Frankfurter Allgemeine Zeitung - 11.03.2020

(Greg DeLong) #1
Parisist eineRückkehr wert,hat sichNi-
colas Sarkozygesagt und istinden Ga-
veau-Saalgekommen,woeramWahl-
abend2007seinen Einzug in den Elysée-
Palastfeierte.Die Leutejubeln und klat-
schen, als der früherePräsident am Mon-
taga bend auf die Bühne tritt.Der 65 Jah-
re altePolitiker imRuhestand sprichtvon
seiner „Ergriffenheit“, dochdie Sentimen-
talitätweicht schnellgewohntemKampf-
geist. Er habe eineAusnahmegemacht,
ruft er in den Saal, umRachida Datikurz
vorden Kommunalwahlen am Sonntag
zu unterstützen: „Siewäre eine Bürger-
meisterin, aufwelche diePariser undPari-
serinnenstolz seinkönnten. Ichjeden-
falls binstolz darauf, derFreund undUn-
terstützerRachida Datis zu sein.“
Der Konzertsaalkann knapp über 1000
Zuschauer aufnehmen, aber um die Coro-
navirus-Vorsichtsregeln der Regierung
einzuhalten, wurden nur 900 Anhänger
hereingelassen. Sarkozy lobt die „uner-
schöpfliche Energie“ seiner früheren Jus-
tizministerin, und das Publikum kreischt
vorFreude, als er hinzufügt:„Das istihr
Sarkozy-Charakterzug.“ Der frühere Prä-
sident legtWert darauf, dasserEmmanu-
el Macron nicht über seinenAuftritt infor-
mierthabe, obwohl die französische Pres-
se das behauptethatte. „Ichhabe schon
als junger Menschnur selten um Erlaub-
nis gebeten, und mit dem Alter istdas
nicht bessergeworden“, sagt er.
In der ersten Reihe klatschen diever-
bliebenenFührungsfiguren seiner perso-
nell ausgedünntenParteiLes Républi-
cains (LR): Senatspräsident GérardLar-
cher,der derzeitigeParteivorsitzende
Christian Jacob sowie einer seinerVor-
gänger ,Jean-Francois Copé, die frühere
VerteidigungsministerinMichèle Alliot-
Marie, der ehemaligeHaushaltsminister
EricWoerth und SarkozysRedenschrei-
ber HenriGuaino. Alle hoffendarauf,
dassdie landesweitenKommunalwahlen
am 15. und 22. Märzeine Kehrtwende
nacheiner langen SerievonWahlniederla-
geneinleiten. Dati hat dieReise zurückin
die glorreicheVergangenheit der Sarko-
zy-Ära bewusst in Szenegesetzt .Die Bür-
germeisterkandidatin will sichdie Nostal-

gie vielerrechtsbürgerlicherWähler zu-
nutze machen, die sichinein Pariszurück-
sehnen, in dem nicht allwöchentlich Hor-
denvon„Gelbwesten“ protestieren und
radikaleRandalierer ausWutüber dieRe-
gierung Schaufenster einschlagen, Bushal-
testellen demolieren oder Denkmäler be-
schädigen. Sie hofft,jene Wähler zuge-
winnen, denenPariszuschmutzig und zu
autofeindlichgeworden ist.
DatisAuftretenzeigt, dassdas Rechts-
lin ks-Schema, das Macron zu überwinden
glaubte, in der französischen Hauptstadt
vonneuemgreift. Ihr Wahlkampfgefällt
im vornehmen 7. Arrondissement, in
dem sie seit zehn Jahren als Bezirksbür-
germeisterinwirkt, wie imgroßbürgerli-
chen Westen der Hauptstadt. Aber reicht
das, umganz Pariszuerobern? Die 56 Jah-
re altePolitikerin, die als Ministerinvon
sichreden machte,weil sie ihregeliehe-
nen Haute-Couture-Kleider vonYves
Saint Laurent nicht zurückga b, hat sich
als Law-and-Order-Fraupositioniert.Sie
will eine bewaffnete Kommunalpolizei in
Parisbegründen und nochmehr Überwa-

chungskameras installieren. Sicherheit
und Sauberkeit lauten ihrezentralenVer-
sprechen, mit denensie sichvon ihren bei-
den Rivalinnen, der amtierenden Bürger-
meisterinAnne Hidalgo undAgnès Bu-
zyn, abhebenwill.Letzteremussteinletz-
terMinutefür die PräsidentenparteiLa
République en marcheeinspringen, nach-
dem sichMacronsKandidat für dasRat-
hausvonParis, der ehemaligeRegierungs-
sprecher Benjamin Griveaux, durch ei-
nen Sexskandal unmöglichgemacht hat-
te.
Unterdem Makel der spätenNominie-
rung leidetBuzyns Wahlkampf. Noch
dazu istesihr bislang nichtgelungen, den
Mathematiker CédricVillani günstig zu
stimmen, der einenParteiausschlussin
Kauf nahm,umebenfalls inPariszukan-
didieren. Villanis Alleingang schwächt
die Präsidentenpartei, is taber keinesfalls
ein Präzedenzfall. Infast allengroßen
Städten bekämpfen sichEn-marche-Kan-
didaten und Dissidenten. Die 58 Jahre
alteMedizinerin Buzyn hat zumAuftakt
der Coronavirus-Krise ihrenPosten als

Gesundheitsministerinaufgegeben, um
sichdem Wahlkampf inPariszuwidmen,
wasihr viele übelnehmen. Im Gaveau-
Saal schürtDati dasRessentiment:„Wol-
len Sie eine Bürgermeisterin, die nur Be-
fehlsempfängerin ist? Die Löcherstopfen
mussund so wirkt, als fragesie sichjeden
Tag, warumsie sich diesenWahlkampf an-
tut?“ Datistellt ihreeigene Laufbahn als
Gegenmodellvor.
Sie, die Tochter einer Marokkanerin
und eines Algeriers, habe sichnachoben
gearbeitet undwolle wirklichBürgermeis-
terinvon Pariswerden. „Ichwerdevon
niemandem Befehle entgegennehmen“,
sagt sie. Ihreschärfste KritikrichtetDati
gegendie 60 JahrealteSozialistin Hidal-
go, die einweiteres Mandat anstrebt.Hi-
dalgo habe ausreiner Ideologie die Bür-
gergegeneinanderaufgebracht,Autofah-
rergegenRadfahrer,Einwanderergegen
Alteingesessene,Touris tengegen Einwoh-
ner.
Hidalgo hat auf mitunterradikaleWei-
se die dichtbesiedelteHauptstadt grüner
gemacht, die Schnellstraße am Seine-
Ufer in einen Spazier-und Radweg umge-
wandelt, Häuserwände begrünt und das
Radwegenetz ohne Rücksicht auf Be-
schwerden derAutofahrer ausgebaut.Die
grüne Partei Europe Ecologie LesVerts,
die imPariser Stadtrat zur linken Mehr-
heit der Bürgermeisteringehört, hat sich
vonHidalgo emanzipiert. Deshalb wird
dieSozialistin jetzt auchvom grünenKan-
didaten David Belliardunter Beschussge-
nommen, der ihrvorhält, zu viele Bebau-
ungsprojektegenehmigt zu haben und die
Stadt zu „betonieren“.
Hidalgohat ausSorge vorder Coronavi-
rus-Epidemie ihregeplanteWahlkampf-
kundgebung abgesagt. Siekann darauf
bauen, dasssie vonden dreiKandidatin-
nen diejenigemit demgrößtenStimmen-
potential unter linkenWählernist.Dar-
auf kommt esvordem entscheidenden
Stichwahlgang an. Aber am Montag-
abend lässt Dati an ihrer Siegesgewissheit
keinen Zweifel, und als dieNationalhym-
ne erklingt, singt die Einwanderertochter
aus voller Kehle vom„Tagdes Ruhmes“,
der naht.

Man habe mit dem türkischen Präsi-
dentenRecepTayyip Erdogan dar-
übergesprochen, wie die „fehlenden
Teile“ des 2016vereinbartenMigrati-
onspakts implementiertwerdenkön-
nen, sagteEU-Kommissionspräsiden-
tin Ursula vonder LeyenamMontag-
abend. ZweiStunden hatten sie und
Ratspräsident Charles Michel mit Er-
dogangerungen. Danachzeichnete
sicheine neue Strategie ab, um zu ei-
nemkonstruktivenVerhältnis zurück-
zukehren: DieTürkei hält ihreVer-
pflichtung (wieder) ein, den Flücht-
lingsstromzustoppen–und die EU
nimmt sichjene Elementevor,die
zwar einstvereinbart, aber nie umge-
setztworden sind.
Welche Elementedas sind, sagte
vonder Leyennicht. Es ergibt sich
aber aus der Erklärung, auf die sich
beide Seiten im März2016 einigten.
Die EUstellteder Türkei darin inAus-
sicht, die Zusammenarbeit zuvertie-
fen: Visumfreiheit, eine Modernisie-
rung derZollunion und dieWiederbe-
lebungvonBeitrittsverhandlungen.
So sagten die Mitgliedstaaten zu,
„Visa-Erfordernisse für türkische Bür-
gerbis spätestens Ende Juni 2016 auf-
zuheben,vorausgesetzt, alle Auflagen
werden erfüllt“. Dasstand in einem
engenZusammenhang mit derRück-
führungvonMigranten in dieTürkei.
Denn die EU verlangt vonjedem
Land, mit dem sieVisumfreiheitver-
einbart, dassesein Rückübernahme-
abkommen mit ihr schließt.Damit be-
scheinigt sie dem Land, ein sicherer
Drittstaat zu sein–und sichertsich
selbstgegen unkontrollierte Migrati-
on ab. In denWochen nachMärz
2016 unternahm Ankaragroße An-
strengungen, um weiter eAuflagen
aus Brüssel zu erfüllen. Im Mai be-
scheinigtedie EU-Kommission der
Türkei, sie habe die insgesamt 72 An-
forderungenweitgehend erfüllt.Die
politisch heikelsten warenfreilich
nochoffen: besserer Datenschutz,
Korruptionsbekämpfung und eine Än-
derung der Anti-Terror-Gesetze.Brüs-
sel verlangte, dassAnkar aseine Defi-
nitionvonTerrorismus soweit ein-
schränkt, dassnicht mehr missliebige
Personen unter diesemVorwand ver-
haftet werden können. Damals fan-
den intensiveGesprächestatt, in de-
nen sicheine für alle tragbareFormel
abzeichnete.
Kommissionspräsident Jean-Clau-
de Junckerempfahl dem Europäi-
schen Parlament, die Visumpflicht
Ende Juni 2016 aufzuheben–inder
Erwartung, Ankarawerde die offenen
Punktebald ausräumen.Dochreagier-
te das Parlament skeptisch; zu einem
solchenVertrauensvorschusswar die
Mehrheit nicht bereit. Schon damit
verhärteten sichdie Fronten wieder.
Dannkamauchnochder Putschver-
suchinder Türkei MitteJuli 2016 hin-
zu. Erdogan schlug den Aufstand nie-
der,ließ dann aber Zehntausende
Menschen festnehmen, die damit
nichts zu tun hatten, darunter Journa-
listen undRegierungskritiker–alle
als „Terroristen“. Zugleichbeschuldig-
te der Präsident die Europäer,sie hät-
tendie Putschisten unterstützt.Das
warder Wendepunkt imVerhältnis
der EU zurTürkei. Das ThemaVisum-
freiheit rückteinweiteFerne, zumal
in der EU seither immer mehrTürken
Asylbeantragen. Auchdie Moderni-
sierungder seit 1963 bestehenden
Zolluniongeriet unter dieRäder.Die
Türkei hattedamals ein Handelsdefi-
zit von17Milliarden Eurogegenüber
der EU undwolltedeshalb dieZolluni-
on ausweiten. Sie sollteauchunverar-
beiteteAgrarerzeugnisse, Dienstleis-
tungen und dieTeilnahme an öffentli-
chen Ausschreibungen einschließen,
wie die neueren Handelsabkommen
der EU mit anderenStaaten.Voral-
lem störte Ankarasich daran, dassdie-
se Abkommen zwar die Zölle für alle
EU-Mitglieder verminderten oder
ganz abschafften, nicht aber automa-
tischauchfür dieTürkei. Brüsselwar
bereit, über alle diese Punktezuver-
handeln, und schlug den Mitgliedstaa-
tenEnde 2016 ein Mandat dafürvor.
Dochwaren die Mitgliedstaaten nicht
bereit, denWegdafür frei zu machen.
Dabei istesbisheutegeblieben. In
der Zwischenzeit sind die Exporte der
EU-Staaten in dieTürkei sostarkge-
sunken, dassAnkar anun sogar ein
Handelsplusverzeichnet.
Außerdemwolltedie EU die Bei-
trittsverhandlungen mit der Türkei
„mit mehr Energie vorantreiben“.
WieimMigrationspaktversprochen,
wurde Ende Juni 2016 einweiteres Ka-
pitel eröffnet. Dochnachdem Putsch
kehrte sichdie Dynamik um. Ende
2016 forderte das EuropäischeParla-
ment, die Verhandlungen förmlich
einzufrieren, auchÖsterreichwar da-
für.Dazu kameszwarnicht, dochlie-
gendie Gespräche seither defactoauf
Eis. Sollen sie nun wiederbelebtwer-
den,kommt eine neue Hürde hinzu:
Zypernwürde dem nur zustimmen,
wenn dieTürkei die Öl- und Gasboh-
rungenvorseinerKüsteeinstellt.


D

ie Bundesregierung möchte
nun doch Flüchtlingskinder
vonden griechischen Inseln
nachDeutschlandholen. Am
Sonntagabend legte der Koalitionsaus-
schussfest, dassEuropaetwa 1000 bis
1500 Kindernhelfen solle.Diese sollen
auf dieLänderder „Koalitionder Willi-
gen“ verteilt werden. DieVertretervon
Union und SPD habenkonkretisiert, dass
Kindergemeint sind, die entwederwegen
einerschwerenErkrankung dringend be-
handlungsbedürftig oderunbegleitet und
jünger als 14 Jahresind. Vorallem Mäd-
chen wolle man helfen. UnterBerufung
auf das FlüchtlingshilfswerkUNHCRgeht
dieBundesregierung davonaus, dassun-
terden 42 000 Flüchtlingen in den Lagern
auf den Inselnetwa 2000 unbegleiteteMin-
derjährige sind. DieZahl von5000, die zu-
letztkursierte, sei falsch, heißt es. Die
Hälfte dieserMinderjährigen sei jünger
als 14 Jahre, die andereHälfte älter .„Ärz-
te ohneGrenzen“ schätzt, dassesinden
Lagern100 schwerkrankeKinder gibt.
Wieviele Kinder nachDeutschland
kommen, steht nicht in den Beschlüssen.
Es würdenwohl nichtweniger als 400,
heißtesinBerlin. Schließlichwill Parisof-
fenbar in dieser Größenordnung Kinder
mit ihrenFamilien aufnehmen.Auch von
Finnland,Luxemburgund Kroatien gibt
es festeZusagen, inPortugal und Irland
denktman nochdarüber nach. In Berlin
hofft man,baldzueinemkonkreten Ergeb-
nis zukommen, möglichstschon amFrei-
tag, wenn sichdie InnenministerinBrüs-
sel treffen. Viele Fragen müssen nochge-
klärtwerden:Werwählt die Kinder aus?
WelcherStaat nimmtwen? Dürfendie Fa-
milien nachziehen? In Berlin gibt esdazu
Vorstellungen, die aber nochnicht abge-
stimmt sind. Die Kinder sollenvomBun-
desamt für Migration und Flüchtlinge
(Bamf) in dieKommunenverteilt werden,
die sichdazu bereit erklärthaben, dar-
unter Berlin,Potsdam,Köln undFreiburg.
DemVernehmennachwirdman ihnen di-
rekt einenAufenthaltsstat us geben und
nicht erst ein Asylverfahren durchführen.
Nach Schätzungen sind nuretwa zwan-
zig Prozent der Flüchtlingeinder Lagern
Syrer undetwa die Hälfte Afghanen, de-
renAnerkennungsquote geringer ist.
Dochessei widersinnig, die Kinder erstzu

holen und dann wieder abzuschieben,
heißt es. Dassdie kranken Kindervonih-
renElter nbegleitet werden, steht außer
Frage. Die Erwachsenen müssen aller-
dings erst vonden deutschen Sicherheits-
behörden überprüftwerden.Fürdie Min-
derjährigen besteht auchdie Möglichkeit,
ihreFamilie nachzuholen. Das sei eine
Einzelfallentscheidung, heißt es, doch in
vielenFällen werdedas wohl sokommen.
Im DezemberhatteBundesinnenminis-
terHorst Seehofereine Forderungvon
Grünen-ChefRobertHabeck, Kinderaus
den Flüchtlingslagern nach Deutschland
zu holen,als „unredlich“kritisiertund auf
HilfsgüterimWertvon 1,5 Millionen Euro
aus Deutschlandverwiesen. In dervergan-
genen Wochebrachte Seehoferdann zwar
Kontingenteins Spiel,verwies aber auf
zwei Bedingungen:kein deutscher Allein-
gang und Ordnung an der EU-Außengren-
ze. Kurz daraufstimmtenUnion und SPD
im Bundestaggegen einen Antragder Grü-
nen, 5000 Kinderaufzunehmen. Insbeson-
deredie Union willden Eindruckvermei-
den, dassdie Tore nachDeutschland wie-
der offenstehen. Dochdie Zahl derKom-
munen, die sichals „sichereHäfen“ melde-
ten, wurde jedenTaggrößer.
Auch die SPD erhöhteden Druckauf ih-
renKoalitionspartner,und angesichts 300
neuer Asylbewerber jedenTaginDeutsch-
landwollte man in derUnion ein paar hun-
dertKinderndie Hilfenicht längerverweh-
ren. Sie sollen nichtvonden griechischen
Behörden ausgewählt werden, sondern
vonVertretern des UNHCRinKooperati-
on mit Nichtregierungsorganisationen,
die sichinden Lagernauskennen.
Einervonihnen istPanagiotis Nikas. Er
istGründer und Direktor der Organisati-

on „Zeuxis“, die sichinGriechenland um
unbegleiteteMinderjährigekümmert. Ni-
kasbegrüßtdie Entscheidungder Bundes-
regierung.Andersals diesegeht er aller-
dings davonaus, dassder Anteil der unbe-
gleiteten Minderjährigen unter 14 Jahren
in ganz Griechenland beiweniger als 500
liege. Nikas beruftsichauf die offiziellen
Zahlen, die auchden Erkenntnissenvon
„Zeuxis“ entsprächen: Ende Januarwaren
laut AngabenvonDomnaMichailidou,
derstellvertretendengriechischen Ministe-
rinfür Soziales, 5463 unbegleitete Minder-
jährigeinGriechenlandregistriert. Davon
seien 92,5 Prozent männlichund 7,5 Pro-
zentweiblichgewesen. Kinder unter 14
Jahren machten neun Prozent der unbe-
gleiteten Minderjährigen aus. Zwar sind
seit dervomtürkischen PräsidentenRecep
Tayyip Erdogan proklamierten „Grenzöff-
nung“weiter eMigranten auf die Inselnge-
kommen, doch hat sichander Alterszu-
sammensetzung laut Nikas nichts Maßgeb-
lichesgeändert.

L

aut AngabenvonHilfsorganisa-
tionen handelt es sichbei den
unbegleiteten Minderjährigen
auf den Inseln mehrheitlichum
männliche Jugendliche im Alter zwischen
15 und 17 Jahren.Auchdie griechischen
Sozialbehördengeben an, dassAfghanen
mit 44 Prozent die mitAbstandgrößte
Herkunftsgruppe seien. Esfolgten unbe-
gleiteteMinderjährigeaus Pakistan(
Prozent) sowie erst an dritterStelle aus
Syrien (elf Prozent). DieZahlen dergrie-
chischenPolizei sind ähnlich. Demnach
kamen imvergangenen Jahr insgesamt
etwa46 000 Menschen irregulär auf den
griechischen Inseln in derÄgäis an. Die

mit Abstand meistenvon ihnen (27 150)
auf Lesbos, 10 800 auf Samos, knapp
8100 auf Chios, die übrigen aufKosund
Leros. Laut den Daten derPolizeiwaren
in Moria, dem auf Lesbosgelegenengröß-
tender völlig überfüllten „Erstaufnahme-
zentren“ auf den Inseln, 65 Prozent der
Ankommenden volljährig, wobei auch
hier mehr Männer alsFrauenregistriert
wurden. Andersals nochvor einigen
Jahren machen Syrer laut offiziellen An-
gaben auchunter den Erwachsenen
längstnicht mehr die Mehrheit aus.Nach
in dengriechischen Medienverbreiteten
Zahlen, die sichwiederum auf Angaben
der Polizei berufen,stellten in Moria Af-
ghanen mit zuletzt 73 Prozent derRegis-
trier tendie Mehrheit.Esfolgten Syrer
mit zwölf und Somalis mit fünf Prozent.
Zum„Jungenüberschuss“ sagt Nikas:
„Männliche Jugendlichewerden oftvon ih-
renFamilien oder Dorfgemeinschaften
mit Geld ausgestattet und auf dieReise ge-
schickt, um dannandereMitglieder aus
der Familienachzuholen.“Dies erschwere
auchihreIntegration in Griechenland.Et-
liche unbegleiteteMinderjährige,denen
maneine reguläre Wohnung und einen
Schulplatz zurVerfügung stellenkönne,
stünden unter Druck, in Länder wie
Deutschlandweiterzureisen,soNikas, der
sichauchzur gesundheitlichen Lageder
Jugendlichen äußerte:„Zeuxis“kümmere
sichdarum, dassalle Jugendlichen, die der
Obhut der Organisationübergeben wür-
den, die üblichen Impfungen erhielten. Da
fast nie Impfpässeexistierten,müsse da-
bei meistvon null angefangenwerden.
Tests, um Infektionen mit dem Coronavi-
rusnachzuweisen,gebe es in den Lagern
bisher nicht, fügt Nikas hinzu.

In Not:Afghanische Flüchtlingenachihrer Ankunftauf dergriechischen Insel Lesbos FotoReuters

Zurückindie „Gelbwesten“-freie Är aSark ozy


Im Wahlkampf um dasPariser RathausspieltNostalgie einegroße Rolle /VonMichaelaWiegel, Paris


AfD-Abgeordneter


verlässt Fraktion
Die AfD-Fraktionimnordrhein-west-
fälischen Landtag hat abermals ein
Mitgliedverloren. DerAbgeordnete
Nic Vogelinformierte am Dienstag
den Landtagspräsidenten über sei-
nen Austritt aus derFraktion. Der 52
JahrealteVogel istschon der vierte
Abgeordnete,den die AfD seit ihrem
erstmaligen Einzug in den Landtag
im Mai 2017verliert. Vogelwill sein
Mandat als fraktionsloserAbgeordne-
terfortführen. Bereits 2017waren
Marcus Pretzell, Alexander Langguth
undFrank Neppe ausgetreten, die
seitdem als fraktionsloseAbgeordne-
te dem Landtag angehören. Die AfD-
Fraktion besteht nun noch aus zwölf
Mitgliedern. reb.

Waffenverbotszonen


in Sachsen-Anhalt
In Sachsen-Anhalt sollen nochindie-
sem JahrWaffenverbotszonen einge-
richtetwerden. DaskündigteInnen-
ministerHolgerStahlknecht (CDU)
am DienstaginMagdeburgan. Die
Zonen solltenanOrten, die als Krimi-
nalitätsschwerpunktegelten, einge-
richtetwerden. Dieskönntezum Bei-
spiel für den MagdeburgerHassel-
bachplatz derFall sein. In denZonen
sollenverdachtsunabhängigePolizei-
kontrollen durchgeführtwerden. Hin-
tergrund is tdie hoheZahl vonStraf ta-
tenunterVerwendungvonMessern:
Im vergangenen Jahr wurden den An-
gaben zufolge873 Delikte mit Mes-
sernerfasst,davon 374 im öffentli-
chen Raum. epd

FünfJahreHaftfür


FrançoisFillongefordert
Im StrafprozessgegenFrançoisFil-
lonhat dieStaatsanwaltschaftam
Dienstageine Haftstrafevon fünf Jah-
ren, davondrei aufBewährung, für
den früheren französischen Premier-
ministergefordert. Fillonhabe aus
„Geldgier“ öffentliche Mittelverun-
treut.Das Beschäftigungsverhältnis
seiner EhefrauPenelope in derNatio-
nalversammlung sei „fiktiv undge-
spielt“gewesen. Die Staatsanwalt-
schaftsprac hsichfür eine Haftstrafe
vondreiJahren auf Bewährung fürPe-
nelopeFillon sowie eine Geldbuße in
Höhevon375 000 Eurofür das Ehe-
paar aus. mic.

AngespannteBeziehungen
Deutsche und Amerikaner haben ei-
nerUmfrag ezufolgescharfabwei-
chende Einschätzungen über die Qua-
lität desVerhältnisses der beidenver-
bündetenLänder.Das geht aus einer
Umfrag edes Forschungszentrums
Pewund derKörber-Stiftung hervor,
die inWashingtonveröffentlicht wur-
de. Während 75 Prozent der befrag-
tenAmerikaner imvergangenen Jahr
sagten, das bilateraleVerhältnis sei
gutodersehrgut,stimmtendemnur
34 Prozent der befragten Deutschen
zu. dpa

Korrektur
Die Sommerpressekonferenz, bei der
Bundeskanzlerin Angela Merkelden
Satz„Wir schaffendas“ sagte,fand
am 31.August2015 statt, und nicht
Anfang September 2015, wie es in
der Dienstagsausgabe hieß. F.A.Z.

BenjaminFerencz 100
Er hat ein Jahrhundert durchschrit-
ten, das imZeichenvonRechtlosig-
keit und ungeheurer Staatsverbre-
chen stand: BenjaminFerencz. Der
jungeAnkläger imNürnbergerEin-
satzgruppenprozess1946 hat die
Gründung des InternationalenStraf-
gerichtshofs2013 persönlich mitge-
feiert, jenesGerichts, das dieRegie-
rung derVereinigten Staatenvon
Amerika, also seinesLandes, bis heu-
te bekämpft. Heutekann er nochbe-
wusst miterleben, wie dieTatename-
rikanischer Soldaten in Afghanistan
voninternationalerStelle auf Kriegs-
verbrechen untersuchtwerden. Am


  1. März 1920 in dem transsilvani-
    schen DorfGroßhornimKreis Mara-
    mureschgeboren, siedelte dieFami-
    lie 1921 nachNew York über.Mit ei-
    nemStipendiumabsolvierte er die
    Harvard LawSchool und landete mit
    den Allierten in derNormandie. Die
    Angeklagten vonNürnberg nannte
    Ferencz „diegrausamsten Exekuto-
    reneinesTerrors, der die dunkelsten
    Seiten der menschlichen Geschichte
    schrieb“. Das Gerichtverhängte
    Mal dieTodesstrafe. Seinen inNürn-
    bergbegonnenenKampffür Gerech-
    tigkeit, aberauchgegenRache, Ver-
    geltung undNationalismus,kämpfte
    Ferencz ebensohartnäckig wiever-
    schmitzt. In Deutschland wirkteer
    nachdem Krieg an den Entschädi-
    gungsgesetzen mit.Sein Kampffür
    die Herrschaftdes Rechts is tnoch
    nicht zu Ende, aber er hat eine gute
    Saat aufgehen sehen. An diesem Mitt-
    woch wirdBenjaminFerencz 100
    Jahrealt. Mü.


Dann kam


derPutsch


Die EU,die Türkei und


der Migrationspakt


VonThomas Gutschker,


Brüssel


Wer darfkommen?


Konkurrentinnen:Anne Hidalgo undRachida Dati FotoEPA

Wichtiges inKürze


Personalien


Die Koalition will


Flüchtlingskindernaus


Griechenlandhelfen.


Über di eZahlen sind


sichBerlin undAthen


uneins.


VonHelene Bubrowski,


Berlin, und Michael


Martens, Wien


SEITE 6·MITTWOCH, 11.MÄRZ2020·NR. 60 Politik FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG

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