Frankfurter Allgemeine Zeitung - 13.03.2020

(avery) #1

SEITE 16·FREITAG,13. MÄRZ2020·NR.62 Menschen und Wirtschaft FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


A


bund an läuftein Pas-
sant an den großen
Fensterscheiben vorbei,
starrt hinein, alskönnte
er nichtglauben,waser
da sieht. Schaut auf
Bernd, alskönne er nichtglauben,wener
da sieht.Berndstehtinseinem Sammelsu-
rium ausKörben, Kistenund Waren–
und wartet.Andem Regalhinter ihm hän-
genein Stoffherz, eine Plüschtulpe und
massenweise Notizzettel, all dasgehört
zu seinemFundus.Undnaja, eben seine
Ware.GuteWare, dasweiß Bernd. Zwei
Stunden dauertesnoch, dannkommt
eine Besuchergruppe, um sichdas hier an-
zuschauen.Vielleicht erst mal eine Ziga-
rette, sagt er.Und: „Willstaucheine?“
Das Sammelsurium istBerndsReich,
ein LebensmittelgeschäftimHamburger
Stadtteil Altona. In derNähe des Bahnho-
feswaltet und schalteterüber seinReich,
seit vierzig Jahren. In seinemTerritorium
sammeln sichinhölzernenRegalen die
Dosen und Gläser,auf dem Boden liegen
StapelvonToilettenpapier und in der
Kühlthekereihten sichWurstaufschnitt
in fehlender Ordnung aneinander.Mit vol-
lem Namen heißt Bernd eigentlichBernd
Heiser,doch ausNachnamen odergarSie-
zen macht sichBernd nicht viel.Warum
auch? Berndkenne ja schließlichseine
Kunden, manche seit Jahrzehnten.
Am 3. März1980 eröffnete Bernd das
„Fruchthaus Heiser“, vier Jahrezuvor
sang Udo Jürgens:


ImEinkaufs-Centerund Discount,
da binich immerschlechtgelaunt.
Imendlosgroßen Supermarkt,
da drohtmirgleichein Herzinfarkt.

Aufgut 75 Quadratmetern verkauft
Bernd alles,wasesseiner Meinung nach
zum Leben braucht.Für ihn heißt das: auf-
gebackene Weizenbrötchen, achtNudel-
packungenvonBarilla, diverse Dosensup-
pen, einenKorb mit Bananen, zwei mit Zi-
tronen–und natürlichKrabbensalat, ist
ja schließlichHamburg.UndBernd sagt:
„Was wir nicht haben, daskönnen wir
euchbesorgen. Waswir nicht besorgen
können, das braucht ihr auchnicht.“
Bernd führteinen Lebensmittelladen,
den es so heuteeigentlichgar nicht mehr
geben dürfte. Zumindestspricht allesge-
genihn, so wie das Ladensterben oder
Aussagen der Experten, die kleine Le-
bensmittelgeschäfte längst für Geschich-
te halten. EinenTante-Emma-Laden in
der Großstadt? ReinsterWahnsinn,könn-
te man meinen.„Wenn ichdas nicht mit
Herzblut machen würd, dannkönnt ich
dat auchlassen“, sagt Bernd und zieht an
seiner Zigarette.
Bernds Geschäfterzählt voneiner Zeit
im deutschen Handel, als es neben den
großen Discounternund Supermärkten
nochanderegebenkonnte.Fast alle sind
verschwunden.
Warumsind sieweg? Größenvorteile,
könnteman meinen. Im Jahr 2015 besa-
ßen die vier LebensmittelhändlerRewe,
Edeka, Aldi, Lidl eine Marktmachtvon
Prozent.Tendenzsteigend. KleinereGe-
schäfte gibt es nur dort,wo die vier Gro-
ßen nochnicht ihrRevier markiertha-
ben, sprich:kaum noch. Häufig wurde die
Renaissance der Kleinen prophezeit,ge-
stimmt hat das bisher nochnie. Während
es im Jahr 2010 nochknapp über 11 110
kleine Lebensmittelgeschäfte gab, waren
es 2018 noch8600.Tendenz sinkend. In
Zeitungenstehen solche Schlagzeilen:


„Amt hat baldkei nen
Supermarkt mehr“
Märkische Allgemeine Zeitung, 20.01.

„Dorfladen schließt:
,Ichhabe leiderkeineWahl‘“
Passauer Neuer Presse, 30.08.

Bernd Heiser,64Jahrealt, langer Pull-
over,Jeans undSturmfrisur,führteinen
Laden, den es so heuteeigentlichgar
nicht mehrgeben dürfte. Dochesgibt ihn
trotzdem noch. Mit einem Größenvorteil
lässt es sichnicht erklären. Denn Bernds
Ladengeschäftwar eigentlichimmer
klein. Er zuckt die Schultern, als sei das
letztlichauchnicht so wichtig.


Da liegen dieRegale voll,
ichweiß nicht,wasich nehmen soll.
Da wir ddas Kaufen zurTortur,
ichgeh’zu TanteEmma nur.

Gut 500 Kilometersüdlich, in einem
1000-Einwohner-DorfinHessen,weiß je-
mand,weshalb es viele Lebensmittelhänd-
ler heutenicht mehr gibt. Erwardabei,
als es passierte.Klaus Wiegandt, 81 Jahre
alt, blauer Anzug, Haarenachhintenge-
kämmt, öffnetdie Tür, mit dem Handy
am Ohr.ZweiMinuten brauche er noch.
Ein Referent für ein Symposion habe ab-
gesagt, es brauche einen Ersatz.WerWie-
gandt sprechen will, derwartet auf ihn.
Denn er istein vielbeschäftigter Mann.
Das warerschon immer.Auchals ervor
vielen Jahrzehnten den Großhändler Me-
troleitete–als Wiegandt eines der be-
kanntestenGesichter im deutschen Han-
del war.
KlausWiegandt und Bernd Heiser sind
sichnie begegnet, auchwenn beide eine
Zeitlang in Hamburglebten. Eigentlich
eint sie nur Wiegandts Vergangenheit
und HeisersGegenwart.Denn bis zu sei-
ner Rentevor über zwanzig Jahren spiel-
tensie auf demgleichenFeld, wenn auch
in einer anderen Liga. Während der eine
die Händlergroß machte, blieb der ande-
re immer klein.
Im Jahr 1983 zitiertdie Wochenzeitung
„DieZeit“ Wiegandt so: „Mit Läden in
Wohnzimmergrößekann man in einer
hochindustrialisiertenWirtschaftbe-
triebswirtschaftlichaußer Nostalgie
nichts befriedigen.“ Heutelädt er in sein
Wohnzimmer ein, erzählt auf dem Sofa
sitzendvoneinerZeit, die heute nicht
mehr ist. Er erzählt,weil man ihn fragt,
nicht,weil er unbedingt erzählen möchte.
Undweil eskaum nochjemand gibt, der


davonerzählenkönnte.Wiegandt istein
Vordenker,kein Nostalgiker.Heuteleitet
er dieStiftung „Forum fürVerantwor-
tung“, die sichfür Nachhaltigkeit ein-
setzt, ein Thema, das ihm alles abver-
langt.Darüber möchteerlieber sprechen
als über den Handel. Manche Medien be-
zeichnen ihn als Saulus, der zumPaulus
wurde.Wegbegleiter beschrieben Wie-
gandt aber schon früher als bescheiden.
Deswegen bekommt auchheutenochje-
der eine Antwort, der ihnetwasfragt.

Wiegandt legteimHandel einesteile
Karrierehin. Seine Erfolgeführtenihn
vonHändlernwie Co op in Führungsposi-
tion en bei der Leibbrand-Gruppe, bei
Askound schließlichMetro.
Die Co opAG,„warein deutsches Han-
delsunternehmen“, Ende der achtziger
Jahrezerschlagen, die Leibbrand-Grup-
pe, „war ein Handelsunternehmen mit
Sitz in Bad Homburg“, 1989 inRewe ein-
gegliedert, keine eigenen Märktemehr,
die AskoDeutscheKaufhausAG ging an

die Metround is t„als selbständigesUnter-
nehmen untergegangen“ (F.A.Z. 1996).

ImTanteEmma Laden,
an derEcke vis-à-vis.
WennanderTürdieGlockebimmelt,
istdasbeinah’schon Nost algie.
Bernd hat sein Berufsleben in seinem Le-
bensmittelgeschäftverbracht, erwarSteu-
erfachangesteller,aber nicht für lang.
„Hätt auchnicht gedacht, dassich das so
langemache.“ Heuteist sicher,dassseine
Karrierehier enden soll. Er sitzt auf einer
umgedrehten Bierkiste in der Küche.
Wenn man das,wasman hier sieht,Kü-
chenennenkann. Eine kleine Herdzeile
füllt den vielleicht ein, zwei Quadratme-
tergroßen Raum gut zur Hälfte aus.Auf
einer kleinen Bank oder eben auf leeren
Bierkistenlädt Bernd seine Gäste zum
Verweilen ein, mit drei Leuten sitzt man
hier schon wie die Hühner auf derStange.
In den vielen Jahren sind dieKunden bei
Bernd HeisersTante-Emma-Laden im-
mer wenigergeworden. Viele kamen halt
nicht mehrrum, sagt er.AndereSuper-
märktehatten eingrößeres Angebot,ver-
suchten mit günstigeren Preisen,Kunden
anzulocken. Vielen sei esgelungen.
Aufgebenwollte er tr otzdemnie. „Ja,ja
dieses Herzblut.“Und ganz allein seierin
dieser Sache nicht.Inden vergangenen
Jahrzehnten habeernochzweiMitarbeiter
und eineAushilf eeingestellt. Fürsie trage
er auch eineVerantwortung. Immerwenn
es eng wurde, wurdeBernd kreativer. „Ich
hab rumgefragt,wergernKörbe mitEssen
und Getränkegelieferthabenmöchte.“ Als
es wiedereng für den Laden wurde, ent-
schloss sichBernd ,auchPaketeund Briefe
anzunehmen.Viel rumkommt dabei nicht.
„Aber wenn dann noch wereinenKaffee
mitnimmt,dat lohnt sich schon.“
ImSupermarktbin ichallein,
beimSuchenhilftmirda keinSchwein.

Ichschieb’ dieKarrehinund her,
undschau’beiander’n:Waskauftder?
Wiegandtsitzt auf dem Sofaund denkt
nach. BedauernSie, dassesdieseHändler
nicht mehr gibt, HerrWiegandt? „Das wür-
de ic hnicht so sagen“,sagt er.Dannerzählt
er vonden siebziger Jahren, einerZeit, in
der der Handeleinkaufte,keineWaren ,da-
für andere Unternehmen.Ersprichtvonei-
nem „wahnsinnigen Konzentrationspro-
zess“. AlsWiegandt einstzuLeibbrand
ging, betrug derUmsatz900 Millionen
Euro. Alserging, warenes22Milliar den
Euro. Dannkommtdas Bedauern. „Damals
starbenvieleTante-Emma-Läden, heutetut
es mirleid um sie.“ Dievier Lebensmittel-
händler? Viel zugroß, sagtWiegandt.„Zu
vielMacht auf zuwenigAkteure.“ Das sei
schlecht für den Mittelstand, der sich nicht
gegenDiscounterwehrenkönne.
Unddann sagt eretwas, wasnicht viele
seinesKaliberssagen würden:„Wachs-
tum darfkein Kriterium sein, das unsere
Wirtschaftbeherrschen darf.“
Dannsteh’ichSchlangebeimBezahl’n,
na, dasistgar nicht auszumal’n.
Ichweiß, wo ichnochKunde bin,
ichgeh’zuT anteEmma hin.
Es istFreitag, am Ladengeschäftlaufen
Passantenvorbei, ab und an blickt je-
mand hinein. Manchmalkommt einer her-
ein, immerhin manchevonihnentägl ich
–und das seit Jahren. EinKunde sitzt je-
den Tagum13Uhr im einzigenStuhl im
Laden und trinktKaffee. Nachdemkön-
ne man die Uhrstellen, sagt Bernd.Wenn
jemand nichtkommt, dann macht er sich
Sorgen. Nicht für den Betrieb, sondern
um denKunden. „Derkönnt javerletzt in
der Wohnung liegen.“ Eine Besucherin
im Laden sagt später:Bernds Geschäft
sei mehr als ein Geschäft. „Das isteine so-
ziale Institution.“Der Bernd, der habe im-
mer ein offenes Ohr,sei immer da, um zu

helfen. UndBernd sagt:„Joa, schon.“
Manchmalkommen dieKunden auchein-
fach nur,umzufragen,wenn sie einen
Brief nichtverstehen oderRatbrauchen.
Auch das istein Größenvorteil.
ImTante-Emma-Laden,
an derEcke vis-à-vis.
WennanderTürdieGlockebimmelt,
istdasbeinah’schon Melodie.
Als Wiegandtgerade ein Jahr im Handel
arbeitete, fragteihn der Chef einergro-
ßen Handelskette nachder Zukunftdes
LebensmittelhandelsinDeutschland.
„Das,wasAlbrecht mit den Discountlä-
den macht, wirddramatischden deut-
schen Lebensmittelhandel beeinflus-
sen“, antwortete Wiegandt ihm,soerin-
nertersich. Er meint den heutigen Aldi.
„Vergessen, Sie den Albrecht. In fünfJah-
renist er vonder Bildflächeverschwun-
den“, sei die Antwortgewesen. Aldi hat
über 4000Filialen, macht Milliardenum-
sätze.
BeiTanteEmma is t’sprivat,
sieis tkein Warenautomat.
Siesagt,wenn ic hnichtzahlenkann,
wasmacht das schon, dann schreib’
ichan.
Klaus WiegandtläuftinseinerWoh-
nung hinund her. Er hofft wiederauf
eineRenaissance derTante-Emma-Lä-
den. Er sprichtvoneinerReregionalisie-
rung,inder guteProdukte wiederaus
derRegionkommen.„Das Pendel hat in
derGeschichte so oftschon zurückge-
schlagen.“
ImTante-Emma-Laden,
an derEcke vis-à-vis.
WennanderTürdieGlockebimmelt,
istdasbeinah’schon Poesie.
Unddannkommt Bernds Besuch. Ein
paarStufen nachoben schlendernd, jeder
ein Fischhäppchen, manche trinkenKaf-
fee. Sie blickensichumimSammelsuri-
um. Die gut zehn Leute, die heuteanei-
ner Stadtführungteilnehmen, füllen den
Laden schon beinahe aus. „Dassesdas
nochgibt“, sagt eineFrau nuschelnd zur
anderen. „Gibt’s hier nochSchokoküsse
im Brötchen?“, fragt ein anderer.
„So“, sagt dieStadtführerin. „Erzählst
du uns mal,wasdas Besondereist an dei-
nem Geschäft?“
Dann beginnt Bernd zu erzählen,von
seinerWare und seinenKunden.
„Ichsachjaimmer,dieser Laden so
wasvon authentisch“, sagt die Dame.
„Könnte man schon so sagen“, sagt
Bernd.
Berndstörtesnicht, dasssichdie Men-
schen umschauen wie in einem Museum.
Mancheiner kaufeschließlichnocheinen
Kaffee oder einen Krabbensalat.Dadurch
lohne sicheine Touris tengruppe ja auch
für ihn.
Heiser will in vier Jahren inRentege-
hen.Undder Laden?„Vielleicht schenk
ichdas auchanmeine Mitarbeiter.“
In Bernds kleiner Ladenküche hängt
am Regalauf vergilbtemPapiergedruckt
eineTodesanzeige: 4. Dezember 1871 bis


  1. Dezember 2001, die Deutsche Mark
    isttot.Bernd lacht in seinen Schnauzer.
    Er hat gut lachen, mankönntesagen,
    Bernd hat auchsie überlebt.
    Und Udo Jürgenssingt:
    Wenn TanteEmma nicht mehrist
    undein Discount den Ladenfrißt,
    setz’ ic hmich aufden Bürgersteig
    undtr eteinden Hungerstreik.


Bernd HeisersTante-Emma-Laden in Altona ist auchein beliebter Ortfür Hamburg-Besucher.

Vorvierzig Jahren hat Bernd
angefangen, Lebensmittel zu
verkaufen. Dass dies seine
Lebensaufgabewerden würde,
hätteernicht gedacht. Nun
grenzt es an einWunder,dass
essein Geschäftnochgibt.

Klaus Wiegandt hat die
Konzentration in der Branche
mitges taltet.Heutehält er sie
für zu weit fortgeschritten.
Der frühereMetro-Chef hofft
auf eineReregionalisierung.
FotoMarcusKaufhold

Dasgibt


es noch


Bernd Heiser führtein


Lebensmittelgeschäftmitten in Hamburg.


Vieles sprichtgegenihn, trotzdem hält


er sichseit vierzig Jahren.


VonStefanie Diemand und Daniel Pilar (Fotos)

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