Frankfurter Allgemeine Zeitung - 11.03.2020

(Greg DeLong) #1
Leserbriefe, die mehr als einebloße
Meinung äußern,genießen in derLe-
serschaftein hohes Ansehen, denn vie-
le nehmen an,dassdie dort veröffent-
lichtenTatsachenbehauptungen auf tie-
fergehenderKenntnis beruhen als die
journalistischenDarstellungen, denen
siewidersprechen oderdiesie ergän-
zenwollen.Umso wichtiger istes, irre-
führende Leserbrieferichtigzustellen,
damit unbefangene Leser nichttatsäch-
lich einem Irrtum verfallen. Der in der
F.A.Z. vom25. Februar aufder Seite 18
unterdem Titel„HorthysDeportati-
on“ veröffentlichteBrief verbreitet
eine durchAuslassung verfehlte
Schuldzuweisung an das damaligeun-
garischeStaatsoberhau pt Miklós Hor-
thy: „AuchHorth yließ Juden deportie-
ren.“ Vonden 564000 deportierten
undermorde ten ungarischen Juden –
so derVorwurfdes Briefes–„wurden
437 000 innerhalb vonnur siebenWo-
chen zwischen dem 14. Mai unddem 9.
Juli 1944,also zu Horthys Reichsverwe-
serzeit, in 145 Zügen nachAuschwitz
deportiert undermordet.“
Weder dieZahl der Opfernochdie
Datumsangabe bedarfeiner Richtigstel-
lung,umso mehr aber dieFormulie-
rung „zu Horthys Reichsverweserzeit“.
Denn unerwähnt bleibt dabei, dassUn-
garn seit dem 19. März 1944nicht
mehr ein souveräner Staatwar,son-
dern auf Befehl Hitlersvon der deut-
sche nWehrmacht besetzt wurde. Das
„Unternehmen Margarethe“ hatte
neun Divisionen in Marschgesetzt.
DermehrjährigeGesandteDietrich
vonJagowwurde abgelöstund derSS-
BrigadeführerEdmundVeesenmayer
trat als neuer Gesandterund „Bevoll-
mächtigerdes Großdeutschen Rei-
ches“ auf.Ungarn warunter worfen,
auch wenn es einevonVeesenmayer
überwachte Marionettenregierungun-
terDöme Sztojayaufwies,dem bis da-
hin inBerlin akkreditierten ungari-
sche nGesandten.Die Politik desvon
Horthy zwei Jahre zuvorbeauftragten
MinisterpräsidentenMiklós Kállay war
einerder Gründe derdeutschenBeset-
zungUngarnsgewesen.
Am Tagnachder Besetzung rettete
sich Kállayvor denNachstellungen
Veesenmayersindie türkische Bot-
scha ft.Horth yverharrteimAmt des
Staatsoberhaupts, damitkein anderer
dasAmt an sichreißenund imNamen
Ungarnssprechenkonnte. Sein Ein-
flusswar jedoch im Wesentlichen auf
Budapestbegrenzt.Das warendie tat-
sächlichenUmstände in diesemAb-
schnitt der im Leserbriefgenannten
„ReichsverweserzeitHorth ys“. Kein
Zweifel, dassdie Regierung Sztojay–

und zahllose örtlichePotentaten–wäh-
renddessen mit der deutschenWehr-
macht,mit der Gestapo, derSS und mit
Adolf EichmannsKommando„koope-
rierte“. Veesenmayers Meldungen
nachBerlin istallerdingszuentneh-
men, dassdie Verschleppung der Ju-
den „seine Erfolge“ waren, erkündigte
sogar an, bis zum„Abschluss“inder
Region würden900 000 Juden an das
Reich„abgeliefert“werden. Dies alles
istimBundesarchiv belegt.
„Erstals Horthyerkannte,dassder
Kriegverlorenwar, stoppte er,gerade
er,die Deportation“,lautet eineUnter-
stellung des Leserbriefschreibers.Dies
zeugtvonUnkenntnis der Einzelhei-
ten, dennHorth yhatteKállay bereits
Anfang1942 berufen,umAbstandzu
Deutschland zugewinnen–beide sa-
hen die Lageklar.Hitler verlangte
schon 1943Kállays Ablösung, Horthy
widerstand damalsder Forderung. Als
er Mitte Juli 1944 die Deportationen
unterband,handelte der ehemalige Ad-
miral nicht aus eineropportunisti-
schenWendungheraus, sondernweil
Eichmann undVeesenmayer ihreVer-
brechen nun dorthin ausbreitenwoll-
ten, wo Horthynochüber eineloyale
und handlungsfähigeAnhängerschaft
verfügte. Eichmann und der übergeord-
neteVeesenmayer mussten für Monate
zurückstecken. Die Judenwaren in
Budapest im Vergleichzur Provinz in
relativer Sicherheit, das bezeugteinsei-
nen SchriftenauchGyörgyKonrád,
der als Elfjähriger ausdem Ostendes
Landes sichnachBudapestdurch-
schlug, umÜberlebenschancen zu er-
langen.
Horthy hatteantisemitischeÜber-
zeugungen,aber erwolltenicht hun-
derttausendfacher Mörder anFrauen
und Kindernsein.Veesenmayer zwang
dannauf die ihmeigen eArt Horthy
zumRücktritt, indem er am 15. Okto-
ber 1944den Sohndes Staatsoberhaup-
tesins GroßdeutscheReichverschlep-
pen ließ.Dannfolgte tatsächlich,was
die Überschriftdes Leserbriefs–para-
doxerweise auch–besagt:„Horthys De-
portation“–nachDeutschland.Wer
die Verantwortungfür dieVerschlep-
pungder ungarischen Juden trug, ha-
ben Gerichtebeurteilt: Sztojayund vie-
le anderewurde ninUngarn, Eich-
manninIsrael hingerichtet,Veesen-
mayerwurde imNürnberger„Wilhelm-
straßen-Prozess“zuzwanzig Jahren
Haftverurteilt.Allerdingskamder so-
genannte Diplomat schon 1951 frei
und lebtefortan zweieinhalb Jahrzehn-
te langunbehelligtinder Bundesrepu-
blik Deutschland.
DR.GEORGPAULHEFTY, KELKHEIM

BRIEFE AN DIE HERAUSGEBER


Zu dem ausNordrhein-Westfalen stam-
menden Bewerber für denstellvertre-
tenden CDU-Vorsitz, Jens Spahn sowie
zum aktuellen Generalsekretär derPar-
teiPaul Ziemiak schreibt UweEbbing-
haus in seinem Artikel „Das Beste
kommt noch“ (F.A.Z.vom9.März):
„Denn dervonArmin Laschetals Stell-
vertretervorgesehene Spahn istebenso
ein ausNordrhein-Westfale nstammen-
der katholischer Juristwie der aktuelle
Generalsekretär Paul Ziemiak.“
Hierzu folgende Anmerkung: Weder
Spahn nochZiemiak sind Juristen; viel-
mehr istZiemiak in der ersten Juristi-
schenStaatsprüfung zweimalgeschei-
tert,stammt nicht ausNordrhein-West-
falen, sondernaus Polen, wo er mitVor-
namen noch„Pawel“ hieß. Spahn hat
eine Berufsausbildung zum Bankkauf-
mann einschließlicheines IHK-Zertifi-
kats erfolgreichdurchlaufen.Neben sei-
ner Abgeordnetentätigkeit hat er noch
Zeit gefunden, an derFernuniversität
Politikwissenschaftenzustudieren und
den Grad eines MasterofArtszuerlan-
gen.


DR.THOMASSARHOLZ,ANDERNACH


Zu Christian Geyers Artikel „Super-
grundrecht Suizid?“(F.A.Z. vom5.
März): Geyererinnertdie Kritiker des
Verfassungsgerichtsurteils an innere
Widersprüche des vomGericht für
nichti gerklärten Gesetzes (Paragraph
217 StGB). DieseWidersprüchesind
aberkeineswegs als Makeldes Geset-
zesanzusehen. Ihnen liegtvielmehr
ein Antagonismus innerhalb des
Grundgesetzesselbstzugrunde. Geyer
legt hier also meinerAnsicht nachden
Finger auf einen wunden Punkt im
Selbstverständnis unserer Gesell-
scha ft.
Die Bundesrepublik Deutschland
verstehtsichals liberalerRechtsstaat,
dersichals solchergegenüber morali-
sche nWertu rteilen seinerBürgerneu-
tral zuverhalten hat.Zugleich bleibt
aber unser Grundgesetz an entschei-
denderStelle geradenicht neutral, son-
dern erkennt als obersten Wert die un-
antastbare Würde jedes einzelnen Men-
sche nals derRechtsordnungvorgege-
beneVerbindlichkeit an.Anders als
häufig behauptet(etwa in derAusein-
andersetzung mitdemRechtspopulis-
mus) sind liberalerRechtsstaat, „die
Werte“ des Grundgesetzes unddie
Menschenwürde abergerad enicht de-
ckungsgleich. Siekönnen durchaus in
Spannung zueinandergeraten,und
dies zeigtsich geradeauchinFragen
des Lebensschutzes.
Die Auflösungdieser Spannung
liegt in den oftbemühtengesellschaftli-

chen Voraussetzungen desStaates, die
diesernicht selbst garantieren kann
(Bockenförde).Der Staat kann als libe-
ralerRechtsstaat die individuelle Ent-
scheidung zumSuizidund daher auch
die Beihilfedazu nicht kriminalisieren.
Er kann aber auchkeineswegs dabei
stehenbleiben, wieGeyer schreibt, „ei-
nen säkularenRahmen (zuschaffen),
in welchemreligiöseAuffassungenvon
Selbstbestimmung und Sinnhaftigkeit
beworbenwerden können“. DerStaat
des Grundgesetzes lebtvonder Voraus-
setzungeinerKultur, die dieWürdedes
Menschennicht nur nicht verletzt,son-
dernauchpositivhochs chätztund affir-
miert.Als wehrhafte Demokratie muss
er dieseKulturauch aktiv schützen. Es
istevident,dass dubioseVereine, die
Suizidassistenz als „Dienstleistung“ an-
bieten, miteinersolchenKulturunver-
einbar sind.
DerBundestag hat im Jahre 2015
aus diesemWidersprucheine zugege-
ben ebenso widersprüchliche, aber,
wie mir scheint,durchaus ausgewoge-
neKonsequenz gezogen, die dem
Schutz individueller Entscheidung
ebensoRechnung trägt wie dem Schutz
eine rKulturdes Lebens. Dassdas Ge-
richtdiesesGleichgewichtzuunguns-
tendes Lebensschutzes verschoben
hat,scheint mir (um auf Geyers Aus-
gangsfrage zu antworten) der Skandal
des Urteilsund eingefährlicherPara-
digmenwechsel zu sein.

MARKUS KIRCHNER,REGENSBURG

ZumThema „Muslime und wir“vonPe-
terGauweiler (F.A.Z.vom26. Februar):
Der lesenswerte Essayvon Peter
Gauweiler animiertmichzueiner Mis-
zelle, indem ichauf denWittelsbacher
aus der Pfälzer Linie, CarlTheodor
(1724–1799), aufmerksam mache. Be-
vordieser als PfälzischerKurfürst von
Mannheim dieNachfolgeinMünchen
antrat, ließ er in den Jahren 1782–
in seiner barockenParkanlagein
Schwetzingen neben Schlossund Thea-
terund etlichen Kleinbauten aucheine
große Moschee errichten. Diesesstattli-
cheBauwerk, voreinigen Jahren auf-
wendig restauriert, befindetsichimhin-
terenTeilder riesigen Gartenanlage.
Im Jahr derFertigstellung 1795 wur-
de diegesamteParkanlageineinem
Portfolio vonsechskoloriertenAquatin-

ta-Radierungen vonCarlKuntz
(1770–1830) dem interessiertenPubli-
kumbekanntgemacht.Darunter befin-
detsichauchdas Motiv mit der Mo-
schee. Es handelt sichhier um die einzig
erhaltene Gartenmoschee überhaupt!
Diese dienteallerdings nicht derreligiö-
sen Praxis, sondernwar Ausdruck des
Interesses des Herrschersander Kultur
und Weisheit des Orients!
Gutvorstellbar,dassdiese Begeiste-
rung für den Orient im HauseWittels-
bachbis hin zu König Ludwig II.
(1845–1886) lebendig erhalten blieb.
Dies führte sogar in seinem Berghaus
auf dem Schachen imWetter steinmas-
siv,dassGauweiler in seinemText zi-
tiert, zur Einrichtung eines maurischen
Salons!

DR.JOHANNES VONGEYMÜLLER,ESSEN

Vonden vielen Zuschriften,die unstäglich
erreichen und die unswertvolle Anregun-
genfür unsereArbeitgeben,können wir
nur einen kleinenTeil veröffentlichen. Dabei
kommt es nicht darauf an, ob sie Kritik oder
Zustimmung enthalten. Oftmüssen wir kür-
zen, denn möglichstviele Leser sollen zu
Wort kommen.Wirlesen alle Briefesorgfäl-
tig und beachten sie, auchwenn wir sie
nicht beantwortenkönnen.

Wasunerwähnt blieb


Zu „Karlsruhe gibtSterbehilfefrei“ und
zum Leitartikel„Wirklichein Akt der
Selbstbestimmung?“ vonDaniel De-
ckers(F.A.Z. vom27. Februar): Grund-
rech te –esmussstets betont werden –
sind in erster LinieAbwehrrechte des
Bürgers gegenden Staat.Sie setzten
staatlichemRegelungswillen Grenzen.
Das Idealbild des liberalenVerfassungs-
staats setzt Selbstreflexion, Selbster-
kenntnis undVerantwortung des Bür-
gers für sichvoraus. Dem widerspricht
das BildvomMenschen, der „erzogen“
werden muss, sei es zur Organspende,
sei es,vorSterbehilfevereinen zu schüt-
zen,weil der Menschdas ja für sich
selbstnicht entscheidenkann.
Der liberaleVerfassungsstaat traut
seinem Bürgeraber dieKompetenz, für
sichselbstzuentscheiden, zu. Dassdas
Bundesverfassungsgericht in derFrage
der Sterbehilfekorrigierend eingegrif-
fenhat, stärkt einerseits das Bürger-
rech t, andererseits liegt es in der langen
Traditionvon Korrektureneines übereif-
rigenGesetzgebers.


FRIEDRICHW.SIEMERS, HANNOVER


ZurMeldung„18,36 Europro Monat“
in derF.A.Z. vom21. Februar:Den von
denöffentlich-rechtlichenSendernan-
gemeldeten„Finanzbedarf“ wie auch
die vonder FinanzkommissionKefvor-
geschlagene Erhöhungder „Fernseh-
steuer“ halte ichfür dreistund für einen
Akt der „Umverteilungvonunten nach
oben“ zugunstenvöllig überbezahlter
Intendanten,Fernsehdirektoren, Mode-
rato ren, Talkshowbetreiber,Fußball-
starsund Unt erhaltungssendungsprodu-
zenten und soweiter.
Wasbietendie öf fentlich-rechtlichen
Sender (von den privaten Sendernganz
zu schweigen) für das viele Geld?Vor
allem immer brutalereKrimis, diever-
mutlicherheblichzuder vonden politi-
schenKommentatoren dieser Sender
beklagtenVerrohung der Gesellschaft
beitragen.Wenn Verbrechen,Mord, Fol-
ter, Hassund soweiter zu einemwesent-
lichenTeil derAbendunterhaltung in
Deutschlandgehören,kann das eigent-
lichnicht ohneFolgen für die Mentali-
tätder Bevölkerung bleiben.
NuramRande sei erwähnt, dassdie
für viele Krimis zumVergnügen der
Filmteams und zu Lastender dasfinan-
zierendenZuschauergewählten immer
exotischeren Schauplätze sowie die im-
mer abstruseren Drehbücher mitvöllig
realitätsferner regelmäßiger persönli-
cher oderfamiliärerVerwicklung der
Ermittler in denFall unangemessen,
um nicht zu sagengrotesk sind.
Danebenwerden gebotenvöllig bana-
le, an Kindergeburtstage erinnernde
Spiel-und Quizshows, be idenen hölzer-
ne Moderatoren die immergleichen
C-ProminentengegenMenschen „aus
demVolk“ antreten lassen.Auchgebo-
tenwerden ödeTalkshows und politi-
sche Magazine, in denen oftgeradevon
denjenigenKommentatoren, die sich
durch einseitigeund polemischeStel-
lungnahmen auszeichnen, heuchlerisch
voreiner „Spaltung der Gesellschaft“
gewarntwird. Viel bliebe nochzu
schimpfen, einiges auchzuloben, zu-
sammenfassend aber mussich feststel-
len: 18,36 Europro Monat beziehungs-
weise 38,7 Milliarden Eurofür die
nächste Beitragsperiode istdas alles
nichtwert!


DR.CHRISTIANWEISER, EPPSTEIN


Bürgerrecht gestärkt Die Beihilfenicht kriminalisieren


Moschee in Schwetzingen


Keine Juristen


Zu viele Krimis


lid./joja.NEWYORK/DÜSSELDORF.
Amazonwagt sichmehr und mehr in den
stationären Einzelhandel. DerKonzern
betreibt mittlerweile mehrereLadenket-
ten, aberkeine vonihnen dürfteinder
Branche mit so vielAufmerksamkeitver-
folgtwerden wie die„AmazonGo“-Super-
märkte. Denn diekommen ohneKassen
und Kassenpersonal aus. Dank aufwendi-
gerTechnologie, die erkennt, welche
Ware aus denRegalen genommen wird,
könnenKunden die Geschäfte einfach
verlassen, ohne dasssie sichaneiner Kas-
se anstellen müssen.Bezahlt wirdautoma-
tisch, Schlangestehen entfällt.Amazon
nennt das „JustWalk Out“–„Einfach
rausgehen“. Es gibt heute in Amerika ins-
gesamtrund 25„Amazon Go“-Filialen.
Jetzt will Amazon dieses Projekt in
eine neue Dimension bringen. DasUnter-
nehmen hat angekündigt, dieTechnolo-
gie auchanandereHändlervermarkten
zu wollen. Es will sichdamit also nicht
mehr nur auf eigene Geschäfte beschrän-
ken. Wenn Amazon damit erfolgreichist,
könnte daskassenlose Bezahlen mit die-
sem System künftig bei einer breitenPa-
lett everschiedener Händler eingeführt
werden. DerVorstoßerinnertdaran, wie
AmazonWebServices aufgebaut wurde,
die Sparte für „Cloud Computing“, dieUn-
ternehmenRechnerkapazitäten und da-
mit verbundene Dienstleistungen anbie-
tet. Sie warzunächstein hauseigenes Pro-
jekt, bis Amazon anfing, sie nachaußen
zu vermarkten. Heutegilt AWSals Kron-
juwel desKonzerns und sorgt für einen
großenTeil der Gewinne.
In den Lädenvon„Amazon Go“ sind
Hunderte vonKameras an den Deckenin-
stalliert, dieRegale sindvoller Sensoren.
Die registrieren,welche ArtikelKunden
herausnehmenoder auchwieder zurückle-

gen. Die „Go“-Lädenwarenzuerst mit ei-
ner Flächevonüblicherweise weniger als
200 Quadratmetern sehr klein. Erst vor
wenigenWochen hat Amazon in seiner
Heimatstadt Seattle zum ersten Mal ei-
nen größerenkassenlosen Supermarkt er-
öffnet, der sichüber knapp 1000 Quadrat-
metererstreckt.JetztteilteAmazon mit,
die Technologie habe „breiteAnwendbar-
keit“.
Der fürstationären Einzelhandelver-
antwortliche Amazon-Manager DilipKu-
mar sagteder NachrichtenagenturReu-
ters,das Unternehmen habe schon mehre-
re Abnehmer für dieTechnologie im Han-
del gefunden und entsprechendeVerein-
barungen unterzeichnet. Wieviel das die
Partner kostet,verriet er nicht.NachAn-
gaben vonAmazonkann dieTechnologie
innerhalbwenigerWochen in Geschäften
installiertwerden, dabeiwerdeversucht,
etwaigeBehinderungen für den laufen-
den Betrieb zu „minimieren“.Technisch
sollen die Systeme bei denPartnernähn-

lichfunktionieren wie in den„Amazon
Go“-Läden. EinUnterschied ist, dassBe-
sucher in den „Go“-Filialen an einer Ein-
gangsschrankeihr Handy mit einer Ama-
zon-App scannen. Bei anderen Händlern
sollen Kunden das Einkaufen an der
Schrankemit einer Kreditkarte starten.
Wiegroßdas Interesse im Einzelhan-
del an Amazons Angebotsein wird, muss
sichzeigen. Denn derKonzernwird von
vielen klassischen Händlernals Feindbild
wahrgenommen. UlrichSpahn, der in der
Geschäftsführung des Handelsforschungs-
instituts EHI sitzt, meint aber,Amazon
könnte mit seinerTechnologie imdeut-
schen Handelauf positiveResonanzsto-
ßen. Er nennt sie „recht einzigartig“. Ge-
rade im Lebensmitteleinzelhandel, wo
die Kunden oftwenigZeit haben, seien
solche Systeme interessant.
Während digitaleKassen in Asien und
dortvor allem in China schonweiter ver-
breitet sind, gibt es in Europa derzeit
höchstens Testsysteme. Der niederländi-
sche Händler AlbertHeijnetwabietet
Kunden mit„Tap to Go“ ein System an, in
dem sie mit dem Smartphone oder der
Kundenkarte das Etikettdirekt amRegal
scannenkönnen und sichnicht an einer
Kasseanstellen müssen. Das Schweizer
HandelsunternehmenValoratestetinei-
nigen SchweizerStädten mit der„Avec
Box“ ein ähnlichesKonzept. „Ichgehe da-
vonaus, dasssoetwas auchbei unsver-
stärkt kommen wird“, sagt Spahn, der
auch fürden ForschungsbereichTechnolo-
gie zuständig ist. Da viele Händler nicht
die Ressourcen undKapazitäten hätten,
ein komplett kassenloses System selbstzu
entwickeln, könnteeseinen Markt für
Amazons Lösunggeben. DieNachfrage
werdeinhohem MaßevomPreis abhän-
gen, den Amazonverlangt.

I

midyllischen Walddorfhäslach kom-
menTelefon und E-Mail in diesen
Tagennicht zurRuhe. Der auf hal-
ber Strecke zwischen dem Stuttgar-
terFlughafen undTübingengelegene Ort
beheimatet ein Unternehmen, dasgerade
gefragt istwie kaum ein zweites.Moldex
produziertAtemschutzmasken, ein paar
hunderttausendStückinder Woche. Gin-
ge es nachden Kunden, dürfteesgerne
ein Vielfaches davonsein. DochMoldex
istein Mittelständlerund schon jetztkom-
plett ausgelastet. „In den letzten vierWo-
chen haben wir dieKapazität um 50 Pro-
zent erhöht“, berichten die BrüderRoman
und Torben Skov,Gesch äftsführerund zu-
gleichTeilhaber des Hersteller svon
Atem- und Gehörschutzprodukten, im Ge-
spräch mit derF.A.Z. Die mehr als 160 Be-
schäftigten arbeiten am Anschlag, in drei
Schichten und amWochenende.Alleine:
Es reicht immer nochnicht.
SeitTagenfragen Krankenhäuser und
Ärzt edirekt inWalddorfhäslachnach,
wassie vonder Produktion bekommen
können. Sogar Privatleutebekunden ihr

Interesse. Die Skovslehnen freundlich,
aber bestimmt ab: „Es bringt nichts, bei
uns anzurufen.Wirverkaufen nicht an
Einzelpersonen. Die zentraleVerteilstel-
le des Bundes mussdas regeln.“ Mit Blick
auf die Corona-Epidemie haben die Ba-
den-Württembergerinder vergangenen
Wochedem Bundesgesundheitsministeri-
um angeboten, einViertelder Produktion
für den medizinischen Bereich zureser-
vieren. Jetzt wurde der ersteentsprechen-
de Auftragseitens des Bundes erteilt.
EigentlichverkauftMoldexseine Pro-
dukteinersterLinie über denFachhandel
an Industrie und Handwerk. Mitarbeiter
vonPharma- und Chemieunternehmen
sowie im Handwerkbenötigen in der Pro-
duktion häufig einen Mundschutz. Jetzt
kommt der Gesundheitsbereichhinzu –
„für unsNeuland“, wie die Skovssagen.
Die Altkundschaftreagiertunterdessen
zumTeil enttäuscht:„Unserebestehen-
den Handelskundenwollen doppelt so
vielhabenwie vergangenes Jahr.Das kön-
nen wir nicht liefern, und da gibt es sehr
viel Unzufriedenheit.“Undnicht nur bei
ihnen.Neue Interessentenkommen erst
garnicht zumZug. „Zuletztkamen viele
Nachfragen auchaus dem Balkan und der
arabischenWelt, das isteine sehr dynami-
sche Situation.“
Das internationale Geschäftspielt für
Moldexgenerell eine erheblicheRolle.
70 Prozent desUmsatzes macht dasUn-
ternehmen normalerweise im europäi-
schenAusland.VorwenigenTagenver-
kündete die Bundesregierung ein Export-
verbotfür Atemschutzmasken. Das
kommt bei den Geschäftsführernnicht
gut an: „Unser italienischerFilialleiter
wardem Nervenzusammenbruchnahe.
Es rufenTausendeFirmen bei ihm an,
und erkann nichts liefernseit Mittwoch
vergangenerWoche.“ Diese Exportblo-
ckaden seien „dem europäischen Gedan-
kenabträglich“,finden die Brüder Skov.

In normalenZeiten hat Moldexmit
mächtigerKonkurrenz zukämpfen. Deut-
sche und internationale Großkonzerne
wie 3M, Draeger,Kimberly-Clarkoder
Honeywell buhlen umKunden. In der jet-
zigen Krise sieht man sichzumindestinei-
nem Punkt imVorteil: „Wir stellen alle
Komponenten eigenständig her.“ Zum
Beispiel Filter ,Ventile, Gummibänder.
AndereHersteller müssten auf Nach-
schub aus Asienwarten, Moldexdagegen
sei einesvonwenigenUnternehmen, das
Masken in den Schutzstufen FFP2 und
FFP3 in Europafertige, heißt es.Außer in
Baden-Württemberggibt es in Tsche-
chien eineweiter eProduktionsstätte. Ins-
gesamt beschäftigt der Mittelständler in
ganz Europa 450 Menschen.
Nach der Schweinegrippe 2009hat Mol-
dexneue Produktionskapazitäten aufge-
baut.Sie wurden bis datonicht benötigt –
erst jetzt, nachmehr als zehn Jahren.
Sind die Skovsalso Krisengewinner? Seit
dem Ausbruchder Corona-Epidemie
habe man die eigenen Preise „nicht um ei-
nen Centverändert“, betonen dieUnter-
nehmerbrüder.Anderedagegen schon.
Laut Liste kostet eine Moldex-P2-Maske
in der einfachstenAusführung 1,80 Euro.
„Auf Ebayhaben wir schongesehen, dass
sie für 25 bis 30 Euroangebotenwerden.“
Nunkönnteman sagen: Das istMarkt-
wirtschaft. HoheNachfrage, hohe Preise.
So tickendie Skovsnicht .Wer mit ihnen
spricht, mussnicht befürchten, sicheine
Werbebotschaftnachder anderen anhö-
renzumüssen, im Gegenteil. „Derzeit
herrschtviel Panik.Für Privatpersonen
ergibt es aberkeinen Sinn, Masken zu
Hause haben“, sagen sie. Sinnvoll seien
Masken vielmehr für Ärzteund Industrie-
personal. Immerhin: Die eigenen Mitar-
beiter bekommen das Produkt.Jeder Mit-
arbeiter erhält für sich20Stück.Torben
Skov aberversichert: „Ichselbsthabe zu
HausekeinenKarton.“

Der Mittelständler Moldex kommt mit der Maskenproduktion aktuellkaum hinterher. FotoAFP

Amazon baut Läden ohne Kasse aus


Offensive für neuesDigitalprojekt/Technik auch für andereHändler


Scannenstatt Schlangestehen FotoAFP

Sch utzfü rMillionen


Moldex stellt


Atemmasken in


Deutschland her. Man


arbeitet in drei


Schichtenund ärgert


sichüberWucherpreise


auf Ebay.


VonThiemo Heeg,


Frankfurt


SEITE 18·MITTWOCH,11. MÄRZ2020·NR.60 Unternehmen FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG

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