Frankfurter Allgemeine Zeitung - 11.03.2020

(Greg DeLong) #1

Neuer Oberbefehlshaber


West


Generalfeldmarschall AlbertKessel-
ring, der sichbei Hitler bis dahin mili-
tärischvor allem als Oberbefehlsha-
ber in Italien empfohlen hat, wird
zum Oberbefehls haber dergesamten
Westfront.Spätestens seit den Ereig-
nissen des 20. Juli 1944 istdas Ver-
hältnis Hitlerszur Generalitätvon
großem Misstrauengeprägt.Kessel-
ring allerdingsvertraut der Diktator.
In Italien hatteder nicht nur den alli-
iertenVormarschzeitweise zum Er-
liegengebracht. In seinenVerantwor-
tun gsbereichfallen auchzahlreiche
Morde an Zivilisten. Militärischkann
Kesselring die LageimWesten, wo
die „Rheinfront“ immer mehr brö-
ckelt, nicht mehr entscheidendverän-
dern. In seiner Loyalität zu Hitler
bleibt der Generalfeldmarschall aber
auchnachKriegsende unerschütter-
lich. 1947voneinem britischen Mili-
tärgericht in ItalienwegenDuldung
vonGeiselerschießungen erst zum
Tode verurteilt, wird er dann zu le-
benslänglicher Haftbegnadigtund
wenigeJahrenachKriegsende aus
Gesundheitsgründen freigelassen.


„Schmählichverraten“


In einemAufruf an dieWehrmacht
würdigt Hitler die militärischen Leis-
tungen der Soldaten seit Kriegsbe-
ginn. Diese seien umso höher zu be-
werten, als Deutschland vonden
meisten seinerVerbündeten„schmäh-
lichverrate n“ worden sei. Ansonsten
wiederholt der Diktator seinen Glau-
benssatz, dassmit Standhaftigkeit
auchscheinbar aussichtslose Situatio-
nen nochzuwenden seien. Als histo-
risches Beispielfür eine solche dient
ihm neben anderendie LagePreu-
ßens im Siebenjährigen Krieg. „Der
Gott derWelten hilftnur dem, der
sichselbstzuhelfen entschlossen
ist.“Hitlerfordert, jeder müsse seine
Pflicht bis zum Letzten erfüllen,weil
die Gegner offenverkündethätten,
dasssie die Ausrottung der deut-
schenNation anstrebten.


RumänischeVerwaltung in


Siebenbürgen


AusAnlass derWiedererrichtung der
rumänischenVerwaltung in Sieben-
bürgenbesucht einerumänischeRe-
gierungsdelegation Moskau. DieRu-
mänen hatten dieVerwaltungvon
der RotenArmee übernommen, die
im Zuge ihrer Offensiveindas Ge-
bieteinmarschiertwar.1940 hatte
Rumäniendurch den sogenannten
Wiener SchiedsspruchTeile Sieben-
bürgens anUngarn abtretenmüssen.
Die Regionwarbis zum Ersten Welt-
krieg ungarischgewesen, dann aber
im FriedensvertragvonTrianonRu-
mänien zugeschlagen worden. Die
Sowjetregierunggibt der rumäni-
schen Delegation dieForderung mit
auf den Weg, in Siebenbürgenfür
Ruhe und Ordnung zusorgen. Immer-
hin liegedas GebietimRückender
Roten Armee, die zu diesemZeit-
punkt immer nochinUngarn
kämpft. pes.


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Der CDU-Bundestagsabgeordnete
NorbertRöttgenruft seinePartei zur
Einheit auf–nicht nur in dem Sinne,
dasssie ihn in sechsWochen mög-
lichstmehrheitlichzumVorsitzenden
wählen soll, sondernauchinder Ab-
sicht, die CDU solle als „Parteider
Einheit“ die Ost-West-Zer rissenheit
überwinden.Wiesehr die politischen
Weltbilder innerhalb der CDU ausein-
anderdriften, hat sichinden vergan-
genenWochen am BeispielThürin-
gens gezeigt.Zum Ärgervieler örtli-
cher Abgeordnetergab esvonman-
chen westdeutschen CDU-Repräsen-
tanten unverblümteAufforderungen
und Empfehlungen,etwa vomaus
Niedersachsen kommenden Vorsit-
zenden der JungenUnion, TilmanKu-
ban. DieWestdeutschen erinnerten
die Ostdeutschen daran, dasssie
durch den Beschlusseines CDU-Par-
teitags darangehindertseien, dem
vonder Linksparteigestellten Minis-
terpräsidenten Bodo Ramelowzu-
rückins Amt zu helfen, sei es auch
nur,umden Schaden zu begrenzen,
den zuvor eine Ministerpräsidenten-
Wahl durch ein ErgebnisvonAfD-
Gnaden angerichtet hatte.
Um zu demonstrieren, dassihm
der innerdeutsche Dialog in derPar-
teiein ernstesAnliegen sei, lud der
Nordrhein-WestfaleRöttgen am
Dienstagden brandenburgischen
CDU-AbgeordnetenMartin Patzelt
und die frühereThüringer Minister-
präsidentin Christine Lieberknecht
zu einer mittäglichen Debattier-Run-
de ein. Es sollten allgemeine„Ausein-
ander-Entwicklungen“ in Deutsch-
land besprochenwerden, aber auch
die Verhältnisse innerhalb der CDU.
Röttgen selbststellteklar,dasserden
Unvereinbarkeitsbeschlussseiner Par-
teigegenüber Linksparteiwie AfD ei-
nerseits durchaus beibehaltenwolle;
jedochdürfe man andererseits „Poli-
tik nichtvonBeschlusslagen abhän-
gig machen“. Auch Lieberknecht
fand Gefallen an solchdialektischer
Beweglichkeit;diese brachtesie auf
die Formel, es müsse „mehrföderale
Gelassenheit“ in Deutschland zur
Geltungkommen.
Der gelerntekirchliche Sozialarbei-
terund langjährigeOberbürgermeis-
tervon Frankfurt(Oder)Patzelt sah
die Ursache für dasgespalteneWäh-
lerverhalten in Deutschland in einem
anhaltenden ostdeutschen Krän-
kungsgefühl. Schon zu DDR-Zeiten
hätten sichdie Ostdeutschengegen-
über denWestdeutschen als Schwä-
chereund Kleineregefühlt;dieser
Minderwertigkeitskomplexsei längst
in Trotzumgeschlagen.PatzeltsRat:
„Lasst dochdie Ostdeutschen mal
ausreden; hörtdenen dochmal zu.“
Lieberknechtfand weiter eGründe
dafür,warum etwadie AfD inden
neuen Ländern mehr als 20 Prozent
der Stimmen erreicht,während es im
Westen oftweniger als halb so viele
sind. Die AfD bündele in ihrer politi-
schen Haltung eben alles, „was dem
DDR-BürgeramWestennochnie ge-
passthat“. Sicher,die Wiedervereini-
gung sei wegenWirtschaftsauf-
schwung undReisefreiheit im Osten
begrüßtworden, aber mit anderen Er-
scheinungen, wie denParallelgesell-
schafteningroßenStädten,steigen-
der Unordnung im öffentlichen
Raum, laissez-faireinden Schulen
hätten sichdie Ostdeutschen nie an-
freundenkönnen.
BeideOstdeutsche erneuerten
schon bekannteIdeen: Mehr Begeg-
nungen seien nützlich,etwa durch ge-
genseitigeBesuchevonSchulklassen,
Vereinen und Bürgergruppen. Es sei
gut,wenn Ost- und Westdeutsche
häufiger zusammen angemeinsamen
Vorhaben arbeiteten, fand Patzelt,
etwazur Bekämpfung des Klimawan-
dels.Röttgengestand zu, so wie es in
Deutschland insgesamt noch„keine
Begegnung auf Augenhöhe“ zwi-
schen Ost- undWestdeutschengebe,
geltedies auchfür seinePartei. Die
CDU müsse aber diePartei sein, die
eine solche Einheitverkörpernwolle.

Das schärfste,weil einzigeSchwert,das
der Bundespräsident hat, istdas Wort,
und scharfe Wortehat Frank-WalterStein-
meiernun schon einigeMale gefunden:
„Wenn heutedie Repräsentanten unserer
Demokratie, allenvorandie Ehrenamtli-
chen, wenn Bürgermeisterund Kommu-
nalpolitiker beschimpft, bedroht undtät-
lichangegriff en werden –dann istdas ein
Alarmzeichen für die Demokratie.“ Das
sagte Steinmeier im JunivergangenenJah-
res, kurz nachdem derKasselerRegie-
rungspräsidentWalter Lübcke ermordet
worden war. EinigeWochen später traf er
im SchlossBellevue dann mehrereBürger-
meister, um auchdamit einZeichenge-
gendie zunehmende Gewalt zu setzen.
Im Dezemberreiste er ins sächsische Puls-
nitz, um zu erfahren, wie es fürKommu-
nalpolitiker ist,wenn sie beleidigt oder
garbedrohtwerden und „ganz allein auf
demBürgersteig stehen“. DieseFormulie-
rung stammtvomDienstag, der Bundes-
präsident istins Rathaus derStadt Zwick-
au gekommen, um wieder über die Situati-
on vonKommunalpolitikernzusprechen
–innochdrastischerenWorten.
„Deutschland hat ein massives Pro-
blem mit Hassund Gewalt“,sagteervor

einer Diskussionsveranstaltung mitKom-
munalpolitikern,Forschernund Behör-
denvertretern. DieKriminalstatistik bil-
de beiweitem nicht dasgesellschaftliche
Klima ab.Steinmeiersprichtvoneinem
„Klima der Empörung undEnthem-
mung“, einem„Klima der Herabsetzung
und Hetze“,einemKlima, „daswir nicht
längerhinnehmen dürfen“. Häufig wür-
den KommunalpolitikergarkeineAnzei-
ge erstatten,weil eskeine Zeugengebe
oderweil schlichtkein gesetzlicherTatbe-
standgreife.
Eine aktuelleUmfrag ebelegt Steinmei-
ersWorte mit Zahlen. Demnachwurden
knapp zwei Drittel (64 Prozent)aller Bür-
germeisterinDeutschland mindestens
schon einmalbeleidigt, bedroht oder so-
gartätlich angegriffen. Voreinem Jahr
warenesnoch41Prozent, die davonin
der Umfrag eberichteten. Vonkörperli-
chen Attacken berichten neun Prozent al-
ler Bürgermeister, sie seien schon be-
drängt, bespucktoder geschlagenwor-
den.Voreinem Jahrwarenesnochsieben
Prozent, 2016warenessechs Prozent.
Die Umfrag eführte die Zeitschrift„Kom-
munal“, eine Publikation des Deutschen
Städte- und Gemeindebundes, imAuf-

trag der ARD-Sendung „ReportMün-
chen“ durch.Befragt wurden 2494 Bürger-
meister, es beteiligte sichalso jedes vierte
Stadtoberhauptander Umfrage.
Bedrohungen erleben die Männer und
Frauen auf vielfältigeArt und Weise: per-
sönlich(46 Prozent), durch Briefeoder
Faxe (39 Prozent),Hass-E-Mails und so-
ziale Medien (30 Prozent).Bürgermeis-
ter, die vorallem in kleineren Ortenihren
Bürgern ständig über denWeglaufen,
werden am häufigstenbei öffentlichen
Veranstaltungen beleidigt oder angegrif-
fen, aber auchoft in ihren Diensträumen
und sogar,wenn sie erkennbar als Privat-
person unterwegs sind. Auchdie Mitarbei-
terinder Verwaltungund die Gemeinde-
vertreterwerden angegriff en. Sechsvon
zehn sind schon einmal persönlichbelei-
digt oder bedroht, jederFünftesogarkör-
perlichangegriff en worden. Hass-Briefe
und Hass-E-Mailsgehören zu ihrem Ar-
beitsalltag.UndauchFamilienmitglieder
der Bürgermeistergeraten inzwischen ins
Visier.
„Wir dürfennicht zulassen, dassKom-
munalpolitikerinnen undKommunalpoli-
tiker in unserem Land zuFußabtrete rn
der Frustriertenwerden“, sagteSteinmei-

er in Zwickau. „Wir müssen Zivilitätver-
teidigen, Anstand undVernunftzurückge-
winnen; ohne beideskann Demokratie
nichtgelingen.“ Die sogenannteschwei-
gende Mittesei zu langeruhiggeblieben.
Die Mehrheit der Deutschenverurteile
Gewalt, sagteder Bundespräsident.Aber
sie dürfe eben nicht mehr schweigen.
Zwickaus OberbürgermeisterinPia Fin-
deiß (SPD),die damals auchinSchloss
Bellevue dem Bundespräsidentenvonih-
rerSituation in Sachsen berichtete, und
der Landrat des Erzgebirgskreises,Frank
Vogel(CDU), erklärten, sie beobachteten
einen enormenVerfall vonWertenund
Respekt in den vergangenen Jahren.
„Hasshat zugenommen, das istganz
klar“, sagteFindeiß.
Steinmeier lobtezwardie Bemühun-
gendes Bundestags, die Gesetze zum
Schutz vonPolitikernzuverschärfen,
den Aufbau der Meldestelle für Hasspos-
tingsdes Bundeskriminalamtsund auch
den vonimmermehr spezialisierten
Staatsanwaltschaften. Eswerdedauern,
bis all dies Erfolg zeigenwerde, glaubt
derBundespräsident.„Undich bin mir si-
cher,wir werden nochmehrInstrumente
brauchen.“

D

er Schockwar groß, als im
Herbst2018 dievonden deut-
schen Bischöfen inAuftrag ge-
gebeneStudie über den Miss-
brauchinder katholischen Kircheveröf-
fentlicht wurde: DieWissenschaftler hat-
teninden Akten der 27 deutschen Bistü-
mer Hinweise daraufgefunden, dasssich
in den Jahren 1946 bis 2014 insgesamt
1670 Kleriker an Kindernund Jugendli-
chen vergangen haben. DiesenTätern
konnten 3677 Opfer zugeordnetwerden.
Die auch„MHG-Studie“genannteUnter-
suchung machtedreierlei deutlich: Esgab
ein ungeheuresAusmaß an krimineller
Energie undVertuschung; bei den Ergeb-
nissenkonnteessichgerade deshalb nur
um die Spitze des Eisbergs handeln.Und
schließlichwardamit auchklar,dassdie
Suche nachden Ursachen noch aussteht.
Deshalblassenmeh rere Bistümer ihreAk-
tennun vonexternenFachleuten prüfen –
mal vonGeschichtswissenschaftlern, mal
vonJuris ten. DasRuhrbistum Essen bei-
spielsweisegabeine entsprechendeStu-
die erst vergangeneWocheinAuftrag.
Das ErzbistumKöln is tschon weiter –
eigentlich. Am Donnerstag solltedortein
umfangreicher Berichtvorgestellt wer-
den, den dierenommierte Münchner An-
waltskanzlei„Westpfahl SpilkerWastl“
im Auftrag vonErzbischofRainer Maria
Woelki in denvergangenen Monaten erar-
beitet hat.Tabus sollteesnichtgeben.
Auch die NamenvonVerantwortlichen
sollten benannt undstrafrechtlichrele-
vanteFälle an dieStaatsanwaltschaftwei-
tergeleitet werden. Dazukommt es nun
einstweilen dochnicht .AmDienstagsag-
te das Erzbistum dieVeröffentlichung
überraschend ab–nicht etwa mit Verweis
auf die Corona-Krise, sondernwegen der
offensichtlichengroßen juristischen Bri-
sanz der Ergebnisse. Man habe nicht „alle
für eine Veröffentlichung relevanten
rechtli chen Fragen abschließend klären
können“, sagteGeneralvikar MarkusHof-
mann. Versuchen hohe Würdenträger,
eine aus ihrer persönlichen Sicht allzura-
dikale Kölner Transparenzoffensivezu
hintertreiben? SeitWochen gibt es ent-
sprechende Gerüchte. Generalvikar Hof-
mann sagteamDienstag, einweiteres

Gutachten zu äußerungsrechtlichenFra-
genhabe ergeben, „dasswir dieVeröffent-
lichung der Ergebnisse so absichernmüs-
sen, dasseine identifizierbareDarstel-
lung derVerantwortlichen nicht angegrif-
fenwerdenkann“.Zugleichversicherte
Hofmann abermals, dieStudie der Mün-
chenerKanzlei solle „nebenstrukturellen
Defiziten auchdie Verantwortungsträger
klar benennen“.Auchnachder Verschie-
bunggelte: Der Inhalt derStudie sei den
Verantwortlichen im ErzbistumKöln bis-
her nicht bekannt undwerdeihnen auch
erst mit derVeröffentlichung zugänglich.
Dassund wiekatholische Kleriker auf
ihremKarriereweg schwereSchuld durch
das Deckenpädokrimineller Geistlicher
auf sichgeladen haben, machteimNo-
vember ein aufsehenerregendes Inter-
viewinder Münsteraner Bistumszeitung
schlaglichtartig klar.Als er ster hoherka-

tholischerWürdenträger in Deutschland
gabder ehemaligeHamburgerErzbischof
Werner Thissen schwerepersönlicheFeh-
ler imUmgang mit sexuellem Missbrauch
zu. Er und dieinseinerZeit al sGeneralvi-
karimBistum Münstermit ihmgemein-
sam verantwortlichen Kollegen hätten
sichkaum um die Opfergekümmert, son-
dernstattdessen zu viel Mitleid mit den
Tätern gehabt.Thissen wies darauf hin,
dassdie Beschuldigten ja Priestergewe-
sen seien, die er und seineKollegen gut
kannten.„Da kommt sehr schnell der Mit-
leidseffekt auf. In einerPersonalkonfe-
renz fragtemal jemand: Muss derTäter
denn nicht bestraftwerden? Die überein-
stimmende Meinungwar: Der hat sich
durch seinVergehen am meistenschon
selbstbestraft“, berichteteder emeritier-
te Bischof.Nachdieserverstörenden Lo-
gik brauchten dann auchdie staatlichen

Strafermittlergarnicht erst eingeschaltet
zu werden. Es istlebensfremd, anzuneh-
men, inKöln habeeseinen ähnlichen Mo-
dus Operandi nichtgegeben. Gab es ihn
aber,dann wärenmöglicherweise Persön-
lichkeiten mitStrahlkraftüber die Gren-
zen des Erzbistums hinaus betroffen:
Denn außer den nicht mehr lebenden Erz-
bischöfen Höffner und Meisnerwaren
auchviele aktuell in derkatholischen Kir-
chemit hohen ÄmternbetrauteWürden-
träger in denvergangenen Jahrzehnten in
Köln inPersonalverantwortung. Beispie-
le sind derKölnerWeihbischof Domini-
kusSchwaderlapp und der Hamburger
ErzbischofStefan Heße, die beide zuvor
als Generalvikar inKöln tätig waren.
Auch im Bistum Münstersollte dieser
Tage eigentlichein erster Zwischenstand
veröffentlichtwerden. Dorthat das Bis-
tum eine GruppevonHistorikern mit der
Aufarbeitung beauftragt. Geleitet wird
das Team vonThomas Großbölting, der
an derWestfälischenWilhelms-Universi-
tätProfessor fürNeuereund Neuste Ge-
schichteist.AmMittwochabendwollten
die Forscher in einem Hörsaal der Müns-
teraner Hochschule über ihre Arbeitswei-
se und eben aucherste ErkenntnisseRede
undAntwortstehen.Dochwiealleande-
renVeranstaltungen mit Publikumsver-
kehr an der Hochschule wurde auchdie-
ser Termin wegender Corona-Krisevor-
sorglichabgesagt–von derUniversität,
nichtvomBistum.

I

mBistumPaderbornhat dieAufar-
beitung des sexuellen Missbrauchs
in den Jahren zwischen 1941 und
2020 MitteFebruar begonnen. Lei-
terinder auf drei JahreangelegtenStudie
istNicole Priesching, die eine Professur
für Kirchen- undReligionsgeschichtean
der UniversitätPaderborninnehat.Wie
bei ihrenKollegen in Münster, mit denen
Priesching in engem Austauschsteht,
wirdbei derPaderbornerStudie die histo-
rischeAufarbeitung imVordergrund ste-
hen. Doch in beidenFällen wollen dieHis-
torikerauchdie Strukturenrekonstruie-
ren, die Missbrauchstatendurch Kleriker
begünstigt oder ihreAufdeckungverhin-
derthaben.
Das Ruhrbistum Essen hatvergangene
Wochedas Münchner Institut für Praxis-
forschung und Projektberatung (IPP), das
unter anderen auchden Missbrauchsskan-
dal in der Odenwaldschule untersucht hat-
te,mit einer umfassenden, auf zwei Jahre
angelegtenStudie beauftragt.„Die Aufar-
beitung sexualisierterGewalt in derka-
tholischen Kirchedarfnicht bei derquan-
titativen ErhebungvergangenerTatenste-
henbleiben“, sagt Bischof Franz-Josef
Overbeck. Generalvikar Klaus Pfefferer-
gänzte: „Wir brauchen eine komplette
Kulturveränderung, um dieKultur des
Schweigens zu durchbrechen.“
Derweil ließ sichamDienstag nicht ab-
sehen,wann die „äußerungsrechtlichen“
Probleme im ErzbistumKöln geklärtsein
könnten.

1945


Föderal


gelassen


Röttgen will Ost-und


West-CDUvereinen


VonJohannes Leithäuser,


Berlin


„Fußabtreter de rFrustrierten“


Der Bundespräsidentist erschrockenüberdie zunehmende Gewalt gegenPolitiker /VonMona Jaeger


Hat dieStudie inAuftraggegeben:Kölner ErzbischofRainer MariaWoelki FotoEPA

mwe. BERLIN.Das Auto des kom-
missarischen BerlinerAfD-Vorsitzen-
den NicolausFest istinder Nacht
zum Dienstagdurch einen Anschlag
beschädigtworden. DiePolizeiver-
mutet ein politisches Motiv.Berlins
AfD-Fraktionschef GeorgPazderski
machteLinksextremistenverantwort-
lich.Autosund BürosvonAfD-Polit-
kern sind immer wieder Angriff en
ausgesetzt.Zuletztwardas Auto des
ParteivorsitzendenTino Chrupalla in
Brandgesetztworden.


Einst weilen abgesagt


DIE LETZTEN
KRIEGSWOCHEN

11.MÄRZ


Anschlag auf


AfD- Fahrzeug


Nach dem


Missbrau chsskandal


gelobtedie katholische


KircheTransparenz.Nun


istdie Veröffentlichung


einerStudieverschoben.


VonReiner Burger,


Düsseldorf


Für die Herstellung derFrankfurterAllgemeinen Zeitung wirdausschließlichRecycling-Papierverwendet.

SEITE 4·MITTWOCH, 11.MÄRZ2020·NR. 60 Politik FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG

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