wo Roboter-
wagendie Bücher sortieren.
Die Helferlein sind nachfinnischen Kin-
derbuchfigurenbenannt–Ergebniseiner
Umfrage, wie auch derName der Biblio-
thek unterVorschlägen ausder Bevölke-
rung ausgewählt wurde, nicht ohneKontro-
versen.Das Fremdwort, es bedeutet
„Ode“, wirke distanzierend,man denke
eheranBeethovenoderOdin als anfinni-
sche Literatur,und das beieinemBau von
nationaler Bedeutung. Aber die Men-
schen, meint Anna-Maria Soininvaara, hät-
ten den Begriffmittle rweilewie einenEi-
gennamenadoptiert. Naheliegend in ei-

nem Land,wo Frauen Outi undMänner
Onni heißenkönnen.Finnischhat noch
dazu den unschätzbarenVorteil, weitge-
hendgenderneutral zu sein.
In di eObergeschosse führteine Wendel-
treppe, deren schwarzeWandflächen mit
weißer Schrif tbedecktsind –Otto Karvo-
nensKunstwerk„Omistuskirjoitus“ (Wid-
mung). Knapp vierhundert Begriffe –auch
sie aus einerUmfrag ehervorgegangen –,
die daraufverweisen,für wendie Biblio-
thekgedacht ist: fürArme, Reiche, Schüch-
terne, Hartgesottene.Kurz:für alle. Die Bi-
bliotheksleiterin unterstreicht ,alle seien
hier willkommen.
Vorkurze mgab es eineMesse rattac ke
aufeinerder (natürlich genderneutralen)
Toilette n, tr otzdemwillman keine Metall-
detektoren am Einganginstallieren. Zwei
jung eFrauenvomSiche rheitsdienst pa-
trouillieren in schwarzgrauen Overalls,an-
sons tensetzt man aufVertrauenstatt Kon-
trolle. Nichtselbstverständlich in Finn-
land,woSicherheitgroßgeschrieben wird.
Im ersten Stockfinden sichein ganzer
Gerätepark vonder Nähmaschine bis zum
3D-Drucker, Medienarbeitsplätzeund ein
Tonstudio. DieBenutzungist meist gebüh-
renfrei ,bis aufdie Materialkosten. Ob man
sich in denArbeitskabinenzur Gruppenar-
beit trifft oder„World ofWarcraft“spielt,
dasbewertetdie Bibliothekschefin nicht.
Auch Computerspieleseien Medien und
gehörtenalso dazu.
ZurWandhin steigen Sitzstufen an,
doch erinnertdiesesStockwerkmit seiner
niedrigen Deckeund dendickenStützbal-
keneher an das Zwischendeck einesSchif-
fesals an ein Amphitheater.Anna-Maria
Soininvaarahat reichli ch Zahlen parat:
DerStaat trug dreißigProz ent der Baukos-

tenvon knapp hundert Millionen Euro,an-
sonstenist Oodi einekommunaleEinri ch-
tung. Ein Sechstelder vierundsechzig Mit-
arbeiter sindmedienpädagogischspeziali-
sier t. Täglichkommenetwa achttausend
Besucher, auchamWochenendeherrsche
Vollbetrieb. DieIdee,eine Bibliothekinei-
nemmultimedialen,multifunktionalen
Konzeptaufgehen zu lassen, scheintzu
funktionieren: Allein im letzten Jahrgab
es zwanzigtausendNeuanmeldungen–Hel-
sinki hatgerad eeinmal 650 000 Einwoh-
ner, Finnland fünfeinhalbMillionen.
ImOberdeckverwandelt sich derWal in
einenmächtigen Schiffskörper,zu Bug und
Heck hin steigtder Boden unter derwei-
ßen,weichgeschwungenen Decke sanft
an.Wodie Kapitänskajütewäre, istdas
Märchenzimmer,ein gepolsterter Raum

mit wechselndemfarbigemLicht. Davor
ein Spielteppich, auf demein paarSäuglin-
ge durcheinanderpurzeln. An dergläser-
nenAußenwand parkt eine langeReihe
vonKinderwagen. Aufder gegenüberlie-
genden Seite ein Cafémit großerTerrasse,
vorder si ch ein prachtvollesStadtpanora-
ma ausbreitet.Und: Bücher.
Diese Ebenegehörtder Literatur aller
Genres. DieRegale kaum brusthoch,so
dass sichder Raum komplett überblicken
lässt.Den FußbodenschmückenBildteppi-
chemit Motivenaus derfinnischenLitera-
turgeschichte, etwa eine detailgenaue
Nachbildung der Hütte, in der derNational-
dichter Aleksis Kivistarb. In dasAugedes
siechen Schöpfers der „SiebenBrüder“
bohrt sich das Bein eines Sofas.Umdiese
Literaturinseln herumfindenregelmäßig
Lesungenstatt –imdigitalisierten, technik-
begeisterten F innland erscheinenjährlich
knapp zehntausend neueBuchtitel, das
sindimVerhältniszur Gesamtbevölkerung
deutlichmehrals in Deutschland.
Im Eröffnungsjahrkamen Bibliotheks-
delegationen aus allerWelt na ch Helsinki
gepilgert, um sichAnregungenfür eigene
Bauprojekte zu holen, auchaus Hamburg
und Berlin. Dochzum Gelingen eines sol-
chen Hausesgehörtmehrals ein durch-
dachter Bauplan. In Finnland sind, anders
alshierzulande, öffentliche Bibliotheken
keine freiwillige Aufgabe. Ein Gesetzver-
pfli chtetStaat undKommunen,sie zu be-
treiben. Hinter denErfolgenvonOodi
steht, wiehinter denen desfinnischenBil-
dungssystems insgesamt, dieÜberzeu-
gung, dassWissen und Bildung uneinge-
schränkt für allegleichermaßen zugäng-
lichsein müssen –für Asylsuchende und
Konser vative,Regenbogenteenager und
Landeier.

Die Bibliotheksleiterin erklärt, dasgan-
ze finnische Bibliothekswesen profitiere
vonOodi, dieAusleihzahlenstiegen lan-
desweit.Architekturpreise und Lobeshym-
nen in derFachpressestützen diese Selbst-
darstellung.AberistOodiwirklichdas
„WohnzimmerFinnlands“, wie es heißt?
An einemniedrigenrundenTischhaben
es sichdie Gymnasiastinnen Julia undVee-
ra so gemütlichgemacht,wie es ebengeht,
wenn man die ungeliebten Matheaufgaben
erledigen muss.Die Schuhe haben sieaus-
gezogen, eineoffene Dosemit einemkleb-
rigenEnergiedrinkstehtzwischen ihren
Büchern. Sieverbringen mehrmals proWo-
cheeinigeStundenhier,meistnachder
Schule. Oodi istfür beidegleich weit von
den gesichtslosenVorstä dten entfernt, in
denensie leben undindenen es selbstre-
dend gutausgestatteteBibliotheken gibt.
Die Angebote im Zwischengeschossinter-
essieren sieweniger–„zu vielzutun“, sa-
gensie –, aberBücher leihensie schon
auchaus, „ab und zu“.
Die beiden sindweitaus näheramge-
schätzten Altersdurchschnitt desPubli-
kums an diesemNachmittag alsKaijaund
Harri,rüsti ge Pensionäreaus der Provinz,
die ein paarTeppicheweiter aufeinem
Sofasitzen undsichraunend unterhalten.
Die Architektur sei beeindruckend, man
spürtden Stolz aufdas Haus.Aber Kaija
fragt sichauch,werdas alles aufDauerfi-
nanzierensolle. Sieglaubt nicht, da ss die
vielen „ausländischen“Schülerinnen, die
hier überBüche rn oder Hausarbeiten sit-
zen, späterihreSteuern in F innland zahlen
werden. Undbeide fühlensichunwohl.
Kaijafehlt es anÜberwachung,das seial-
les zu frei, zu offen–Harri,ehemaliger
Polizist, pflichtet ihr bei. Hierkämenalle
hinein, jedenMomentkönneetw as passie-
ren, wie die Messerattacke gezeigthabe.In
HarrisAugen mag OttoKarvonensWid-
mung,die Herumtreiber undVerbrecher
einschließt, auch eine Drohungenthalten.
Völlig unbesorgtist dagegender einund-
dreißigjährigePurr–dunkler Bart,roter
Rock undRingelsocken–,der mitder ver-
gnügten Saimi aufdem ArmamSpieltep-
pichsteht:„Die Kleinekann jasowieso
nochnicht weglaufen.“ Für ihn isthier ein
attraktiver,zentralerTreffpunktfür junge
Familien. Bücher ausleihen?Doch, „ab
und zu“ nutze er Oodiauchals Bibliothek.

HochkunstaufHotelpapier

Die BerlinerBallettwel twirdseit vie-
len JahrenvonChristianeTheobalds
Arbeitvorund hinter denKulissenge-
prägt.Als stellvertr etende Intendan-
tin desStaatsballetts Berlin auchun-
terden zum 31.Juli 2020 aufhörenden
LeiternJohannes Öhman und Sasha
Waltz tätig, rückt die unermüd liche
Kämpferinfür denTanz in Berlin und
umsichtigeManagerin zum 1.August
in denRang einer Interimsdirektorin
auf. Damitist die Frageeinerdirek-
ten, vorübergehendenNachfolge nun
naheliegend entschieden. Der„Tages-
spiegel“ berichtetimZusammenhang
mit der Bekanntgabe dieserPersona-
lie auch,KultursenatorKlaus Lederer
habe erklärt, erwerdesichbei derNeu-
besetzungder Staatsballettintendanz
beraten lassen. Das istgut –besser
wäre nochzuwissen,vonwem. hue


Willkommen


im Wohnzimmer


Flaggschiffeines Leselandes:Wiesichdie Stadtbibliothek Oodiinder finnischen


Hauptstadt unentbehrlichgemacht hat.VonBenjamin Schweitzer,Helsinki


Die Bibliothek Oodi in Helsinki FotoHohteri

BobbyMcFer rin Fotodpa


DieRoyal Academyin


Londonzeigttatsächlich


noch unbekannteoder


übersehene Arbeiten


vonPica ssoauf Papie r.


VonGina Thomas,


London


Der


Allessinger


BobbyMcFer rinzum


siebzigstenGeburtstag


PicassosTapetencollage „Frauen bei derToilette“von1937–38 FotoSuccession Picasso/VGBild-Kunst, Bonn 2020

Zwischenlösung


Berliner Ballett


SEITE 12·MITTWOCH,11. MÄRZ2020·NR.60 Feuilleton FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG

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