Frankfurter Allgemeine Zeitung - 11.03.2020

(Greg DeLong) #1
W

irklichüberraschend
kommt die bedauerliche,
aberverständlicheAbsage
der Lit.Colognenicht. Dassmitten im
Rheinland, derzeit soetwaswie das
Hubei Deutschlands, am heutigen
Mittwoch eines dergrößten Literatur-
festivals Europas mit knapphundert-
tausend Besuchernstarten würde –
das scheint unter dengegenwärtigen
Corona-Schutzmaßnahmengeradezu
undenkbar.Einige Absagenvorallem
internationalerKünstler wie AiWei-
weihatteesbereitsgegeben, zuWo-
chenbeginn wurden dannVeranstal-
tungen imKölnerDom und im WDR
storniert.Trotzdem hieltman bis zu-
letzt an dem liebevoll kuratierten, in
diesem Jahr besonders politisch ausge-
richteten Festivalfest,auchinder
Hoffnung, dassvielleicht nurVeran-
staltungen mit mehr als tausend Besu-
chernvonderEinstellungbetroffen
sein würden.Wenn man Lesungen in
Theatersälen untersage, so ließen
sichdie Festivalmachervernehmen,
müssteeigentlichdas gesamteöffentli-
chekulturelle Leben in derStadt still-
gelegt werden. Daswarvor wenigen
Tagennochein Argument, aber viel-
leicht sind wir allmählich an diesem
Punktangelangt.Dem Vernehmen
nachmassierten sichhinter denKulis-
sen zugleichdie Absagen derAuto-
ren; das für Schulklassenbesuche opti-
mierte Kinderprogramm wirdeben-
falls zum Problemgeworden sein.
Jetzt also wurde auf Empfehlungder
Kölner Oberbürgermeisterin Henriet-
te Rekerdas gesamte Programm abge-
sagt.Die Festivalleitung hebt hervor,
dassman mit Blickauf die Gesund-
heit der Besucher undTeilnehmer die
Empfehlung ohne Zögernumsetze
und sichumeine Verlegung derVeran-
staltungen bemühe. Die wirtschaftli-
chen Folgen der Entscheidungaber
sind gravierend für das privatwirt-
schaftliche, bislangohne Subventio-
nen auskommende Unternehmen
Lit.Cologne.WelcheRückzahlungen
aufgrund höherer Gewalt vielleicht
nichtgeleistetwerden müssen, sei
nochunklar,sagte Rainer Osnowski,
Mitgründer und erstmals alleiniger
Geschäftsführer der Lit.Cologne im
Gesprächmit dieserZeitung.Ein gro-
ßer Teil derKosten sei aber bereits an-
gefallen. Sollten sich vieleVerschie-
bungen in die zweite Jahreshälfteals
nicht machbar erweisen und zudem
die Eintrittsgelderzurückgezahltwer-
den müssen, hoffe man auf einen wie
auchimmergearte ten„Notfonds“ der
Stadt Köln oder des Landes NRW. An-
dernfallsstehedas Festival „vor dem
Aus“, denn dieses Minus lasse sich
mit keinerweiterenAuflagewieder
einspielen. Eswäre tatsächlichein
großerVerlustfür dieStadt und die
Kultur ,wenn dasso erfolgreiche Lese-
fest aus diesenGründen die Segel
streichen müsste. Auchfür Verlageist
die Absagenachdem Aus für die
Buchmessen in Leipzig, London und
Parisein weiterer Schlag.Esbleibt zu
hoffen, dassihnenwenigs tens die ei-
gentümlicheEntschleunigung, die
mit der Corona-Pandemieeinhergeht,
zu etwasAbsatzverhilft:Wenn wir
bald alle in Quarantäne sitzen,könn-
te neben dem Serienguckenund ein
bisschen HomeOffice dochauchdas
altertümliche, stille Lesenwieder
einegrößereRollespielen.

Aktuellsteht die Generationvon Künst-
lernund Künstlerinnen, die maßgeblich
zumSiegeszug derFotografie alsKunstbei-
getragen hat,vorder wichtigenFrage,wie
jenseitsdesVerbleibs ihrerWerkeimmu-
sealenRaum zukünfti gmit ihren Archiven
umgegangenwird. Auch dieses Material ist
schützenswert,wie der amerikanischeFoto-
graf und Theoretiker Allen Sekula schonin
den achtziger Jahren hervorhob, als er
schrieb, dasssichmit demAufzeichnen,
Sammelnund Speichernvon Daten nicht
nur Ordnungsprinzipienund damit Prozes-
se derAuswahl erkennen ließen, sondern
auchein tieferesVerstä ndnisgelebterZeit
und ihrerKultur. Die Fragenacheinem in-
stitutionalisierten Umgang mitVor-und
NachlässenvonFotografenund ihrem Ma-
terial is talso dringlich, sogar entscheidend
für die Etablierung eines umfangreichen
Wissens über die Anwendungsformen, Me-
thoden undInhalteder fotografischen Bild-
kultur unserer jüngstenVergangenheit.
Dies hat auchKulturstaatsministerin
MonikaGrütterserkannt und lud im Som-
mervergangenen Jahres zu einerPodi-
umsveranstaltung in die Akademie der
Künste in Berlin. Hier setzte sie „den sys-
tematischen Schutz des fotografischen
Kulturerbes“ auf ihreAgenda und trat für
die Gründung einer zentralen Einrich-
tung ein, die „daskünstlerische Erbe her-
ausragender deutscher Fotografinnen
und Fotografen bewahrt“, mithin „das
bildhafte Gedächtnis unserer Gesell-
schaft“. Ein Expertenteamrund um den
KuratorThomasWeski solltediesesVor-
haben mit einemKonzeptkonturieren.
Seitgesternliegen die Empfehlungen
der Kommission, der zudem dieFotohisto-
rikerinUte Eskildsen, ThomasW. Gaeht-
gens, ehemals GettyResearch Institute,
und dieFotorestauratorinKatrin Pietsch
angehören,vor. Sie warenmit Spannung
erwartet worden. Nicht nurweil derUm-
gang zur Sicherung unseres visuellenKul-
turerbes zurVerhandlungsteht, sondern
auchweil sicheine ganze Reihe weiterer

Akteureund Institutionen imVorfeld in
Stellung brachten und zumTeil konkrete
Ansprüche anmeldeten. Allenvorander
auf Initiativedes KünstlersAndreas Gur-
sky gegründete Verein zur Gründung und
Förderung eines DeutschenFotoinstituts
e.V.unter demVorsitz vonGurskysSchü-
ler MoritzWegwerth.

Die Kunst retten
Der Verein preschte inhaltlichvor,indem
die beiden Herrenineinem Interviewmit
dem MagazinSpiegel das vonMonika
Grütters angedachte Institut im eigenen
Sinneinterpretiertenund abweichendge-
rade nicht die SicherungvonArchivmate-
rialienund ihreErforschung vorsahen,
sonderndie EntwicklungvonZertifizie-
rungsverfahren, mit denen neueAbzüge
vongroßformatigenFarbfotografien mög-
lichwerde nsollen. Also ein andererAn-
satz,mit dem nicht Archivalien, sondern
das Originalwerkund seineErhaltung
oder Erneuerung im Zentrum stehen.
Dassesdem Verein zugleichgelang, das
Land Nordrhein-Westfalen vondiesem
Entwurf, den die Öffentlichkeit bis heute
nichtkennt, zu überzeugen, mutetealler-
dingsseltsam an.Undauchdassder Haus-
haltsausschussdes Deutschen Bundesta-
gesmutmaßlichanGrütters vorbei imNo-
vember 2019prompt41,5 Millionen Euro
für diesesVorhaben bewilligte, erstaunte.
Die Landesregierung NRWwollteoffen-
sichtlichFakten schaffen, begrüßtediese
Entscheidung,stellteklar:„Ortdes neuen
Institutswirddie Landeshauptstadt Düs-
seldorfsein, dazusoll einNeubauim Düs-
sel dorferGebäude- und Gartenensemble
Ehrenhof entstehen“, undkündigte zu-
dem dieKofinanzierung an
Mit diesem Schachzug wurde nicht nur
der Arbeitsprozessder vonGrüttersein-
berufenen Expertengruppe konter ka-
riert, sondernauchdie Kulturstaatsminis-
terinunter Druckgesetzt, die sich„über
diese Initiativeauchein bisschengewun-

dert“ hat. Die Situationwaralso aufgela-
den und unübersichtlich. Deutlichwurde,
dassverschiedene Akteurezielsicher an-
einandervorbeisteuerten, um Deutungs-
hoheitenrangen und darum, sichgute
Ausgangsbedingungen zu schaffen. Das
tatder Sache nicht gut.Die Dynamiken
verschoben die Debatteweg vonder in-
haltlichen hin zur nachgeordnetenFrage
des Standorts.
Denn die entscheidendeFrage, wel-
cher Idee das Institut letztlichfolgt,wel-
ches Material in das Haus eingehen soll
und welche Infrastruktur es dafür
braucht, rücktezusehends in den Hinter-
grund. Ebenso wie dieFrage, ob nicht ein
dezentral agierendes Institut, das länder-
übergreifend die Aktivitäten bereits beste-
henderfotografischer Sammlungen und
Archiveunter stützt und erweitert, aus-
reicht oder ob estatsächlich einen neuen,
eigenen Ortbraucht.
DieKommissionsmitgliederbewegten
sich also invermintem Gelände,und man
frag te sichimVorfeld,obesihnengelin-
genwürde, mit ihren Empfehlungen den
unte rschiedlichen InteressenRechnungzu
tragen, sie zusammenzuführenund voral-
lemauchwieder einengrößeren Horizont
in den Blick zu nehmen.Eine ersteDurch-
sicht desKonzepts zeigt, dassdie Kommis-
sion kluggearbeitet hat.Sie hat nicht nur
dieInfrastrukturen bestehender Häuser
präzisesondiert, sonderndarüber hinaus
auf der Grundlagevon mehr als siebzig
Gesprächen mitVertreternaus Kunstund
Wissenschaftsowie mit Museen und Archi-
venumsichtig die notwendigen, jetzt zu in-
itiierendenSchritte definiert.Sokonnte
sieihre Visionen für ein Institut fürFoto-
grafie auf einebreite, fundierte Basisstel-
len. Sie trittexplizit, das istdie wichtigste
Botschaft, für die zentrale Errichtungei-
nes Bundesinstituts ein, dass„Wissen und
Exzellenz produziert,Standards setzt, die
Zusammenarbeitfördertund so Leucht-
turmfunktion hat“. Als Hauptaufgaben
desneu zugründenden Instituts nenntdas

Konzept„die Sicherung, Bewahrung und
AufarbeitungvonVor-und Nachlässen
herausragender deutscherFotografen und
Fotografinnen“, eineAufgabe, mit der zü-
gig begonnenwerden muss, so ThomasW.
Gaethgens, bevorder Forschung die Archi-
ve verlorengehenund das intellektuelle
und materielleVermächtnis nicht mehrge-
schütztwerden kann. Außerdem,auch
dies eine wichtigeBotschaft, soll das Bun-
desinstitut die notwendigeFors chung zu
Fragen derRestaurierung undKonservie-
rung vorantreiben, deren Ergebnisse auch
anderen, bereits bestehenden Einrichtun-
genzugutekommen sollen. DieKommissi-
on hat sichalso auchden Problemlagenge-
stellt,die mit derDüsseldorferInitiative
deutlichwurden,etwa einengerege lten
Umgang mithochsensiblemMaterial.

Die Forschung präsentieren

Transparenzwarein weiteres wichtiges
Stichwort: Forschung mussöffentlich-
keitswirksam vermitteltwerden und inter-
nationaleWissenschaftler anziehen. Des-
halb sieht dieKommission nicht nur die
Konservierung undKatalogisierungvon
Vor- und Nachlässenvorund strebt durch
digitale Plattformen eine bundesweite
Vernetzung mit bereits bestehenden Insti-
tuten an, sondernsieht außerdemvor,
durch Ausstellungen, Publikationen und
Veranstaltungen Sichtbarkeit für die Ar-
beit des Hauses herzustellen. Dabei istes
der Kommission wichtig,keinesfalls in
Konkurrenz mit bestehenden Häusernzu
treten; im Gegenteil: Hier sollen inKabi-
nettausstellungen Ergebnisse aus derFor-
schungvorgestellt werden.
Man darfgespannt sein, wiediese Emp-
fehlungen in Düsseldorfankommen. Mit
der Initiativerund um Andreas Gursky
manövrierte sichder Künstler und mithin
die DüsseldorferSchule, für die ersteht,
in eine schwierigeSituation. Denn hier
klang ein Anspruchsdenken an, das kri-
tisc hhinterfragt werden musste. Auch die-
se empfindlicheStimmung hat dieKom-

mission aufgenommen undsteht daher
dafür ein, dass„für die Auswahl der
Sammlungsbestände die Leitung des Bun-
desinstituts fürFotografie unter Mitwir-
kung eines wissenschaftlichen Beirats zu-
ständig sein soll“. Dieser Beirat muss, so
möchte man hinzufügen, länderübergrei-
fend eingerichtet werden. Denn jetzt–zu-
mal dreißig Jahrenachder Wiedervereini-
gung–mussesdarumgehen, diegesamt-
deutsche Szene einzubeziehen und ent-
sprechend zuvernetzen.
Auch dieFrage,wodas Bundesinstitut
für Fotografie zukünftig seinen Ortfinden
soll, wurdeerörtert. Die Stadt Esse nhatte
bereits im Januar einenVorstoßunternom-
men undkündigtean, dasssie die Aktivitä-
ten, dievomRuhrmuseum, dem Museum
Folkwang, derFolkwangUniversität der
Künste und demHistorische nArchiv
Krupp ausgehen, nochstärker als in der
Vergangenheitzusammenführenwill. Das
klang nicht nurwieeineweiter eBewer-
bungimRennen um denStandort, son-
dernwar es auch. DieKommission nun
„sieht hier einehervorragendeKonzentra-
tionvon Einrichtungen undvorhandener
Sachkompetenz zumSchwerpunktFoto-
grafie“, und sprach sichfür denStandort
Essen,konkret für ein Grundstückauf
demWelterbecampusder ZecheZollver-
ein, aus. Mit einemStandortinNRW könn-
tendie bereitsvom Haushalt bewilligten
und vomLand inAussicht gestelltenGel-
der im Spiel bleiben.Auch aus diesem
Blickwinkelhat dieKommissionalsoklug
agiert, auchwenn sie sichvon Zwängenim
Entscheidungsfindungsprozessumden
Standortfreisprach. Grütterssieht mit
demVotum der Expertenfür denStandort
Essen eine„Vorabentscheidung“gegeben
und kündigtedie Beauftragung einer ent-
sprechenden Machbarkeitsstudiean–füg-
te dannaber hinzu, dassauch„derStand-
ortDüsseldorffür etwaigeKooperation“
nochmalsgeprüft werdensolle. Damit
steht zu befürchten, dassdas politische
Ränkespielweiter geht.
MARENLÜBBKE-TIDOW

Quit.Cologne


VonOliver Jungen

Wenn sie singt:Ich erhebe mich, so istdas aucheine Aufforderung an ihr Publikum: Madonna mit ihrem Choreographen undkünstlerischen Leiter Damien Jalet FotoRicardo Gomes

Bilder sind unser Gedächtnis


Düsseldorfoder Essen? Niemand zweifelt an derNotwendigkeit einesZentrums fürFotografie –jetzt wollen es alle haben


N

eben dengroßenTänzernund
den Musikerinnen mit ihren
Violinen,Trompetenund Celli
wirkt Madonna, 1,66 Meter,
klein. Klein wie in „klein und imposant“,
nicht wie in „klein, aber imposant“. Im-
mer mal wiederwährend der phantasti-
schen zweieinhalbStunden, die ihre seit
Septembertourende Theatershow„Ma-
dame X“, ihrePartymit portugiesischen
Fado-Musikernund kapverdischen Sänge-
rinnen, inParisdauert, tritt einer dieser
muskulösen, unglaublich guttanzenden
Männer zu Madonna, hebt sie auf und
trägt sie in seinen Armenweg, alswäre
sie leicht wie ein Kind. Sie aber wirkt wie
eineKönigin.Wieein Napoleon schreitet
sie, den Dreispitz auf denglänzenden,
blonden Locken, über die Bühne des al-
ten„GrandRex“, des legendärsten Pari-
ser Kinos undKonzertortes.
Niemand außer Madonna istineiner
langenPop-Karrieresowandelbarund
dochsosehr sie selbstgeblieben.Wiealle
ihreShows,die nur mit denenvonPrince
und Michael Jackson vergleichbar sind,
istauch„Madame X“ ein wilder Ritt, thea-
tralischer denn je. Manglaubt ihr,dasssie
sichinihrer neuenWahlheimat Lissabon
zu diesem in verschiedenen musikali-
schenKulturen umherschweifenden Al-
bum angeregt sah, dasssie durch die Be-
gegnung mit portugiesischenFado-Musi-
kern oder mit dem musikalischen Erbe
der Kolonialzeit und den Gesängen der
damaligenVersklavten inspiriertwurde,
nochmal ein Album zu machen.
So königlichsie wirkt, so empathisch
und nahbar zeigt sie sichinParis. Sie
spricht ernstzuihrem Publikum wie zu
jüngerenFreunden, dieRatgebrauchen
können und denen man die Lektüre
James Baldwins empfehlen muss. Sie
scherzt und trinkt aus der Bierflasche ei-

nes Fans. Der zweitausendfünfhundert
Plätzefassende Saaltobt.Madonna, cool
wie immer,ironisch, aber auchrührend
zugewandt,fast mütterlich, zeigt sichbe-
sorgt um dieZukunft. Einekämpferische,
politische Haltung hattesie stetsinihrer
Karriere. Die Wände zeigenFilmbilder
Demonstrierender,und sie ermutigt auch
ihrePariserFans, sichfür dieFreiheit an-
derer,besondersauchder Frauen, einzu-
setzen: „Irise“, icherhebe mich, icherhe-
be die Stimme, das singt sie mit ihremgan-
zen Ensemble im bewegendstenMoment
der Show, wenn alle am Ende in langer
Reihe durch den Mittelgang des Theaters
zumAusganggehen und Madonna die
rechtsund linksStehenden berührt.
Wiekonnteman esvergessen: Madon-
na lässt sichnicht einfachnur forttragen
mit majestätischer Geste,sie is tdie Köni-
gin desPop. Die Sanftmut und lächelnde
Ehrerbietung, mit der die Muskelpakete
die kostbarekleine Sängerinwegtragen,
istecht. IhrfabelhaftesTeam liebt sie.
DieserAbend wird ihrTourabschiedwer-
den.

Kurz bevorSonntagNachtumhalb
zwei alle den Saalverlassen, spricht sich
herum, dassdiesesKonzertdas letztefür
Pariswar.Die Höchstgrenze vonTeilneh-
mernöffentlicherVeranstaltungen istwe-
gendes Coronavirusvonbisher fünf- auf
eintausend heruntergesetztworden.
Madonna, die an diesemAbend auch
auf dieZukunftunter der Sorgenwolke
dieser weltweiten Epidemie anspielt,
musssichzudem dringendvonden Stra-
pazender Tournee erholen. Dasssie un-
terSchmerzentanzt, sagt sie frei heraus,
man sieht es auch. Ihredunklerwerdende
Stimme aber isttrotz einer Erkältung
wundervoll. Sie singt hauptsächlich
Songsvon„Madame X“. Das im Juniver-
gangenen Jahres erschienene Album ist
wie schon die legendären Alben „Music“,
„American Life“ und „Confessions on a
DanceFloor“gemeinsam mitMirwais Ah-
madzaï produziert. Auf „Madame X“
klingt ihreStimme dünner und höher als
sonst. DochBefürchtungen, sie könne
auchauf der Bühne so seltsam fremd klin-
gen, zerstreutesie vomerstenSong an.

Es warklar,dasssie livesingt.Am
schönsten, rauhestenund ungewöhnlichs-
tenklingt sie, als sie mit dem Gitarristen
GasparVarela, demUrenkel der berühm-
tenLissabonerFadosängerin Celeste Ro-
driguez, einesvonderen herzergreifen-
den Liedernanstimmt.
Aber auchbei Songs wie „Crazy“ oder
„Come Alive“ klingt sie kraftvoll und wie
immer.Der Sound im „GrandRex“ist au-
ßergewöhnlich.Über den sattesten, wum-
merndstenBeats schweben die Soulstim-
men ihrer unglaublichen Backgroundsän-
gerinnen und klar und schön ihreeigene.
WerdiesesKonzertmischte, mussein
Gott sein.Über die mit atemberaubend
steilen Showtreppen undWolkenkratzer-
bildernzunächstNew York beschwören-
de Bühnetoben um die immer wieder an
einer Schreibmaschine ihreMantren tip-
pende Madonna alle möglichenmythi-
schen Gestalten derPopinszenierungskul-
tur:Detektive,Polizisten, verführerische
Tänzerinnen inTrenchcoats und später
eine lateinamerikanischanmutende Cha-
Cha-Chatanzende Gesellschaftinden far-

benfrohstenKostümen („Medellín“).
Leuchtend schön sind auchdie Röckeder
kapverdischen Chorsängerinnen, die für
das Lied „Batuka“ hereintanzen.Aber
den Atemhalten alle an,wenn Madonna
„Frozen“ singt, das ihrkünstlerischer Be-
rate rDamien Jaletchoreographiertund
inszenierthat, neben anderen Songs. In
„Frozen“ lässt er Filmbilder einertanzen-
den jungenFrau überlebensgroßprojizie-
ren, undganz klein wirkt die dahinter auf
der Bühne singende Madonna–die junge
Tänzerin aber istihre Tochter Lourdes.
Stellt sichMadonna in „Killerswho are
partying“ singend an die Seiteder Ar-
men, der sexuellen Minderheiten odergar
einesganzenKontinents, Afrika, so er-
weistsie in „Medellín“ mit demkolumbia-
nischen Sänger Maluma demRausch, der
Erinnerung an die eigene,verlängerte Ju-
gend Reverenz und umschmeichelt mit
leichtverschlepptemGesang die hitzige,
erotische Energie ihres Gesangspartners.
Madonna istimmer noch Madonna, die
erotischste Popsängerin desUniversums,
und sie wirdesimmer sein.

Die


starke


zarte


Königin


Das Oberverwaltungsgericht für das
LandNordrhein-Westfa len hatdie Be-
schwerde derStadt Gelsenkirchen ge-
genden Beschluss des Verwaltungsge-
richts Gelsenkirchen zurückgewiesen,
wonachfür die Aufstellung einer Le-
nin-Statuevordem denkmalgeschütz-
tenGebäude der Parteizentrale der
Marxistisch-Leninistischen Partei
Deutschlands (MLPD)keine denkmal-
rech tliche Erlaubnis erforderlic hist.
Nach Feststellung der Richter in Müns-
terwirddas 2,15 Meterhohe Stand-
bild das Erscheinungsbilddes dreige-
schossigen ehemaligen Sparkassen-
gebäudes offensichtlichnicht beein-
trächtigen. Die negativeBewertung
der Person Lenins durchdie Stadtste-
he inkeiner nachvollziehbarenVer-
bindung zurAussagedes Baudenk-
mals. Da das Denkmalschutzgesetz
nicht den Zweckverfolge, das jeweili-
ge Denkmal in denFokusder Auf-
merksamkeit eines zufälligenBetrach-
ters zu rücken, biete es keine Handha-
be, die nähereUmgebungvonallem
freizuhalten,wasseinerseits Aufmerk-
samkeitwecken könnte. Die Entschei-
dung istunanfechtbar. pba.

Einletzter Auftritt


in Paris, eh edas


Konzertverbotgreift:


Madonna triumphiert


mit„MadameX“.


Von Wiebke Hüster, Paris


Leninkommt


OVGerlaubt Denkmal


FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton MITTWOCH,11. MÄRZ 2020·NR.60·SEITE 9

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