Frankfurter Allgemeine Zeitung - 11.03.2020

(Greg DeLong) #1

SEITEN2·MITTWOCH,11. MÄRZ2020·NR.60 Naturu nd Wissenschaft FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


U


nter derRubrik medizinischer
Fortschrittkonnten in den zu-
rückliegenden Monaten über-
rascht eLeserinnen und Leser
in einigen Medien einvöllig neuartiges
Szenarioverfolgen. Es handelt sichum
die Preisbildung bei einem Medikament,
das bei Kindern, die mit einer angebore-
nen, schweren seltenen Muskelerkran-
kung zurWelt gekommen sind, helfen
soll. Dergentherapeutische Ansatz soll
primär eine Linderung der Symptome
undgegebenenfalls aucheine langfristig
erfolgreiche Behandlung möglichma-
chen. Da die Erkrankung ohne Behand-
lungzueiner Lähmung derAtemmuskula-
tur und damit zum frühenTodführt, ist
dies auf den ersten Blickeine unfraglich
äußerst positiveNeuigkeit.Auf ein Thera-
pieverfahren, das die bedrückende Pro-
gnose bei kleinen Kindernaufheben
kann, haben viele sehnlichstgewartet.
Bereits seit 2017 gibt es allerdings ein
Medikament unter der BezeichnungSpin-
raza, das–wenn esregel mäßigverab-
reicht wird–betroffenen Elternund Kin-
dernneueHoffnung gibt. Diezuständigen
Behörden undKommissionen hatten die-
ses in einem entsprechendgeregelten Ver-
fahren zugelassen. Obwohl damit hohe
Kosten speziellfür Kliniken mit einerNeu-
ropädiatrieverbundenwaren, wurden die-

se bei nachgewiesenemNutzen für dieein-
zelnenPatienten inKauf genommen, so
wie das bei anderenNeuerungen in der Me-
dizin bislang in derRegelauchder Fall is t.
Umso überraschenderwarenSchlagzei-
len, dievoneinem2Millionen Euroteu-
renneuen Medikament,Zolgensma der
FirmaNovartis, berichteten, das–ob-
wohl eineZulassung bisher in Deutsch-
land nichtvorliegt–durch Krankenkas-
sen bei einer Behandlung bezahlt würde.
ZurBegründung hieß es, dassessichhier-
bei um eineexistentielle Therapie hande-
le mit äußerst teuren Entwicklungs- und
Herstellungskostenund es voraussicht-
lichkeine dauerhafte Behandlung brau-
che, sondernnur eine einmaligeGabe des
Medikamentes ausreichend sei. Inwieweit
sichallerdings langfristig die Prognose
für die betroffenen Kinder verbessern
würdeoder welche konkreten Auswirkun-
gendie Behandlung auf Lebensqualität
und Lebensdauer der Kinder haben wird,
darüber wurde die erstaunteÖffentlich-
keit weitestgehend imUnklarengelassen.
Als Außenstehenderkann man sichdes
Eindrucks nicht erwehren, dasshier mit
Hilfemedialer Präsenz die involvierten
Kostenträger und Leistungserbringer er-
heblichunter Druckgesetzt wurden.
So sprechen die beteiligten, zumTeil
deutlich verärgertenKinderärzteund ihre
Fachgesellschaftenauchvon einer in dieser
Artund Weise „beispiellosen Medienkam-
pagne“,mit der das neueMedikament bei
betroffenen Elternbeworben undmit de-

renHilferufen es–trotzdes horrenden Prei-
ses –entgegen den bisherüblichenVerfah-
renindie Versorgunggebracht wird. Denn
eigentlichgibt es für den Einsatz (noch)
nicht zugelassenerArzneimittel anPatien-
tenmit besonders schweren Krankheits-
verläufen, die mit zugelassenenMedi-
kamenten nicht zufriedenstellend
behandelt werden können, in
Deutschland eineseit 2010 gültige
RechtsverordnungnachParag raph
80 AMG (Arzneimittel-Härtefall-Ver-
ordnung, AMHV). Diese siehtvor, dass
das jeweiligeMedikament durch den Her-
steller für die BehandlungvonPatienten
kostenlos zurVerfügunggestellt wird, bis
eine abschließende Bewertung stattgefun-
den hat.Umein solches Härtefallpro-
gramm auszulösen, mussder Hersteller al-
lerdingsselbstbei den Behörden einen An-
trag stellen.
DiesenWegwolltedie Firma im vorlie-
gendenFall of fensichtlichnicht beschrei-
ten, sondernsuchteden Wegüber die Öf-
fentlichkeit, der freilichdie Gesetzge-
bung unbekannt ist. Konfrontiertmit ent-
sprechenden Anfragen vonSeiten der
Ärzteschaft, derKostenträger und des Ge-
sundheitsministeriums präsentierte der
Hersteller nun eine scheinbareLösung
für eventuelle Situationen derUnterver-
sorgung. Gewählt wurde ein sogenannter
internationaler Ansatz, der nach dem Lot-
terieverfahren funktioniert: Novartis er-
klärtsichbereit, ein definiertesKontin-
gent des Medikaments durch ein Los an
Patienten zuverteilen. Eine in dieser Art
und Weise ebenfalls noch nie dagewesene
Form der Entscheidung über medizini-
sche Therapie.Weltweit sollen insgesamt
100 Kinder,die bestimmteAntragskrite-
rien erfüllen, perZufall ausgewähltwer-
den. Sie sollen das Medikamentkostenlos
nochvor derZulassung erhalten.
BegründetwirddiesesVorgehenmit ei-
nemEngpassbei de rHerstellung desMedi-
kaments.Aber selbstwenn glaubhaftnicht
genügendDosen/Chargenbereitges tellt

werden können,umalle Patientenwelt-
weit zu behandeln: IstdieserVorschlag
ethisch akzeptabel? Bei derFrage derVer-
teilungsgerechtigkeit auchund geradein
der Medizin istzuerst zu beantworten, ob
die Knappheittatsächlichabsolutgegeben
ist. Hiererscheint dieAntwort einfach:
Die Anzahl derChargen, dieNovartis in
demselbstdefiniertenHärtefallprogramm
zur Verfügungstellt, wurdeexplizit „unter
Berücksichtigung desVersorgungsauftrags
in denVereinigtenStaaten und in Erwar-
tungweitererZulassungen, so auchinEu-
ropa, kalkuliert“. Damit erfolgt dieexplizi-
te BevorzugungjenerPatienten, für die
eineKostenübernahmejetzt undin abseh-
barerZukunftgeklärt ist.
Patienten, die sichfür das Härtefallpro-
gramm „bewerben“(müssen),werden
also vonvornherein benachteiligt, und
zwar aufgrund fehlenderfinanziellerAbsi-
cherungen. In der deutschen Sozialstaats-
traditiongehenwir mitRückgriffauf das
christlich-jüdische Menschenbilddavon
aus, dassGesundheit so unterstütztwer-
den soll, dassDiskriminierung nachwel-
chen Kriterien auchimmer(Alter,Ge-
schlecht, Religion, Herkunft,ethnischeZu-
gehörigkeit,Vermögen,Bildungetc.)aus-
geschlossen seinmuss. Unterdieser Maß-
gabe istdas „Härtefallp rogramm“ nach
demZufallsprinzip nicht akzeptabel, ja es

isteineProvokation.
Umso erstaunlicher ist
die für ein Härtefallpro-
gramm notwendigebehörd-
lich eZustimmung zu diesemVerfah-
ren. Zwarfinden sichinder wissenschaftli-
chen Literaturauch Theorien der Gerech-
tigkeit, dieden Zufall als eine Lösung in
Knappheitssituationen diskutieren –weil
er alsgerechter Prozessangesehenwird,
der auchzuadäquatenVerteilungsergeb-
nissen führenkann. Allerdingsbesteht
überdie wissenschaftlichen Disziplinen
hinwegEinigkeit,dassder Zufallalleinkei-
ne gerechtePriorisierungdarstellt.Viel-
mehr istfraglich, warumnicht Kriterien
wie Dringlichkeit, Schweregrad, Bedarf
aufgrund fehlender Alternativen (und ggf.
die Erfolgsaussicht der Therapie) herange-
zogenwerden, die dann–von medizini-
schen Expertengenutzt–über dieVerwen-
dungeine s(knappen) Medikaments ent-
scheiden.Auch die Patientenperspektive
könntebei der Bewertung Berücksichti-
gungfinden, wieForschungen an derUni-
versität Bayreuthnachg ewiesen haben.
Eine finanzielle Dimensionfindetsich
hierausdrücklichnicht!
Sollteesaus Knappheitsgründen–in
Härtefallprogrammen oder anderswo–
nicht möglichsein, jedemPatienten die
optimale Therapie oder den unmittelba-
renZugang zurVersorgung zugarantie-
ren, dann braucht es übergeordnete,vor-
ab definierteRegeln. Diese müssen sicher-
stellen, dassdie dann unausweichliche
Ungleichbehandlung auf Kriterien be-
ruht, die eineUngleichbehandlung mög-
lichs tgut rechtfertigen. Das sind in aller
Regelmedizinische Kriterien im Hinblick
auf die Dringlichkeit derPatientenbe-
handlung. Dafür sind in denkonkreten
Kontextenentsprechende Indikatoren
festzulegen und zugewichten. Das istsi-
cher keine einfacheAufgabe.Aber Ent-
scheidungen über denZugang zu einem
Arzneimittel bei einer ernstenErkran-
kung demZufall zu überlassen istinkei-

nemFall eine Alternative.
Die grundsätzlicheFrageeiner adäqua-
tenPreisbildung im Bereichder Gesund-
heitsversorgung beschäftigt die Ökono-
mie seit vielen Jahrzehnten. Dabei hat
sichwissenschaftlichdie Position immer
deutlicher herausgebildet, dasseine sinn-
volle Distribution der Gelder in einem so
reglementiertenBereichder Daseinsvor-
sorge dem medizinischen Bedarffolgen
muss. Dies bedeutet, dasssicheine Ge-
winnerwartung wie im produzierenden
Gewerbe oder in der klassischen Dienst-
leistungsbranche schlichtverbietet. Sol-
cheEinsichten scheinen aber zunehmend
dem DruckeinesKapitalmarktes zuwei-
chen, der–unabhängigvondem Ortund
der Artseiner Investitionen–selbstge-
steckt eZielmargenunbedingt erreichen
will. Mit der Gesundheitswirtschaftsind
solche Investoren dabei auf ein neues Mi-
nenfeldgestoßen, das in den zurückliegen-
den zwei Jahrzehnten mitfinanziell at-
traktiven Attributen wie demographi-
schen Entwicklung, zunehmendenchroni-
schen Erkrankungen und medizinisch-
technischenFortschritt lock-
ten. Seitherwerden Kapital-
gesellschaftennicht müde, in
diesem Lebensbereichbeson-
ders intensiv nachErfolg zu
schürfen.
Dabeigehen dieStrategen
nicht nur in der pharmazeuti-
schen Industrie offensichtlich
davonaus, dassdie Zahlungs-
bereitschaftvergleichbar mit
der biblischen Erzählungvombarmherzi-
genSamariterkeine Grenzenkennt: Die-
ser gabbekanntlich dem Pflegenden Geld
für die Behandlung des unter dieRäuber
Gefallenen, um ihn mit allemNotwendi-
genzuversorgen, waseszur Genesung
braucht, undtatdies mit denWorten:
„Und so duwasmehr wirst dartun, will
ichdirsbezahlen,’ wenn ichwiederkom-
me.“ (Lukas 10,35)
Manchem mag das wie eine Einladung
zur Realisierunggroßer Gewinnerwartun-
genimGesundheitswesen klingen.Aber
dies isteine Fehlinterpretation. Die Ge-
sundheitgehörtzuden sogenanntenkon-
ditionalen Güternwie etwa die Freiheit
oder derFrieden. Deshalb gilt hier ein be-
wussterVerzicht aufreine Marktmecha-
nismen und ein hoheitlicher Schutz, der
ein Diskriminierungsverbotnicht erst seit
dem Genfer Ärztegelöbnis oder der De-
klarationvonHelsinki einschließt. Die
deutschen Sozialversicherungen haben
sichdiese Grundhaltung mit ihrem Pri-
mat der Solidaritätund Subsidiarität zu ei-
gengemacht.Damit bilden sie einenge-
wichtigen Anteil amFundamentunseres
demokratischen Gemeinwesens.
Wermeint, erkönne an diesesFunda-
ment die Axt anlegen, um unter dem
Deckmantel einer alternativlosen Ökono-
misierung aller Lebenswelten seine Ge-
winnspanne zu maximieren, der sollte
sichdarüber im Klaren sein, dassdamit
mehr diskreditiertwirdals ein einzelnes
Unternehmen.Vielmehrstellt er denge-
samten Prozesseiner sichverbessernden
Lebenswelt durch den medizinischen
Fortschritt inFrage. Fortschritt setzt näm-
lichvoraus,dasseine Mehrheit derBetrof-
fenen an dieserWeiterentwicklung parti-
zipiert. Undganz im Sinne des berühm-
tenNobelpreisträgersfür Medizin,Rudolf
Virc how, möchteman manche Marke-
ting- und Sales-Experteninder Gesund-
heitswirtschaftfragen: Habt ihr nichtver-
standen, dassdie Medizin immer auch
eine sozialeWissenschaftist?
Werlebensrette nde Maßnahmen an ei-
nenFinanzierungsvorbehalt und an eine
fahrlässigeLotterie knüpft, der hat sich
aus demKonsens einer auf Ausgleich ver-
schiedensterInteressen bemühten Selbst-
verwaltung mit übergeordneterVerantwor-
tung, die einenfairen Interessenausgleich
anstreben soll, verabschiedet. Hier
braucht es eine breite öffentliche Debatte
mit einem unmissverständlichenPlädoyer
für eineethischbegründete Begleitung
und Pflegedes Lebens, das sichprinzipiell
einer ökonomischen Bewertung entzieht!
Der Autorist Direktor am Institut für Medizinmana-
gement und Gesundheitswissenschaftender Uni-
versität Bayreuthund warlangeJahreMitglied im
Nationalen Ethikrat der Bundesregierung.

FORUM


Ist esParkinson?
Zittern, langsameBewegungen und
ein unsicherer Gang–das sieht nach
Parkinson aus. Docheskönnte auch
eine sogenannteMultisystematro-
phie sein. Gerade imFrühstadium ist
es schwierig, die beiden Krankheiten
zu unterscheiden. In beidenFällen la-
gern sichimHirnfalschgefalt etePro-
teine mit Namen Alpha-Synuclein
ab. AlsFolgegehen allmählichNer-
venzellen unter,was die typischen
Symptome verursacht .Jetzt haben
Forscher einenTest entwickelt, mit
dem sichdie beiden Krankheiten im
Hirnwasser unterscheiden lassen.
Das Alpha-Synuclein istjeweils auf
unterschiedlicheWeise falschgefal-
tet, wasmit demTest sichtbar ge-
machtwerden kann. DerTest wäre
einegroßeHilfe, um die Therapie bes-
ser anzupassen. So hilftzum Beispiel
das beiParkinsonpatienten wirksame
L-Dopa bei Menschen mit Multisyste-
matrophiekaum. Dafür benötigen
diese öfterMedikamentegegenSymp-
tome, die beiParkinson nicht so häu-
figauftr eten: etwa gegenniedrigen
Blutdruck, Erektionsstöru ngen oder
Blasenprobleme.Wann es denTest
geben wird, istnochunklar. few.

Kernkraftunter Druck
Vonden vier bekanntenNaturkräften
gibt die in denAtomkernenvorherr-
schendestarkeWechselwirkung die
größtenRätsel auf. Insbesonderewar
es unklar,was geschieht,wenn ein
schwererAtomkernsostark kompri-
miertwird, dasssichProtonen und
Neutronennäherkommen,als es nor-
malerweise derFall is t. Wissenschaft-
lervom Massachusetts Instituteof
Technology (MIT) in Cambridgeha-
ben Hinweise gefunden, dassdie star-
ke Wechselwirkung, dieKernbaustei-
ne auf engstemRaum zusammenhält,
dann einrepulsivesVerhalten an den
Taglegt.PaarebenachbarterNeutro-
nen und Protonenstoßen sichdann je-
weils ab, anstatt sichweiterhin anzu-
ziehen.Fürdie Forscher um Axel
Schmidt istder Befund, wie sie in der
Zeitschrift„Nature“ schreiben,eine
mögliche Erklärung dafür,warum
mancheNeutronensterne, in deren In-
neren dieKernmaterieextremver-
dichtet ist, stabil sind, anstatt auf-
grund ihrer eigenen Schwerkraftzu
kollabieren. DieForscher analysier-
tendie Daten aus unzähligenStreuex-
perimenten, bei denen Kernevon
Aluminium, Eisen und Blei mit
intensiven Elektronenstrahlen be-
schossen und dadurch s tark verdich-
tetwurden. mli

Bevölker terNachthimmel
Dasssichder erdnahe Orbitinden
kommenden Jahren in nie dagewese-
nem Ausmaß mit neuen Satelliten fül-
len wird, isteine Entwicklung, die
kaum aufzuhalten scheint.Was dies
aber für astronomische Beobachtun-
genkonkretbedeutet,versucht nun
die Europäische SüdsternwarteEso
in einerReihe vonStudien abzuschät-
zen. In der erstenbei „Astr onomy&
Astrophysics“ eingereichten Arbeit
geht es zunächstumdie Konsequen-
zen bei optischen und infraroten Wel-
lenlängen. DieAutorengehenvon18
Konstellationen aus mehr als 26 000
Satelliten aus, dievonFirmen wie
SpaceX oder Amazongeplantwer-
den. Die Ergebnissestimmenvorsich-
tig optimistisch: DergrößteTeil der
sichtbaren Satellitenwerdesichin
Horizontnähe befinden, nurwenige
Prozent der Beobachtungen der meis-
tenTeleskopewerden unbrauchbar.
Anders sieht es beispielsweise beim
neuenVera C. Rubin Observatory
aus: Hierwerden 30 bis 50 Prozent
der Beobachtungenruiniert. sian

P

olitiker und Verkehrsexperten
scheinen sicheinig: Die Zukunft
gehörtder Elektromobilität.
Dochdamit Elektroautos mit
Benzin- und Dieselfahrzeugen auchauf
längeren Streckenkonkurrierenkönnen,
bedarfesAkkus,dieleistungsfähigersind
als die klassischen Lithium-Ionen-Batte-
rien. Denn bislang istspätestens nach350
Kilometernder Akkuleer.Dochdie Leis-
tungsfähigkeit der Marktführer istweitge-
hend ausgereizt, so dasshöhereReichwei-
tenkaum zu erwarten sind. Daher tüftelt
man allerorts bereits an einerneuen Gene-
rationwiederaufladbarerStro mquellen.
In diesemZusammenhang istein Batte-
rietyp wieder in denFokusdes Interesses
gerückt, mit dem schon einer derVäter
des Lithium-Ionen-Akkus, der Chemie-
Nobelpreisträgervon2019 StanleyWhit-
tingham,vor vierzig Jahrenexperimentier-
te,aber auchseine Problemehatte: der Li-
thium-Metall-Akku. Weil die negative
Elektrode (Anode) ausreinem Lithium be-
steht, isternicht nur leichter als ein klassi-
scher Lithium-Ionen-Akkumit einer Gra-
phit-Anode, er besitzt aucheine bis zu 65
Prozent höhereEnergiedichte. Elektroau-
toskönnten mit einer solchen Batterie so-
mit deutlichweiter fahren.
Allerdings istLithium ein äußerst reak-
tives Element und als Elektrodenmaterial
nur schwer zu handhaben. Die Lithium-
Anode zersetzt sichbei jedem Entladen,
wasdie Kapazität und die Energiedichte
der Batterie schnellverringert. Zudem
wächst das LithiumbeimLadevorgangun-
kontrolliertund nadelförmig an der Elek-
trodenoberfläche. Diese Dendrit ekön-

nen brechen,waszum Verlustvon akti-
vemMaterial führt. Werden dieNadeln
zu lang,können sie bis zurgegenüberlie-
genden Kathode gelangen. Ein Kurz-
schlussist die Folge, wasimschlimmsten
Fall zum Brand oder zur Explosion des
Akkus führenkann –eine Gefahr,mit der
schon Whittingham zukämpfenhatte.
Deshalb gibt es Lithium-Metall bislang
vorallem als Knopfzelle und nicht als wie-
deraufladbaren Akku.
„Umdas Wachstum derDendritenzuver-
hindern,werden verschiedeneWege einge-
schlagen“,sagt HolgerAlthuesvomFraun-
hofer-Institut fürWerkstoff-und Strahltech-
nik IWS in Dresden. DerForscherarbeitet
mitseinenKollegenseit langem anstabilen
Lithium-Metall-Anoden. Sie bilden diene-
gativeElektrodeeinesLithium-Schwefel-
Akkus, einweiterer Hoffnungsträger unter
denwiederaufladbaren Stromspeichern
derneuen Generation. Denn sieverspre-
chen höhereEnergiedichten.Zudemnut-
zensie preiswerten Schwefel alsKathoden-
materia lanstelle wertvollerMetalle.
Um der Dendritenbildung und einer De-
generation der Anode entgegenzuwirken,
experimentierendie Dresdner Batterie-
Forscher wie viele andereGruppen auch
mit polymeren Schutzschichten auf der
Anodenoberfläche und speziellenflüssi-
genElekrolyten. Beides solldafür sorgen,
dasssichdie Alkalimetall-Ionengleichmä-
ßig auf der Elektrode ablagernund auf der
Oberfläche keine Kristallisationskeime
fürDendriten entstehen. AndereForscher-
gruppen setzten auf leitfähigeKunststoffe
oderKeramiken anstelle vonflüssigen
Elektrolyten. Zwar lässt sichauchhier

eine Dendritenbildung nichtganz verhin-
dern, derFeststoffelektrolytkann aber bei
einemKurzschlussnicht brennen.
Ei nen ungewöhnlichen Ansatz präsen-
tierenchinesischeWissenschaftler in der
jüngstenAusgabe derZeitschrift„Science
Advances“ (doi: 10.1126/sciadv.aaz3112).
Ihr Rezeptsind mikrometergroße würfel-
förmigeKapseln auf der positiven Elektro-
de, diewährend des Ladevorgangsgeringe
Mengen an Lithium-Fluorid an den Elek-
trolyten abgeben. Dadurchbildetsichvon
selbstein für Lithium-Ionen durchlässiger
Schutzfilm zwischen Elektrode undflüssi-
genElektrolyten. Die winzigenWürfel trü-
gen, so dieForscher um HuadongYuan
vonder TechnischenUniversität Zhejiang
in Hangzhou, zudem dazu bei, dasssich
das Lithiumgleichmäßig auf der Anode
ablagertund keine Kristalle entstünden.
Tatsächlichzeigen elektronenmikrosko-
pische Analysen, dassdiese Maßnahmen
das Dendritenwachstum effizient unter-
drückenund sichauf der Anodenoberflä-
chebeim Laden eineglatteLithium-
Schicht ausbildet. Die modifizierte Lithi-
um-Metall-Elektrode hat sichals äußerst
stabil erwiesen. Eine darausgefertigte
Batterie mit einerKobaltoxid-Kathode
und einem organischen Elektrolyten, wie
sie für Lithium-Ionen-Akkus typisch
sind ,ließ sichfünfhundertmal wieder auf-
laden, ohne dassoffenbargrößere Einbu-
ßen in der Leistung zuverzeichnenwa-
ren. Die meistenModelle mit einem orga-
nischen Elektrolyten schwächeln bereits
nacheinigen DutzendZyklen.
FürHolger Althuesist die chinesische
Arbeit ein durchaus interessanter Ansatz,

der viele Probleme lösenkönnte.Neusei
hier,dassdie Anode die Schutzschichtge-
wissermaßen selbsterzeugt.Die Untersu-
chungen seien aber unter Bedingungenge-
machtworden, die nicht einer Hochener-
giezelleauf Lithium-Ionen-Basis entsprä-
chen. Undessei deshalb, wie oftbei Labor-
arbeiten, nicht klar,obder Prototyp auch
praktische Anforderungen erfüllenwerde.
Auch die Mikrokapselnkönnten einenVer-
lustanaktivem Lithiumnicht verhindern.
Aufbis zu hundertLade-Entlade-Zy-
klen bringt es indes der Lithium-Schwe-
fel-Akkuaus Dresden mit metallischem
Lithium als Anode. Ihre Protot ypen, die
unterrealistischen Bedingungengetestet
werden, weisen Energiedichtenvonbis
zu 400Wattstunden proKilogramm auf.
Das istbereitsfast doppelt so hochwie
bei einer normalen Lithium-Ionen-Batte-
rie. Jetztgeht esvorallem darum, dieLeis-
tungsfähigkeit und dieStabilität der Lithi-
um-Schwefel-Akkusweiter zu erhöhen.
Für Anwendungeninder Elektromobili-
tätsind 2000 bis 3000 Lade- und Entlade-
ZyklenVoraussetzung.
Auch ein weiteres Problem haben die
DresdnerForschergelöst: die großflächi-
ge Herstellung dünner Lithium-Schichten
auf einerKupfer folie. Statt wie oftüblich
eine Lithium-Folie aufzuwalzen,bringen
die Forscher dasAlkalimetall in geschmol-
zenerForm auf. Damit erreichen sie ho-
mogene Lithium-Anoden mit Schichtdi-
cken vonwenigen Mikrometern.Vierzig
Jahrenachden erstenVersuchen des Bat-
teriepioniersStanleyWhittinghamkönn-
te metallisches Lithium die Akku-Tecknik
bald neubeleben. MANFREDLINDINGER

Foto F.A.Z.

Lithium-Kristalleunter dem Elektronenmikroskop FotoScience Photo Library

Medikamente

im Lostopf

Hoffnung Lithium


Neue Ansätzekönnten bisherigeProbleme der


vielversprechenden Lithium-Metall-Akkus lösen


Wissen inKürze


Einlebenswichtiges Mittel wurde unter


kranken Kindernverlo st.Die Lotterie ist


ein beispielloserTabubruch,derunsere


Wertemassiv beschädigt.


EinGastbeitrag.


VonProfessor EckhardNagel

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