Frankfurter Allgemeine Zeitung - 11.03.2020

(Greg DeLong) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Geisteswissenschaften MITTWOCH,11. MÄRZ2020·NR.60·SEITEN3


Das RathausvonKamenz isteineneo-
goti sche Perleaus rotemBackstein, er-
baut 1848vondem Lausitzer Schinkel-
schüler CarlAugustSchramm. Der
Ratssaal istbis auf den letzten Platz
gefüll t. An derWanddie Projektionei-
nes Fotosaus dem Jahr 2006: die Büs-
te des bekanntesten Sohnes derStadt,
Gotthold Ephraim Lessing, daneben
ein erratisch in dieWeite blickender
junger Mann, dem man aber auchdie
Fähigkeit zum praktischen Zupacken
anzusehen meint.Oberbürgermeister
Roland Dantz, ein nicht minder zupa-
ckender parteiloserBauingenieur, zi-
tiertdie Bibel, „irgendwo im Alten
Testament“: „Jegliche shat seine
Zeit.“
Fürdie örtlichenVerhältnisse ist
das fast bibelfest.Nahezu jeder ehe-
maligeDDR-Bürgerkennt dieses Bi-
belwort; für den Defa-Spielfilm „Die
LegendevonPaul undPaula“ dichtete
UlrichPlenzdorf1973 nachder Lu-
therübersetzung des Predigers Salo-
mo das Gedicht„Wenn ein Mensch
lebt“. In derVertonung desFilmkom-
ponistenPeterGotthardtundderIn-
terpretation eines nochsehr jungen
Dieter Birrals Sänger derKultband
Puhdyswurde es soetwaswie die
heimlicheNationalhymne der DDR.
Fürdie Zitation durchDantz hätten
sichauchdie Eingangszeilen angebo-
ten: „Wenn ein MenschkurzeZeit
lebt,/sagt dieWelt, dasserzufrüh
geht.“ Der Mann auf dem Bild istder
2007 im Altervon46Jahrenverstorbe-
ne HistorikerMatthias Herrmann.
Im Film bezogsich die Liedzeile
auf die ProtagonistinPaula, die am
Ende desFilms dieGeburt ihres drit-
tenKindes nicht überleben wird.Eva
König, die Ehefrau Lessings,umden
sichinKamenzirgendwie alles
dreht,starbbei derGeburt deseinzi-
genSohnesTraug ott1777 inWolfen-
büttel. MatthiasHerrmann, dessen
Witweund Kinderbei derVeranstal-
tungim Rahmender „Lessingakzen-
te 2020“anwesen dsind,hat einegeis-
tigeVaterschaft nicht mehr erlebt,
nämlichdas Erscheinen seiner Dis-
sertation ausdem Jahre 1994 (F.A.Z.
vom30. Oktober 2019). Jetzt liegt
das Buchinder Schriftenreihedes
StadtarchivsKamenzvor, dessen Lei-
terHerrmann von1991 anwar; in ei-
ner Mitteilung derStadt is tvon „spä-
terGenugtuung“die Rede.
Im geräumigenRatssaalgeht es un-
prätentiös zu; keine Musik,keine
Häppchen,keine Getränke.Viele ha-
ben Herrmann gekannt, erwähnenBe-
gegnungen, Erlebnisse. Einigehatten
eineweite Anreise, aber nicht aus
dem„Westen“, Repräsentanten der
kleinen Nische des DDR-Archivwe-
sens, agile alteHerren im Anzug,ver-
einzelt mitgepflegtem Schnurrbart,
immer mitfestemHändedruck. Eine
Artvon Kultstatus hat Herrmann in
seiner Heimatstadt durch die verwin-
keltePublikationsgeschichteseiner
Doktorarbeit erhalten. Obwohl sein
Thema, die Geschichtedes Reichsar-
chivsinden Jahren 1919 bis 1945, bis
heuteAktualität besitzt, scheiterten
mehrereVerö ffentlichungsversuche
im „Westen“, trotz früher Zusagedes
Präsidenten des BundesarchivsFried-
rich Kahlenberg.
Ein Brief der ehemaligen Seminar-
gruppevonHerrmann, zumStudium
der Archivwissenschaftandie Hum-
boldt-Universität delegiert, wirdver-
lesen, eine Wissenschaftlerbiogra-
phie im anderenTeil Deutschlands
plastisch. DieRede istvon derge-
meinsamen Apfelerntebei der „Ro-
tenWoche“ 1983, den bescheidenen
Freuden einerStudentenzeit in der
späten DDR,denen Herrmann, frisch
vomungeliebtenWehrdienstbei der
Volksarmee, ausgesprochen zugetan
war, vom„Klassenstandpunkt“ und
der obligatorischen „Parteilichkeit“.
Es folgen die Beteuerung, sichwech-
selseitig „keinen Schaden zugefügt“
zu haben,und derRückblickauf die
staatliche „Arbeitsplatzlenkung“.
NurHerrmann warals „Forschungs-
student“ an der Humboldt-Universi-
tätgeblieben. Der Brief schließtmit
der Klageüber die Geringschätzung
von„allem,wasimOsten Deutsch-
lands gemacht wurde“.
VonOstalgie istdiesenAbend
abernichts zu bemerken. Herrmanns
Nachfolger Thomas Binder erinnert
an diekatastrophalenArbeitsbedin-
gungenkommunaler Archiveinder
DDR,meistvon einemMitglied des
Ratesder Stadt imNebenamt be-
treut, inKamenzetwader Standesbe-
amtin; für historischeForschung war
hierkein Platz. Als manichäisches
Ost- West-Gleichniseigne tsichdie
Geschichte schlecht, denn neben
Kahlenberghatten sichviele andere
Stimmen ausdem „Westen“, etwa
der langjährigeArchivar der Max-
Planck-GesellschaftEckartHen-
ning, für Herrmann verwendet.
Herrmannwirdvon Binder als„Ar-
chivar alten Schlages“charakterisiert,
der sichauchals Forscher verstand.
Das hat nicht nur am Bundesarchiv in-
zwischen Seltenheitswerterhalten.
Eine anderegeographische Unter-
scheidung als dieTrennungvonOst
undWest sagt mehr aus über das
Schicksal des inKamenzvorgestellten
Buches: Sein „ungefiltertes“ Erschei-
nenwarwohl nur an derPeripherie
möglich. MARTINOTTO

„DreißigJahrenachder Wiedervereini-
gung: Regieren in der Bundesrepublik
Deutschland“lauteteder TiteleinerTa-
gung der DeutschenVereinigung fürPoli-
tikwissenschaft, zu der MarionReiser,in
Jena Lehrstuhlinhaberin für das politische
System der Bundesrepublik,anihreUni-
versität eingeladen hatte. Als dieTeilneh-
mer in Jenaeintrafen, hattedas Thema un-
erwarteteAktualitätgewonnen. Am sel-
ben Tagtagteder BundesratinBerlin, und
Thüringenwardortnichtvertrete n. Der
mit denStimmen derAfDgewählte, inzwi-
schen nur nochgeschäftsführende, ohne
Ministeramtierende Ministerpräsident
blieb der Sitzungfern.InThüringen ist
wie unter einem Brennglas dasVerschwin-
den der alten Bundesrepublik zu beobach-
ten. Erstmals wurde 2014 in Erfurtein
Linkspartei-Politiker Ministerpräsident,
gefolgt 2020vomersten Ministerpräsiden-
tenvon Gnaden der AfD. Die jüngste Pre-
mieregab es inder letztenWoche:Der lin-
ke Regierungschefkehrte ins Amt zurück
dank einerAbmachung mit der CDU.
FranziskaCarstensen (Hagen) sprach
über den Institutionentransfer anhand der
Landtags-Geschäftsordnungenvon Rhein-
land-Pfalz und Thüringen. Die Mainzer
Geschäftsordnung wurde für Erfurtkom-
plett übernommen. Nicht zurückauf die ei-
gene Verfassungstradition, sonderngen
Westen war1990 der Blickgerichtet. Es
gabeinigesprachlicheAbweichungen bei
Ämterbezeichnungen, auchmussten Ver-
weise auf dieVerfassung anderslauten.
Denn Thüringen hattezudiesemZeit-
punkt nochkeineVerfassung. Diese be-
schloss derLandtagerst1993 auf derWart-
burg.Noch galten die nur achtzehnPara-
graphen der „Vorläufigen Landessat-
zung“, die gemäß ihrer Schlussbestim-
mung durch Aushang inLandtagund „Be-
zirksverwaltungsbehörden“,Relikten aus
DDR-Zeiten, „sowie durch Verlesen im
Rundfunkverkündet“ wurde. Darinstand:
„DasNähere regelt die Geschäftsordnung
des Landtags.“Und: „spätestens“ Ende
1992 solle sie außer Krafttreten.
So avanciertedie aus Rheinland-Pfalz
importierte Langtags-Geschäftsordnung
zur Ersatzverfassung.Umso interessanter
sind diewenigen Punkte, in denen Thürin-
genvom West-Vorbild abwich. Manver-
zichtete–die Bürgerrechtler hattengera-
de dierunden Tischeweggeräumt–auf
die rheinland-pfälzische Institution eines
Bürgerbeauftragten. Andersals das alte
Bundesland statuierte Thüringendie Mög-
li chkeit mehrererWahlgängefür dieWahl
des Ministerpräsidenten mit sinkenden

Anforderungen an die Mehrheit.Wo der
LandtagvonRheinland-Pfalz derRegie-
rung mit der Mehrzahl seiner Mitglieder
das Misstraue naussprechenkann, mit der
Folgeder Landtagsauflösung, fallskein
neuer Ministerpräsidentgewählt wird, da
führte die Thüringer Geschäftsordnung
die Selbstauflösung des Landtags sowie
die Unterscheidung zwischenkonstrukti-
vemMisstrauensvotum undVertrauensfra-
ge ein.
MichaelKoß(Lüneburg) beleuchtete,
mit welchen Maßnahmen der Bundestag
der Obstruktion aus seiner Mittevorzubeu-
genversucht hat.Inder Geschäftsord-
nungsdebatteam6.Dezember 1951 sagte
der CSU-AbgeordneteKarl Kahn: „Ich bit-
te,beide Änderungsanträgeder Kommu-
nistischenPartei abzulehnen.Wirhaben
genaugewusst,warum wir alle,vonder
SPD bis hinüber zur Deutschen Partei, die-
se Fassung genommen haben.Wir wollen
gewissen Leuten ein Mundschlossanhän-
gen.“ Koßzeigte, dassweder KPD noch
Grüne oder Linkeals Oppositionspartei-
en je so destruktivvorgingen wie jetzt die
AfD: Im Plenum des Arbeitsparlaments,
wo Abgeordnete, außer in derKernzeit
am Donnerstagvormittag, inAusschüssen
unterwegs sind,war die AfD die erstePar-
tei, die dessen Beschlussfähigkeit nicht
nur anzweifelte, sonderndie Unfähigkeit
durch Auszug derFraktion provozierte.
Auchüber Ko-Transformation, vulgo
Ossifizierung, wurdegesprochen.Wichti-
gerals Ampelmännchen istwohl dieAus-
weitung der Kinderbetreuungwestwärts
per Gesetz.Zu Verwerfungen im „Bei-
trittsgebiet“ führte derInstitutionentrans-
ferdes westdeutschen Sozialmodells. Ju-
gendlichen, deren Hobby Modellbauwar,
wurde mit der „Gesellschaftfür Sport
und Technik“ auchihre Freizeitgestaltung
zerschlagen. DieterSchimanke,einst
Staatssekretär in Sachsen-Anhalt, schil-
derte,was einfehlendertertiärer Sektor
bedeutete: Die Jugendfeuerwehr diente
als Träger der Jugendhilfe.VomKönig-
steiner Schlüssel hörte mancher erstmals
2015, als es um dieVerteilungvonFlücht-
lingen auf die Bundesländer ging.Fabian
Schmid (Halle) erläuterte das Föderalis-
musinstrument, das älter als das Grundge-
setz ist,vereinbartursprünglichzur Ret-
tung außeruniversitärer Wissenschafts-
einrichtungen, inzwischen in hundertver-
schiedenen Politikfeldernangewandt –
bis hin zurKostenteilung beimAufkauf
vonSteuersünder-CDs. Gerechtigkeit hin-
terdem Schleier des Nichtwissens, noch
vorJohn Rawls.

Wasdefinierenwir nachdreiJahrzehn-
tenals ostdeutsch? Die Frageschwebte
überder Tagung. WarPhilippAmthor,
1992inMecklenburg-Vorpommerngebo-
ren, eventuell „westlichen Sozialisations-
agenten“ ausgesetz t–istder ausdem Wes-
tenstammendeBodoRamelowein „ost-
deutscher“ Ministerpräsident? Gerdund
SusannePickel(Leipzig/Duisburg-Essen)
sind seit 1998 auf der Suche nachder „Mau-
er in denKöpfen“. Siefinden sienicht.De-
mokratieverdrossenheit sei„weit und breit
nicht vorhanden“,Zufriedenheit nimmt
zu, Resteeiner Ost/West-Differenz ver-
schwinden,ökonomische Lagenwerden in
Ost undWest gleicheingeschätzt. Umso
mehrfalle dierätselhafte Differenz beiFra-
gennachder „relativenDeprivation“auf.
Jemand, dersichindividuellkeineswegs als
Verlierer sieht,meint dennoch,Ostdeut-
sche seien Bürger zweiter Klasse. „Esgibt
einegefühlte Abwertung imKollektiv.“ Be-
acht et mehrdie ÜberlieferungvonErfah-
rungen undNarrative! Everhard Holtmann
(Halle-Wittenberg) schlugvor,die „sugges-
tiveZweite-Klasse-Frage“nicht mehr zu
stellen,sondernLebenslagen im Detail zu
erfragen.Auchdie Langzeitstudie„Thürin-
gen-Monitor“ zeigt, dassDemokratiezufrie-
denheitsteigt,sogar beiBürgern mit „auto-
ritäre rEinstellung“;vielleicht schließt die
AfD eineRepräsentationslüc ke.
Katja Wolf is tseit siebeneinhalb Jahren
Eisenachsdirekt gewählteOberbürger-
meisterin mit Linke-Par teibuch,ohneeige-
ne Stadtratsmehrheit.Staatsversagen defi-
niertsie aus Bürgersicht: „Nichtgeleerte
Papierkörbe in der Drachenschlucht und
vonder Hygieneaufsichtgeschlossene Du-
schen in der Jahn-Sporthalle.“ In Hinblick
auf AfD-Wähler mahnteWolf, „nicht
durch neue Ausgrenzungen politische Dis-
kursfähigkeit zuverlieren“. Da traf sich
die Kommunalpolitikerin der Linken mit
dem Leiter der Bundesbehörde für dieSta-
si-Unterlagen, Roland Jahn, der davor
warnte,mit Regelverletzungen Demokra-
tieregeln schützen zuwollen.
ZumDreißigjährigen der Einheit
„gärt“ inKatja Wolf, wie sievorden For-
schernbekannte, die „bittere“ Erinne-
rung daran, dassder Verfassungsentwurf
des rundenTischs 1990 unter denTisch
fiel. Damalswarsie vierzehn Jahrealt, in
der Pubertät–„wennSturmund Drang
und Revolution zusammenkommen,was
Besseres gibt’s jagarnicht“. Heutebekom-
me sie Gänsehaut beim LesenvonArtikel
1Absatz2jenes Entwurfs:„Jeder schul-
detjedem die Anerkennungals Glei-
cher.“ GÜNTERPLATZDASCH

EinMann


wie Lessing


Kamenz ehrtHerrmann


W


as hat die Strafrechtspro-
fessorin denn dawomög-
lichmissverstanden?Kon-
kret,soschreibt Frauke
Rost alski, Direktorin des Instituts für
Strafrechtund Strafprozessrecht der
UniversitätKöln, könnteein neuerPara-
graph 217 desStrafgesetzbuchs (StGB)
so lauten:„Wer die Selbsttötungeines
anderen oder derenVersuchveranlasst
oderfördert, obwohl er (nach den ihm
bekanntenUms tänden) nicht davonaus-
gehen darf, dassdie Entscheidung zur
Selbsttötung unterkeinenwesentlichen
Willensmängeln leidet, wirdmit Frei-
heitsstrafebis zu drei Jahren oder mit
Geldstrafebestraft.“ DieseFassung soll
demnachden neulichvom Bundesver-
fassungsgericht für nichtigerklärtenPa-
ragraphen 217StGB ersetzen.
DasGuteanRostalskis im „Kölner
Stadtanzeiger“vom6.Märzgemachtem
Vorschlag:Hierwagt sicheine Wissen-
schaftlerin aus der Deckung, um die De-
battezueröffnen,anderen Ende eine
verfassungskonforme Ausgestaltung ei-
nes neuenSelbsttötungsgesetzes durch
den Gesetzgeberstehensoll. Das zwei-
felhafteund möglicherweise auf einem
Missverständnis der Karlsruher Ent-
scheidungvom26.Februarberuhende
MomentvonRostalskis Einlassung be-
steht darin: Sie dupliziert auf der Ebene
der rech tswissenschaftlichen Dogmatik
lediglichdie philosophischeRadikalität
des Zweiten Senats, der in seinemUrteil
das menschliche Lebengleichsam auf
null stellt, indem er es in allen seinen
Phaseneinemtödlichen „Ichmöcht elie-
be rnicht“-Vorbehaltaussetzt.Umdann
freilich–und dieserKontextist erheb-
lich–vomeben herges tell tenNullpunkt
aus den Schutzdes Lebensdem Gesetz-
geber neu anheimzustellen. Dasvon
den Verfassungsrichterneffektiv ge-
machte, gleichsam freigeschlagene
Recht auf assistierte Selbsttötung über-
führen sie dann also dochwiederindie
Sphäredes –verfassungsgemäß–zuRe-
gulierenden. Dem Gesetzgeberkommt
bei diesemVorgang die Aufgabe zu, den
vonKarlsruhe um der effektiven Ge-
währleistung des Selbsttötungswun-
sche swillen leergeräumtenRaum nun
wieder mitNormen zu besetzen.
Mit anderenWortenbestünde die
Aufgabe des Gesetzgebers jetzt darin,
die individualistische Konzeptiondes
Selbstbestimmungsbegriffs, welche das
KarlsruherUrteil prägt, nicht zuverdop-
peln, sondernvorauszusetzenund als
Gesetzgeber den Selbstbestimmungsbe-
griffauchindessen Gemeinschaftsbezü-
genzuentfalten.Radikal im Sinne eines
methodologischen Individualismus
(undAtheismus)meinten dieVerfas-
sungsrichtergerade deshalb seinzukön-
nen,weil sie eine solche nachholende
Regulierung dem Gesetzgeber zwar
nicht aufgetragen,aber ausdrücklicher-
laubt und damit im Zugeder parlamen-
tarischen Debattewahrscheinlichge-
macht haben. Insoweit is tdiese Karlsru-
her Radikalität, die zu lautstarkem Un-
verständnis und Protestengeführt hat,
fairer weise nicht unabhängigvonder
im Urteil selbsteröffnetenRegulierungs-
perspektivezubeurteilen. Hier hätten
Rechtswissenschaftler Vorschlägezu
machen, damit der Bundestagschlüssi-
ge Optionen erwägenkann.

Gierig eErbneffen
Rost alskiverwirft in ihrer Begründung
des neuen Gesetzesvorschlags nun aber
sämtlicheimKarlsruherUrteil als mög-
lichaufgewiesenenRestriktionen,etwa
auf formelleVerfahren zu setzen, um
die Freiheit der Entscheidung desSter-
bewilligen,wenn nicht sicherzustellen
(wie solltedas vonaußen her funktionie-
ren?), so doch zu begünstigen.Statt den
lebensmüden Menschen in einemfor-
mellenVerfahren mit Alternativen zum
Suizidvertraut zu machen, ihn über sol-
cheAlternativen ingebotener Form auf-
zuklären, hältRostalskiesfür ausrei-
chend,wenn demSuizidhelfer ad hoc
keine Zweifel an der freienWillensbil-
dung des Suizidentenkommen.
Damit wirdinaufreizenderWeise
dem Ermessensspielraum der Suizidas-
sistenzdas letzteWortzugebilligt, ob es
sichbei dieser Assistenz nun um einen
Sterbeverein handelt oder um den „gieri-
genErbneffen“ –Letzteren erwähnt
Rost alski selbstals problematisches Bei-
spiel,wobei siefeststellt, dassdas straf-
freie„Angehörigenprivileg“ desgekipp-
tenParag raphen 217StGBeine vondes-
sen vielenUngereimtheitenwar: „Die
Straffreiheitvon nichtgeschäftsmäßig
handelnden Angehörigen wirdnicht
demUmstand gerecht, dassesgerade in
diesen Beziehungen dazu kommen
kann, dasseine alteoder krankePerson
zu ihrem Sterbewunschgedrängt wird.“
Dassnachdem Vorschlag Rost alskis zur

Neufassung des Selbsttötunggesetzes
dann aber ausgerechnetauchdem poten-
tiellen Manipulatordes Sterbewunsches
–dem interessiertenAngehörigen–vor-
behalten sein soll,keinewesentlichen
Willensmängel beim Suizidentenfestzu-
stellen und damit als Suizidhelferstraf-
frei aktivwerden zu dürfen, macht aus
der anvisierten strafrechtlichen Vor-
schrifteine Farce. Mankönntesie dann
auchgleichbleibenlassen.
Ebenfalls am 6. Märzstelltedie Bun-
desjustizministerin in der „Rheinischen
Post“klar,„dasswir nochindieserWahl-
periodeüberGruppenanträgeimBun-
destagRegelungenzum Thema Suizid-
hilfeschaffen“. Christine Lambrecht lei-
tetfür solcheRegelungen andere,gegen-
teiligeFolgenaus demKarlsruherUrteil
ab als dieKölner Professorin. So spre-
chedas Urteil „etwavon Aufklärungs-
undWartepflichten, Erlaubnisvorbehal-
tenund demVerbotbesonders gefahr-
trächtigerFormen der Suizidhilfe“. Da-
mit setzt die Justizministerin Signale für
eineRegulierung, die auchanfolgender
Maxime zu orientierensei: „Alteund
pflegebedürftigeMenschen haben ein
Rechtauf Pflege, Begleitung undZuwen-
dung. Sie dürfenkeinesfalls das Gefühl
haben, dasssie ab einergewissen Pflege-
bedürftigkeit die SuizidhilfeinAn-
spruchnehmen müssten.“Als Zweck
der anstehendenRegulierungen möchte
Lambrecht sicherstellen, „dass der assis-
tierte Suizidkeine gesellschaftlicheNor-
malitätwerden darf“–jedenfalls nicht,
so ließe sichergänzen, über dasNormali-
tätsniveau hinaus, das der Gesetzgeber
schon mit dem seit 2015explizitge-
machten AngehörigenprivilegvonPara-
graph 217StGBherstelltesowie erst
rech tdas Bundesverfassungsgericht mit
seinem diesenParag raphenwiederkas-
sierenden Suizid-für-alle-Urteil.

Flieg, Sinniervogel, flieg!
In dievonLambrechtgewiesene Rich-
tungzielen auchSzenarien für einever-
fassungskonforme Lösung,welche jetzt
selbstvon strikt res triktiver Seite ins
Spiel gebrachtwerden, so durchden
BonnerStaatsrechtler Christian Hillgru-
ber,der seit Jahren darauf pocht, dass
SelbstbestimmungwederSynonym
nochKernder Menschenwürde sei,wes-
halberdie ganze Richtung desKarlsru-
her Urteilsmissbilligen muss. Indessen
ruft Hillgruber in derWürzburger„Ta-
gespost“vom5.Märzdazu auf, den
„Handlungsauftrag“des Gesetzgebers
nachder Entscheidung des Bundesver-
fassungsgerichts „nun allerdings diffe-
renzierter zu erfüllen:durch Anordnung
prozeduraler Sicherungsmechanismen,
etwa gesetzlichfestgeschriebenerAuf-
klärungs- undWartepflichten, über Er-
laubnisvorbehalte, die die Zuverlässig-
keit vonSuizidhilfeangeboten sichern,
bis hin zuVerbotenbesondersgefahrt-
rächtiger E rscheinungsformen der Sui-
zidh ilfeentsprechend demRegelungsge-
dankendes Paragr aphen 217StGB“.
Wiedas KarlsruherUrteil auf diege-
setzgeberische Seiteeinen Mobilisie-
rungsdruckausübt, indem es ein neues
Gesetzjedenfalls nahelegt, so setzt es
das Gemeinwesen auchunter einen er-
höhtenReflexionsdruck,was „Sinnhaf-
tigkeit“ des Lebens seinerGlieder an-
geht.Denn es istdie Berufung auf die
persönlichen Sinnvorstellungen der Bür-
ger, mit der dieVerfassungsrichter die
Freiheit,sichdas Lebenzu nehmen, als
ultimativesPersönlichkeitsrecht begrün-
den, manche sagen:feiern. Soformu-
liertder ZweiteSenat:„Die Selbstbe-
stimmung überdas eigene Lebensende
gehörtzum ,ureigenstenBereichder Per-
sonalität‘ des Menschen, in dem er frei
ist, seineMaßstäbe zuwählenund nach
ihnen zu entscheiden.“ DiesesRechtbe-
stehe „in jeder Phase menschlicher Exis-
tenz. Die Entscheidung des Einzelnen,
dem eigenen Leben entsprechend sei-
nem Verständnis vonLebensqualität
und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz
ein Ende zu setzen“, sei als Akt autono-
mer Selbstbestimmung zu respektieren.
Hier wirdein Bewusstheitsniveauvor-
ausgesetzt, fürsSterben- wie fürsÜberle-
benwollen, das nicht als allgemeingültig
angenommenwerden kann. Mussman
die Frage: „Wann ist ein Leben nichtver-
geblich?“ (PascalMercier)erstinaller
Ausdrücklichkeit beantwortenkönnen,
um als selbstbestimmtzugelten? Lebt
und stirbt man nicht vielfachineiner be-
wusstseinsmäßigen Grauzone, eher an-
ästhesiertinBezugauf gestochen scharf
gestellteFragenvonSinnhaftigkeit und
Lebensqualität? Eine derartigeBewusst-
losigkeit wirdblitzartig ofterstimRück-
blick erhellt,wenn man in sichein gro-
ßes Erstaunenverspürt, dassman für
eineWeile –Jahreoder Augenblicke –
mutmaßlich so weit wegvon sichselbst
lebte und diese Selbstbetäubung damals
garnicht wahrnahm.
Eine solche Betäubtheit istaber eben
nicht nur empirischmehr oderweniger
normal, sondern auchvon Rechts we-
genkaum zu beanstanden. Sorgt der
hoheBewusstheitsanspruch, denKarls-
ruhe beim Leben wie beimSterbenvor-
aussetzt, nun dafür,dassMenschenwür-
de vornehmlichden Sinniervögeln zukä-
me? Mussman im Gegenteil nichtgera-
dezuvon einem Abwehrrecht gegen-
überstaatlichen Bewusstheitsappellen
sprechen?Undwenn ja, wie ließesich
gesetzmäßig an ein selbstbestimmtes
Durchhalten in widrigenUmständen ap-
pellieren? CHRISTIANGEYER

Mir geht’s gut,


unsgeht’s immer schlechter


Gefühlte AbwertungimKollektiv:Eine TagunginJena erörtert Schwierigkeiten


des Regierens in derrepräsentativen Demokratie im Ost-West-Vergleich


Steigen Sie wieder ein, HerrMinisterpräsident, und zünden Sie sicheine Zigarre an! Unter den Glückwünschen, die BodoRamelow
nachseinerWiederwahl am 4. MärzinEmpfang nahm,warenBlumen nicht die einzigeFormdes Sachgeschenks. Im Dezember 2018
hatteRamelowdie vonder evangelischen Diakoniegetragene Christo-Zigarrenmanufaktur in Bad Lobenstein besucht, dierund 6000
handgedrehteZigar renpro Jahr produziert. Den 2020 wie 2019vonden Sternsingerndurch Anbringung der Inschrift„C+M+B“
vermittelten Haussegen konnteder Landtag in diesem Jahr besondersgut gebrauchen. 2018gehörten20,8 Prozent der Thüringer der
evangelischen und 7,6 Prozent derrömisch-katholischen Kirchean. Foto Daniel Pilar

Die Stunde der


Wissenschaft


Suizidhilfemussfrei


sein ,aber Regulierung


istmögli ch:Nachdem


KarlsruherUrteil sind


rech tsdogmatische


Modellvorschlägefür


den Bundestaggefragt.

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