FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton FREITAG,13. MÄRZ2020·NR.62·SEITE 11
Kindbleiben—was vieleKünstle rzeitle-
bensversuchen, istihm einLebenlangge-
lungen. Günther Ueckerschlug wieHuck-
leberry Finn Nägelindie Geschichteder
Kunstein, um sie zumHalten zu bringen.
Bubenhaftunschuldig machteerselbst
Chronos, den gnadenlosen Herrn der
Zeit,schwindelig,indem er ihn in seiner
Installation „Sandmühle“von 1968 im
Ruhr-MuseumBochumendlos im Kreis
laufenließ: Wieein meditativer Aus-
gleichsprozesszuden Eruptionen des Jah-
res1968erzeugtdortein automatisierter
Zen-Gärtner mit nagelartigen Roboter-
arm-Rechenzinkenauf einemkreisrun-
den Sandbett mit jederUmdrehungneue
Texturen; dieLeinwanddes Malersist
durch Sand ersetzt,der zufällige undunbe-
rechenbareFallder Sandkörner erzeugt
ein ums andere Mal neue abstrakteForma-
tionen. Die Bochumer Sandmühle isteine
der schönsten, zugleichtiefsten Arbeiten
Ueckers,ist es dochkein Zufall, dass sie
im Ruhr-Museumvor sich hinmalocht
unddabeimit jederRunde im Joch die
Schönheit einer Minimalformhervor-
bringt. So is tUecker, 1930 im mecklenbur-
gischen Wendorfgeborenund auf der
HalbinselWustrowaufgewachsen, selbst
ein Malocherder Kunst, der,mit einem
KohlebergwerkrobusterIdee nimKopf
ausgestattet,mit einfachsten Mitteln und
armseligen Alltagsmaterialien wie Zim-
mermannsnägeln für jedermann verständ-
licheFormen erarbeitet.
DieNagelbilder,mit denen ervorallem
assoziiert wird,erfand er bereits 1956
nochwährend desStudiums an derKunst-
akademieDüsseldorf bei seinemVorbild
OttoPankok. In jedemMuseumvonRang
wirdman diesen oftinSpiral- oder Kreis-
form wogendenNagelfeldernbegegnen.
Aber auchinAlltagsgegenstände wieMö-
bel, Musikinstrumente oderFernseher
schlug Uecker seine Signatur:„Da muss
ein Nagelreingeschlagenwerden,damit
da Widerstand erzeugt wird, so dass
Kunsteindringenkann in die Banalität
vonLeben“, erklärteereinmalzuden oft
surrealen Form-Inventionen und Interven-
tionen,wenn eretwa die Kuppeeines
Schuhswie einenIgelmit Nägeln spickte
und so in dieNähe vonMeret Oppen-
heimsPelztasse als entfunktionalisierten
Gebrauchsgegenstand rückte,der so zum
Stachel im Auge desBetrachters wird. Da-
bei weistseineKunstimmer auch einen
kräftigen Schussknäckebrottroc kenen
mecklenburgischen Humor auf.Bester Be-
leg dafür istUeckersArbeit „Und nochein
Tischbein“ in einem süddeutschen Muse-
um:Indas gedrechselteund tailliertwir-
kendeHolzbein einesklassizistischen Ti-
sche shat er amKopf einenseiner mächti-
genZimmermannsnägel eingeschlagen.
Wieein afrikanischesNagelvotiv er wacht
das Möbelfragment zum Leben undspielt
mit seinemNamen augenzwinkernd auf
die weitverzweigteMalerfamilieaus Kas-
sel an.Mit einemMal steht in der Epo-
chenabfolgedes Museumswie in dem
Film „Zurückindie Zukunft“ mit einer
Zeitmaschineversetzt einweiteres „ech-
tes“ Tischbein-Kunstwerk, nunaus der
Jetztzeit.Das sollteindes nicht al sKalau-
er missverstandenwerden, vielmehr als
minimal-invasiverund deshalb umsointel-
ligenterer Eingriffder zeitgenössischen
Kunst,mit derUeckerdie historischen
undallzu menschlichen Kanonisierungen
und ZuschreibungenvonKunstgeschicht-
lernlustvoll auf die Schippenahm.
Wichtig warihm stets, dassessich auch
bei denNagelbildern mitihren sorgfältig
parallelisierten und wieAckerfurchen in
die Scholle derkalkiggrundiertenLein-
wand eingepflügtenNagelreihen immer
nochumLandschaftsmalerei handelte.
Seine Bildersteheninder Traditionder
Romantikvorallem Caspar DavidFried-
richs, undsoüberrascht es nicht, dass
Ueckerinden frühen siebzigerJahren
dembewunderten Grei fswalder Lands-
mannmit seiner„Vier-Tageszeiten-Serie“
eineexpliziteHommage widmete.
Noch ein älteres,bisher nicht gesehe-
nesMaler vorbildscheint aberwichtig:
AufAltdorfers „Alexanderschlacht“ in
München unddem „Sieg Karlsüber die
Awaren “inNürnbergbilden dieTausen-
denvonmetallischenLanzenspitzenje-
weils ein ähnliches Licht-Mikado wie auf
Ueckers Bildern. Dassdieses impressionis-
tische Wogendes Lichts auf seinenkalk-
weiß geschlämmten Nagelfeldern über
den schwarzen Metallstif teneine wesentli-
cheRolle spielte,kann jeder erkennen,
der ein solches Bild imMuseum,etwa
demvon Schwerin, das ihmaktuelldie gro-
ße Geburtstagsretrospektiveausrichtet,
zu zwei unterschiedlichenTageszeiten auf-
sucht.Seit Uecker 1961 dervonHeinz
Mackund OttoPienegegründeten Künst-
lergruppeZERObeitrat,wandt eersich
der kinetischenKunstund damit insbeson-
deredem Licht alsneuem Arbeitsmaterial
jedenfalls noch vielstärker zu.
Im November2017 sorgteUeckerauf
demKunstmarktfür Furore,weil seinNa-
gelbild „Both“ von2011 einenRekord-
preisvon2,2 Millionen Euroerzielteund
damit die höchsten Auktionsergebnisse
des Jahresanführte.Gewidmetist das
Werk seinemMalerfreundRomanOpal-
ka,der ähnlichmanischZahlen in seine
Leinwände eintrug wieerNägel.Uecker
isteben davonüberzeugt, dassgroße
Kunstnur imkollegialenAustauschentste-
hen kann.Heutefeiertder unermüdliche
Nagelfur chenzieherseinen neunzigsten
Geburtstag. STEFANTRINKS
W
enn die Geschichtestimmt,
begann die Karrieredes
FotografenUmbo mit ei-
nem Zusammenbruch. Am
- Dezember 1926verliertOttoUmbehr
auf derToilett edes Romanischen Cafés
gegenüber der BerlinerGedächtniskir-
chedas Bewusstsein. Ein Krankenwagen
transportiertihn zurRettungswache im
nahen BahnhofZoo. Dortholt Paul Citro-
en, ein StudienkollegeUmbehrsaus des-
sen „Bauhaus“-Zeit,den wohnungslosen
und durchMangelernährunggeschwäch-
tenFreund ab undbringt ihn in seinem
Elternhaus unter.
Citroen,Sohn eines holländisch-jüdi-
schenPelzhändlers, istder Mittelpunkt ei-
nes Freundeskreises avantgardistischer
Künstler und Mäzene,zudem neben
Paul Klee und HerwarthWalden auchdie
SchriftstellerinRuth Landshoffund die
Designerin LoreLeudesdorff gehören.
Mit der altenReisekameravon Citroens
VatermachtUmbehrPorträtaufnahmen
vonLandshoff, Leudesdorff,Citroen und
sichselbst. Sein Gastgeberrichtetihm
eine Dunkelkammer ein. Im Juni 1927 er-
scheinenFotos vonUmbehr in zwei Berli-
ner Zeitschriften. Ein halbes Jahr später
beziehterein A telier inCharlottenburg.
Als Künstler nennt er sichUmbo.
Wenn man dieFotos aus jenemFrüh-
ling vorneunzig Jahreninder Umbo-Re-
trospektiveder Berlinischen Galeriebe-
trachtet,möchte man nicht glauben, dass
sie voneinem Autodidaktenstammen.
Aber in derFotografie, wie in derKunst
der Moderne überhaupt,wareine akade-
mische Ausbildung nie dieVorausset-
zung ästhetischer Durchbrüche. BeiUm-
bo sieht man, wie ein Außenseiterden
Formenkanon seinerZeit aus den An-
geln hebt.Seineextremen Großaufnah-
men, mancheverschwommen und düs-
ter, andereüberscharfmit beißenden
Kontrasten(für die erAgfa-Röntgenfilm-
platten benutzte), übertragen dieAus-
druc ksmöglichkeiten des Stummfilms ins
fotografische Medium.Besondersinder
quecksilbrigen Ruth Landshofffindet
UmbodieidealeSpielfigurfürseineEr-
kundungen. Er zeigt sie als Phantom mit
Augenmaskeoder Str ohhut,als lyrische
Schönheit oder dämonisches Spiegelbild,
als Weibchen mitKatze oderVerführerin
mit Rauchermundstück.
Dabei fußt diese Experimentalfotogra-
fieauf einem Anachronismus. DieKame-
ra, mitder Umbos erste Aufnahmen ent-
standen,kamaus dem Besitz seinesVa-
ters und stammtevon 1900; ihre übergro-
ßenFotoplatten wurden durch Abneh-
men desVerschlussdeckels und mit Hilfe
eines brennenden Magnesiumstreifens
belichtet. DieAvantgardeverbandsich
mit derTechnikvonvorgestern.
Überhauptfällt es schwer,Umbo ei-
nen festen Platz in derFotografiege-
schichte zuzuweisen. Er iststets Hand-
werker undFotokünstler,Amateur und
Prof izugleich. Zwei Jahrenachseinem
Debütfotografierterden Clown Grock
in der Garderobe wie ein Schülervon
Eric hSalomon oderFrieda Riess. Im
Jahr 1931 entsteht eineSerie vonProben-
porträts („Umbo knipstArtisten“)imStil
einer Sozialreportage,wie sie durch
Brechts „KuhleWampe“ auch im Kinoge-
radehoffähig wird. Dazwischen, Ende
der zwanziger,Anfang der dreißigerJah-
re,macht der raschzum Markenzeichen
werdendeFotografviele der Bilder, die
seinenNachruhm begründen,darunter
die „Unheimliche Straße“mit ihren
Schattengestalten und die phantasmago-
rische „Nacht in der Kleinstadt“, das
„Strandleben“ mit seinen regellosinei-
nanderverschlungenenPaaren im Sand
oder der „Spielhof eines Kindergartens“
in einem BerlinerArbeiterviertel.
Allengemeinsam istder Blickvon
oben auf eineWelt, die sichden geläufi-
genund derzeitwieder kursierenden
Deutungsmustern entzieht.Die Weima-
rerRepublikist bei Umbo Armenhaus
und Idyll, Albtraumund surrealerTag-
traum zugleich. Sie trotzt allenGenerali-
sierungen, so wie auchUmbos Leben
auf keinen klarenNenner zu bringen ist.
Als sein Arbeitgeber SimonGuttmann,
für dessenAgenturDephoterseit 1928
gearbeitet hat, nachder Machtübernah-
me derNationalsozialisten emigrieren
muss, passt sichUmbo der politischen
Lagean, erfotografiertdeutsche Dich-
ter, französischeBallerinen, Bauern-
mädchenimArbeitslager,eine Hitler-
Büste und einen Ritterkreuzträger.Aber
er lässt in seinemAtelier auchkommu-
nistische Flugblätter drucken, bildet in-
offiziell eine Jüdinzur Fotografin aus
und unterhält einNetzwerkantifaschisti-
scher Bekanntschaften.
Als er 1935vonder AEG den Auftrag
erhält, eine „Himmelskamera“ mit
360-Grad-Linse zurWetterbeobachtung
(und zur Fliegerab wehr) zu entwickeln,
fotografierterdamit nicht den Himmel,
sonderndas irdischeLeben: einPaar im
Wald, eineWeihnachtsszene, den ausge-
branntenReichstagimEisengitter der
Siegessäule, die Gedächtniskircheim
Lichterglanz,entrückt und unheimlich.
Die Wirklichkeitsteht beiUmbo immer
ein paarZentimeternebensich, so dass
sie nochnicht fremd, aber auchnicht
mehrvertraut wirkt.Sie flackert im Blick
eines spielerischZweifelnden.Über Um-
bos Militärdienstals Fahrer in Holland in
den letzten Kriegsjahren istnichts be-
kannt.Er musssichsehr tiefgeduckt ha-
ben,um der Aufmerksamkeit desRe-
gimes zu entgehen.
Die zweihundertFotografien, die in
Berlin zu sehen sind, bilden denRest ei-
nes verlorenen Lebenswerks.ImAugust
1943 wirdUmbos Atelier durch Brand-
bomben zerstört. Mehr als zehntausend
Schwarzweiß- undTausendeFarbnegati-
ve,Abzüge, Vergrößerungen undZei-
tungsartikelverbrennen. DerFotograf,
der nachKriegsende zu seinerFrau nach
Hannovergeht, erlebt dieStundeNull
als Totalverlust. Mit einergeschenkten
Leica macht er Hochzeits- undFamilien-
fotos. Ende 1945verlierterbei Renovie-
rungsarbeiten in seiner Wohnung ein
Auge.DreiJahrespäterfotografierter
ein GlasaugeamRand einesWaschbe-
ckens. Es istsein eigenes.
Durch die Vermittlung Guttmanns
kann Umbo von1950 an wieder als Maga-
zinfotograf arbeiten,vorallem für die
„PicturePost“, die das amerikanische Pu-
blikum mit Bildgeschichten aus Deutsch-
landversorgt. DieReportagenaus der
Trümmerstadt Berlin,vonder verwüste-
tenInsel Helgoland, aus dem britischen
Aufnahmelager Bohldamm, wo er ein
Flüchtlingskind porträtiert, undvonei-
nem Hungerkünstlerim FrankfurterZoo
nehmen in derAusstellung der Berlini-
schen Galerie breitenRaum ein, aber in
Umbos Werk sind sie nur eineFußnote.
Vondem Geisterblick,der die Schatten
der Dingebeschwor,ist in solchen Auf-
tragsarbeitennichts mehr zu sehen. Da-
für spürtman in den Aufnahmenaus
Amerika,die 1952 imRahmen einesRei-
sestipendiumsentstanden, einen für
Umbo ungewohnten Wirklichkeitshun-
ger, ein sachlichesStaunen, das an Be-
wunderunggrenzt. Aber gerade dieseFo-
tosmarkieren das Ende seinesBerufsle-
bens.Guttmannlehntsiealsunmodern
ab, und dieFirmaMannesmann, für die
Umbo Industrieanlagen aufgenommen
hat, nimmtihm nurwenigeBilder ab.
Danach fasst OttoUmbehr alsFoto-
graf in Deutschland nicht mehrFuß. Bis
zu seinerVerrentung im Jahr 1971 arbei-
teterals Dozent undFachlehrer für Gra-
fikund Werken in Hannoverund Bad Pyr-
mont.Der Mann,der seinekargeRente
an derKasseder Kestnergesellschaftauf-
bessert, erlebt noch, wie seinWerk in
Ausstellungen inNewYork, London und
Berlinwiederentdeckt wird.Ein Fernseh-
porträt des WDR,das auf einem Monitor
läuft, ze igt ihn alskauzigen, sanftmelan-
cholischen Greis.Umbo stirbt 1980 mit
achtundsiebzig Jahren.Wenn man durch
die BerlinischeGalerieläuft, wünschte
man sich, er hättewenigstens den Mauer-
fall nocherlebt.Aber dieses Leben hat so
viele Hoffnungen enttäuscht, dassman
kaum weiß, wo man mit demWünschen
anfangen soll. ANDREASKILB
Umbo.Fotograf.Berlinische Galerie, bis 25.
Mai. DerKatalog kostet 48 Euro.
Der Ideenhammer hat die Welt als Nagel
MalochereinerMalerei mitEisen: DemKünstler GüntherUecker zumneunzigstenGeburtstag
Umbo: „Pantoffeln“, 1928/29 FotoPhyllis Umbehr/Galerie Kicken Berlin/VG Bild-Kunst, Bonn 2020
Im Jahr2014gingeslos. WarBonn mit
Denkmälern vonLudwigvan Beethoven
nichtreichlicheingedeckt? DerKompo-
niststeht auf demMünsterplatz, sitzt in
der Rheinaue und blicktvorder Beethoven-
halleinderen ungewisse Zukunft. Trotz-
dem wurde am AltenZoll, in bester Rhein-
lage nahe derUniversität, der doppelköpfi-
ge „Beethoven“ vonMarkusLüpertz ent-
hüllt. Dassauchein Lüpertz-Denkmal in
Bonn nichtsNeueswar, weil de rMeister
sichvor demPost- Towermit seinem „Mer-
curius“ hatte verewigen dürfen, wirdin
denAugender Auftraggeber ein Argu-
ment für denAuftraggewesen sein. Nichts
istsoerfolgreichwie derErfolg.
So begann das „Kunstprojekt Bonn“. In
der Folgezeit durften weiter eErfolgsbild-
hauerSkulpturen auföffentlichen Plätzen
aufstellen:TonyCragg,BernarVenet, Ste-
phan Balkenhol.Der fünfte Streichist be-
schlosseneSache: An derEckeAmHof/
Am Neutor ,zwischenUniversität und
Münster, wirdeine WitzfigurvonErwin
Wurmfestgeschraubt, „Walking Bag“, eine
Handtasche aufStelzen, vier Meterhoch,
orange. Das„Kunstprojekt Bonn“ist kein
Projekt derStadt Bonn.Wiekam es dazu,
dassdie sehr auffälligenKunstwerkean
prominenten Ortenplaziertwerdenkonn-
ten? Walter Smerling, derVorsitzende des
Vereins, der das Projekt erdacht hat,steu-
ertund finanziert, erklärte es jetzt beiei-
nerPodiumsdiskussion zurFrage„Was
darfdie KunstimöffentlichenRaum?“so:
„Wir habenVorschläge unterbreitet.“ Man
darfergänzen:Vorschläge,welche die
Stadt nicht ablehnenkonnte.
Der 1986vonSmerlinginBonn gegrün-
dete Verein mit demNamenStiftung für
Kunstund Kultur arbeiteteinden Anfangs-
jahren eng mit dem BonnerKunstmuseum
zusammen und betreibt seit 1999 das Muse-
um Küppersmühle in Duisburg, als dessen
Direktor Smerlingfirmiert. Die Werkevon
Lüpertz undKollegen sollenein„urbanes
Museum“ ergeben. Bis 2030 plant derVer-
ein ein neuesWerk proJahr.Die Auswahl
nicht nur derKünstler, sondernauchder
Aufstellungsorte behältersichvor.Bei der
DiskussionimContra-Kreis-Theater,ei-
nemfensterlosenKellertheater, vordessen
TürWurmsTaschenspielereistehen wird,
gabein Zuhörer zu bedenken, dass Kunst
auchöffentlichenRaum nimmt:Für
Craggs sechs Meterhohe Skulptur „Mean
Average“ auf demRemigiusplatz musste
ein Brunnenweichen.Es sprichtvielda-
für,dassSmerling sein Projekt der Okkupa-
tion desStadtraums durch denprivaten
Geschmack wie geplantwirddurchziehen
können.Durch professionelle Bearbeitung
der Öffentlichkeit haterdie Stadtverwal-
tungineine Defensivemanövrie rt,aus der
sie nurschwerwieder herausfinden wird.
Smerling wies denVorwurfzurück, der
Verein wolle etwasdiktieren.Man habe
dochbloßVorschlägegemacht,welche die
zuständigenGremien angenommenhät-
ten. Dochals diestädtischeKunstkommis-
sionim März2017 um die Einreichung ei-
nes ModellsvonBalkenhols „Hommage
an August Macke“bat,sah Smerling schon
dadurch „dengesamtenProzess infragege-
stellt“.Die Macke-Figur stehtheuteim
Hofgarten. Denim vergangenenJahrvom
StadtratgefasstenBeschluss, einenKata-
log geeigneterOrtezuerarbeiten, be werte-
te Smerling als Misstrauensvotum gegen
die Künstler.
In diesem Sinnenannte es Balkenhol
auf demPodium„schlecht, wenn dasWort
Kriterien aufkommt“.AuchandereRed-
ner wie derkatholischeStadtdechant Wolf-
gang Picken unterstütztenSmerlings Li-
nie,die vonseinemVerein beanspruchte,
umfassende Dispositionsfreiheit alsAus-
flussder Kunstfreiheit zurechtfertigen.
DassStephanBerg, derDirektor desKunst-
museums, für den Übergang zu einem
Wettbewerbsverfahren mit Juryplädierte,
trug ihm denVorwurfder Gängelungder
„Zivilgesellschaft“ ein. Birgit Schneider-
Bönninger,die seit einem Jahr amtierende
Kulturdezernentin, sprach sichfür ein
„duales System“ öffentlicher und privater
Aufträge aus und beschwor die städtische
HandlungsmachtindefensivenWendun-
gen: „Wir haben dieStiftung mit ihrenVi-
sionen, aberwir sind ja auchdie Stadt.“
Bei derAufstellungder Skulptur von
Cragg sagteder damaligeOberbürgermeis-
terJürgenNimptsch: „HerrSmerling,wir
haben in Bonn nochweitere Plätze.“ Der
damit ausgesprochenen Einladung istder
Angesprochenegefolgt.
In jeder Bewilligungsrunde des „Kunst-
projekts“ lautete das entscheidende Argu-
ment, dassBonn dieKunstgeschenkt be-
komme. Dabei handeltessichgar nicht
um Geschenke,sondernum„Leihgaben“
für zehn Jahre–obwohl derVerein behaup-
tet, dassJahr für Jahr„ein bleibendes
Werk“entsteht.Der Verein kann dieArbei-
tenam„urbanen Museum“jederzeit ein-
stellen und wirddann derStadt di eSchuld
an der neuen Investitionsruinegeben. Je
näher dasJahr2024 kommt,desto weniger
wirdesdes Hinweises bedürfen, dass Leih-
gaben auchwieder abgezogenwerden kön-
nen. PATRICKBAHNERS
Zwischen SchattenundTrümmern
DasGenie aus der
Nische:Die Berlinis che
Galerie zeigt das
Lebenswerk des
Fotografen Umbo.
EinIc hausNägeln,daszujederTageszeitandersaussieht:GüntherUeckers „Selbst-
porträt“ aus dem Jahr 1963. Fotodpa/VGBild-Kunst, Bonn 2020
Die Segregation in Marokkosei ein häufig
vergessenesKapitel der französischen Ge-
schichte, sagteLeïla Slimani bei derVor-
stellung ihres neuenRomans „Le pays des
autres“ inParis. Wenn man ihr zuhörte an
diesemAbend, zu dem trotzViruswar-
nung so viele Lesergekommenwaren,
dassesstickig wurde in der Buchhandlung
an der Place de Clichy,entfaltetesicheine
Sogwirkung. Es sei ihr „auchdarumgegan-
gen, dasgemeinsame Schicksal vonFrau-
en undKolonisiertendarzustellen“,soSli-
mani,ineinem dieser Sätze, die sie aus-
spricht wie jemand, der ein Zielvorsich
sieht:melodiös, schnell,präzise ,ohnePau-
sen. Sätze wie diesen hier: „DerKolonialis-
muswarnicht nur ein ökonomisches und
politischesUnternehmen, sondernauch
ein sexuelles.“
„Das Land der anderen“ –sowäreder Ti-
telvon SlimanisRomantrilogi ezuüberset-
zen –führt diedamitverknüpftenRealitä-
teneindrucksvoll vor. Der ersteBand ist
dieserTage in Frankreich erschienen. Seit
ihrem Prix Goncourthat si ch fürdie in Ma-
rokkogeborene Autorinviel veränder t: Sie
zähltnun zu denwichtigsten undmeistgele-
senenAutorenFrankreichs. „Chanson dou-
ce“(deutsch „Dann schlaf auch Du“) hat
sich allei ninder französischenFassung
mehrals eine Million Malverkauftund ist
prominentverfilmt worden. Auch diePoli-
tikwurde aufmerksam:Slimani wurde zur
offiziellen Botschafterin derFrankopho-
nie ernannt,ihr Wort als öffentlicheIntel-
lektuellehat Gewicht.Der 2017 erschiene-
ne Interviewband „Sexeetmensonges“
(„Sex bzw. Geschlecht undLügen“), in
demsie mit marokkanischenFrauen über
Sexualitätspricht,fand weiteBeachtung.
„Le pays des autres“ schreibt sichdieser
Linieein. Spieltendie vorigenRomane in
Parisund wiesen einreduziertes Figuren-
ensemble auf,wagt sichSlimani nun an ei-
nenStoff,der epische Breiteverlangt:
EineFamiliensaga, die die marokkanische
GeschichteindreiAbschnittenvonjeweils
zehn Jahren (1945 bis 1955,1969 bis 1979
sowie 2005 bis2015)erfasst.Dererste
Band istein voller Erfolg, nicht nur im
Buchhandel. Er erzähltvon Mathilde und
Amine,einerElsässerin undeinem marok-
kanischen Offizier,die kurz nachdem
Krieg heiratenund sichinder Nähe von
Meknès niederlassen. IhreGeschichteori-
entiertsichander BiographievonSlima-
nis Großeltern. Im Land der anderenle-
ben beide: Nichtnur dieFranzösin, die
sichbald damit abfinden muss, dassviele
der ihr absurderscheinendenRegeln hier
für Männer undFrauen in unterschiedli-
cher Weise gelten.Auch Amine,der von
den Besatzern„Mohammed“ genannt
oder herablassendgeduzt wird.Welchen
Druckdies auf eine Ehe ausübt, undwas
es für eineFamilie bedeutet,ineiner revo-
lutionären Situationkeinem derbeiden La-
geranzugehören: Slimani schildertesauf
eine Weise, dassman das Buchkaum
mehr aus der Hand legen will.
Das liegtwohl auchander Form dieses
Romans,ander Vielzahl einfühlsamer und
subtilarrangierterInnensichten. Etwadie-
ser hier:Amine, der im ZweitenWeltkrieg
in der französischen Armeegekämpft hat,
geht im europäischenViertelvon Meknès
spazieren. Er hältsichfür einigermaßen li-
beral, wirft einen interessiertenBlickauf
die Unterwäsche, die in denVitrinen aus-
gestellt ist. Dochals er im Schaufensterei-
nes Fotografen einBild entdeckt, das seine
SchwesterSelma zeigt,Arm in Armmit ih-
remfranzösischen Liebhaber,kipptdie Of-
fenheit inAbwehr.Wäredies derRoman
einerwenigerreifen Schriftstellerin:Wir
würdenvonaußen auf die Szene blicken.
Hier erleben wir den Moment aus Amines
Sicht, in seinerganzenverstörendenKraft:
Wirerfahren, wie es sichanfühlt,wenn
der Ärgersichschlagartig ausbreitet,wenn
Scham und Angstden Körper durchfah-
ren, als bekäme man einen Schlag in den
Bauchversetzt.Wie Amines ohnehin
schonwackli ge Männlichkeit ins Schwan-
kengerät :Als sei seine Schwesternackt
ausgestellt, vorden Augender Passanten,
und er müsstesie mit seinemKörper vor
deren Blicken schützen.
In verdicht eter Form enthält die Szene
alles,wovon diesergroße Roman erzählt.
Die MachtverhältnissezwischenKolonisa-
toren undKolonisierten, dasFreiheitsbe-
dürfnis einerjungenFrau, derenKörper
der Kontrolle älterer Männer untersteht,
die städtebauliche Segregation.Unddas
gesellschaftlicheKlima der Scham in ei-
nem Marokko, das zu Beginn der fünfziger
JahrezwischenTraditionund westlicher
Moderne schwebt,kurz vorder Unabhän-
gigkeit.Dassder Roman dennochnie zur
politischen Lektionwird, liegt amReich-
tum seinerPerspektiven. In ihnen wirddie
jeweils andereinihrenVerkürzungen sicht-
bar.Und so dürften die meistenLeser an
diesemAbend trotzallem mit einem hoff-
nungsvollen Gefühl nachHausegegangen
sein: Gegen diestatische Spielartnationa-
ler oder identitätspolitischerAbgrenzung
setz tSlimani die einfühlendeKunstdes
Romans.Der er steBand ihrerTrilogie soll
im Frühjahr 2021 bei Luchterhand auf
Deutsch erscheinen. Man darfsichfreuen.
Geschenke fallen
unte rdie Kunstfreiheit
OccupyBonn: EinVerein erobertden Stadtraum
Der Kolonialismus war
eins exuellesUnternehmen
Leïla Slimanis neuerRoman /VonJanKnobloch,Paris