Frankfurter Allgemeine Zeitung - 13.03.2020

(avery) #1

SEITE 2·FREITAG,13. MÄRZ2020·NR.62 FPM Politik FRANKFURTER ALLGEMEINEZEITUNG


gna.WARSCHAU. Bis Mittedieser
Wochegab es in der Ukraine mitetwa
45 Millionen Einwohnernoffiziell nur
einen registriertenCorona-Erkrank-
ten. DiePerson waraus Italien zurück-
gekehrtund die Infektionam3.März
entdecktworden; seitdemstanddie Sta-
tistikstill. Nunhat dieRegierung trotz-
dem zu drastischen, als präventiv erklär-
tenMaßnahmen gegriffen, die zu-
nächstbis zum 3. Aprilgelten sollen:
Alle Schulenund Hochschulenwerden
geschlossen, alleVeranstaltungen mit
mehr als 200 zu erwartendenTeilneh-
mernabgesagt.Die meistenGrenzüber-
gängewerdengeschlossen, die übrigen
mit Medizintechnik ausgestattet.
Dassesbisher offiziell nur einen Infi-
ziertengibt, mag auchander geringen
Zahl der bisher durchgeführtenTests
liegen. Bislang hat das Gesundheitsmi-
nisterium, wie es heißt, nur „vierzigVer-
dachtsmeldungen bezüglicheiner Er-
krankung durch Covid-19erhalten“,
fast alle Testsverliefen negativ;einige
Ergebnissestehen nochaus. Da mehre-
re Millionen Ukrainervorallem als Ar-
beitsmigranten imAusland sind, er-
scheint eskaum denkbar,dassdas Land
sicherfolgreichvon derPandemie ab-
schottenkönnte. Die Fluglinie Ukraine
Internationalhat einenTeil ihrerAus-
landsflüge, unter anderem nachItalien,
gestrichen.
In der Hauptstadt Kiewverkündete
BürgermeisterVitali Klitschko, der frü-
hereBoxweltmeister, weiter eMaßnah-
men. In einerVideobotschaftsagteer:
„Freunde, keine Panik. Gemeinsam
überwinden wir alles.“Eswerde Be-

schränkungenimBetrieb vonEinkaufs-
zentren geben, dazuKontrollen. Die
Stadt habe 5000 Corona-Schnelltests
bestellt, die ersten seien schon einge-
trof fen. EineKommission der Kiewer
Stadtverwaltung beschlossamMitt-
woch außerdem,Veranstaltungen auf
sechzigTeilnehmer zu begrenzen. Man
werdeauchdie Religionsgemeinschaf-
tenbitten,keine „Massengottesdiens-
te“mehr abzuhalten. Die orthodoxe
Kircheder Ukraine sagtedazu, man
werdekeine Gottesdienste absagen, sie
empfehle jedoch, Ikonen und Kreuze
nicht, wie üblich, zuküssen, sondern
sichnur vorihnen zuverneigen.
Vordrei Wochenwareine Gruppe
vonUkrainernaus Wuhan ins Land zu-
rückgeholt und unter Quarantänege-
stellt worden; am OrtihrerUnterbrin-
gung hatteesheftig eProtestevon An-
wohnerngegeben. Offenbarwarnie-
mand in dieser Gruppe erkrankt.„Da-
malsgabesPanik“, sagtedie frühere
GesundheitsministerinSorjana Skalez-
ka in dieserWoche. Nunsei dieStim-
mungstabiler,und die Behörden seien
wachsamer.Skalezka, dievorige Wo-
cheimZugeeinergroßenRegierungs-
umbildungentlassen wurde, sagte, das
Land sei im internationalenVergleich
gut vorbereitet auf das Coronavirus.
Nurdas allgemeine „Misstrauen der
Leuteindie Ärzte“ sei ein Problem.
Ihrebis 2019 amtierendeVorgängerin
Uljana Suprunwarnte,diesesVerhal-
tensmustertrage sicher zu dergeringen
offiziellenZahl vonInfiziertenbei. Es
müsse dringend mehrgetestet werden,
„Hausmittel“ der Behandlungmüssten
als wirkungslos erkannt werden.

N


ochamDonnerstagmorgenhat-
tendie Kultusminister weitrei-
chende Schulschließungen zu-
rückgewiesen.Dochnachihrer
Sitzungsowie de rMinisterpräsidentenkon-
ferenz in Berlin galten landes-odergar
deutschlandweiteSchulschließungen nicht
mehr als ausgeschlossen. Alle Prüfungen
sollen aber trotzmöglicher Schulschließun-
genstattfinden, notfallsverspätet. Dasgilt
nicht nur für dasAbitur,sondernfür sämtli-
cheandere Prüfungen.„Die Schülerwer-
dendavon keineNachteilehaben“,versi-
cherte die Präsidentin derKultusminister-
konferenz (KMK), die Bildungsministerin
vonRheinland-PfalzStefanie Hubig (SPD).
Die Länderwollen alleAbschlüssege-
genseitig anerkennen.Essoll also nicht
passieren, dassAbschlusszeugnisse nicht
akzeptiertwerden,weil Prüfungen in ei-
nem Land unter widrigenUmständen
stattgefunden haben.Außerdemsoll si-
chergestellt werden, dassdie Zulassungs-
verfahren der Hochschulen sogestaffelt
sind, dassein Studium auchbei einerver-
späteten Abiturprüfung nochzum Winter-
semester aufgenommenwerden kann. Die
eigentlichgeplanten Beschlüsse und Bera-
tungen hat die KMKvertagt.
Der bayerische Ministerpräsident Mar-
kusSöder (CSU) zeigtesichbei der Minis-
terpräsidentenkonferen zgenerellenSchul-
schließungengegenüber nicht abgeneigt
und will inKürzeüber die bayerischen
Schulen entscheiden. Mit scharferKritik
hat Söder auf die StellungnahmevonBun-
desbildungsministerin Anja Karliczek
(CDU) nacheinerTelefonkonferenz mit
den europäischen Bildungsministernrea-
giert, dasseskeine Schulschließungenge-
ben werde. Karliczek sei unzuständig und
könne deshalb auchkeineLänderentschei-
dungenvorwegnehmen.
Hamburgs Bildungssenator TiesRabe
(SPD) bestätigte, dassdie Kultusminister
sichweiterhin an dieRatschlägedes Ro-
bert-Koch-Institutshaltenwerden. Es sei
aber durchaus möglich, dasseszuSchul-
schließungenkomme.Zu den größten Pro-
blemenzählt inRabes Augendie Betreu-
ung der Schüler,die Elternnicht leisten
können.Zehn bis zwanzig Prozent der
Schüler brauchten eine Betreuung,wenn
das öffentliche Leben nicht zusammenbre-
chen solle, sagte Rabe,der die sozialdemo-
kratisch regierten Länder koordiniert.
Auch Baden-WürttembergsKultusministe-
rinSusanne Eisenmann (CDU),Koordina-
torinder unionsregierten Länder,schloss
flächendeckende Schulschließungen nicht
mehr aus. An diesemFreitag wirdinBa-
den-Württembergeine Sondersitzung des
Kabinettsstattfinden, bei der auchüber

Kindergarten- und Schulschließungen be-
ratenwerden soll. Eisenmann wies auf die
dynamische Entwicklung hin, die sichvon
Stunde zuStunde ändernkönne.
Da dasRobert-Koch-Institut die franzö-
sischeRegion Grand Estals Risikogebiet
eingestufthat, dürfenKinder und Be-
schäftigteanKitas wie Schulen, die im Ri-
sikogebietwaren, 14 Tage langkeine
Schulen und Kitas besuchen. In Rhein-
land-Pfalz hat die Schulaufsicht die Schu-
len über ein entsprechendesVerbotin
Kenntnisgesetzt .Klassenfahrtenins Aus-
landwerden grundsätzlichinallen Län-
dernuntersagt, auchwenn es nicht zu
Schulschließungenkommt.„Die dafür an-
fallendenStornierungskosten übernimmt
das Land Rheinland-Pfalz“, hat dasrhein-
land-pfälzische Bildungsministerium mit-
geteilt.Schul- und Sportveranstaltungen
sollen für die nächstenzweibis drei Mona-
te abgesagtwerden. ImStadtstaat Ham-
burg,wo die Winter ferien Ende dieserWo-
cheenden, müssen Kinder und Beschäftig-
te an Schulen und Kitas 14Tage lang in
häuslicher Quarantäne bleiben,wenn sie
in einem Risikogebietinden Ferien wa-
ren. Das hat Hamburgs Erster Bürgermeis-
terPeter Tschentscher (SPD)veranlasst.
Der Deutsche Lehrerverband will an
den Terminen fürAbiturprüfungen nicht
rütteln. „Diekönnten unter Beachtung ei-
nes strengen Gesundheitsschutz es auch
stattfinden,wenn esgleichzeitig Corona-
Ferien geben sollte“, sagteder Präsident
des Verbandes, Heinz-PeterMeidinger.Al-
lerdings müsse dann dafürgesorgtwer-
den, dassein entsprechendgroßerAb-
stand zwischen den Prüflingen in den Prü-
fungsräumen eingehaltenwerde.
Vongenerellen Schulschließungen hält
Meidinger nichts. Bundesgesundheitsmi-

nist er Jens Spahn(CDU) hatte erst am
Mittwochvor flächendeckenden Schul-
schließungengewarnt .Essei leichter,auf
Fußballspiele oder Clubkonzerte zu ver-
zichten als auf eine Betreuung der Kinder,
sagteSpahn. Wenn Kitas und Schulen
wirklich schlössen, wäre die Betreuung
nicht mehrgesichert,wasFolgen fürPoli-
zist en undAngehörigedes Gesundheits-
wesens hätte.Regionale Schulschließun-
gendagegenkönnten sinnvoll sein. Die
Stadt HalleschließtvonFreitag an bis zum


  1. Märzalle Kindertages stätten und Schu-
    len. Auch alle öffentlichenVeranstaltun-
    genseien abgesagt.Theater,Oper und Or-
    chesterwürdengeschlossen. „In der Stadt
    Halle haben wir aktuell sieben Infektions-
    fälle. Da die Ermittlung derKontaktwege
    nicht mehr sicher undvollumfänglichge-
    währleistet werden kann“, betrachteder
    Krisenstab diese Schritte imRahmen der
    Gefahrenabwehr auf Grundlagedes Infek-
    tionsschutzgesetzes alsverhältnismäßig.
    „In der Corona-Kriserächtsichnun,
    dassBund und Länderdie Digitalisierung
    des Bildungssystems jahrzehntelangver-
    schleppthaben.Kommt es zu bundeswei-
    tenSchulschließungen, sind diewenigs-
    tenSchulengerüstet, ihren Bildungsauf-
    trag per Online-Unterrichtweiter zu erfül-
    len“, kritisierte die stellvertretende Vorsit-
    zende der FDP-FraktionKatja Suding.
    Bund und Länder müsstenden Corona-
    Schockals Mahnung und Anspornbegrei-
    fen, die Digitalisierung an den Schulen
    mit aller Entschiedenheit voranzutrei-
    ben. Sudingforderte Karliczek auf, ein
    Notprogramm aufzusetzen, das Schülern
    schnellund unkompliziertpraxisbewähr-
    te außerschulische Online-Bildungsange-
    bote zur Verfügungstellt.„Die Versäum-
    nisse derPolitik dürfennicht dazu führen,


dassdie Corona-Krise eine Bildungskrise
zu Lastender Schüler nachsichzieht.“
In Europa haben immer mehr Länder
Schulen,Universitäten und Kindergärten
geschlossen. Dazuzählen Litauen,Norwe-
gen, Dänemark, Irland, Slowenien,Tsche-
chien, Polen, Österreichund andere. Ins-
gesamt handelt es sichumein Drittel der
EU-Länder.Das schaffe Probleme für die
Eltern, die nun eine Betreuung organisie-
renmüssten, sagtedie kroatische Bil-
dungsministerinBlaženkaDivjak für den
EU-Ratsvorsitz. Einweiteres Drittel der
LänderinEuropa hat Schulen und Hoch-
schulen in bestimmtenRegionengeschlos-
sen, einweiteres Drittel führtden norma-
len Schulbetriebfort.
In Berlin wirdder Beginn des Sommer-
semestersauf den 20. Aprilverschoben, in
einigen Ländernwirderwogen, den Prä-
senzbetrieb für Hochschulen im Sommer-
semesterganz aufzuheben. Einen späte-
renSemesterbeginn gibt es auchinBa-
den-Württemberg, Bremen und anderen
Ländern.FürBafög-Empfänger darfdas
keine Folgen haben, mahntedas Studen-
tenwerk.„Die Zeitverschiebung bis zum
tatsächlichenStartdes Sommersemesters
2020 mussverbindlichund offiziell als
‚vorlesungsfreieZeit‘ deklariertwerden.“
Dennwährend dervorlesungsfreienZeit
läuftdie Bafög-Förderungweiter .Sowird
sichergestellt, dassdie bereitsgeförd erten
Studenten nicht in einfinanzielles Loch
fallen, sondernihr Bafög lückenlosweiter
beziehen. Besondersbetroffen sindStudi-
enanfänger oder diejenigen, die ein Mas-
terstudium beginnen. Denn das Bafög
kann erst mit Beginn der Ausbildungoder
des Studiums ausbezahltwerden. DasStu-
dentenwerk appelliertandie Bundesregie-
rung, eineKulanzlösungzufinden.

Die Flureder FDP-Fraktion in den Büro-
gebäuden amReichs tagsind schon am
Donnerstag verwaist, nicht erst am Frei-
tagnachmittag, wie sonstinSitzungswo-
chen. Die meistenMitarbeiter haben ihre
Schreibtischeverlassen und arbeiten zu
Hause, manche holen nochUnterlagen
aus dem Büro. Eine jungeSachbearbeite-
rinsagt, über dasFauchen derKaffeema-
schine hinweg, „das istder letzteKaffee“.
Am Mittwochhattedie Fraktionsge-
schäftsstelle der FDP mitgeteilt, dassder
Abgeordnete HagenReinhold, der in der
vergangenenWocheinSkiferien in Öster-
reich war, positiv auf Covid-19getestet
worden sei.
Die Folgen treffennun direkt und indi-
rekt den gesamten Parlamentsbetrieb.
Reinhold selbstbegab sichunverzüglich
in Quarantäne. AmFreitagmorgenverfüg-
te die Fraktionsleitung über eine Liste der
Personenkontakte, die derAbgeordnete
aus denvorigenTagen im Gedächtnis hat-
te –inseinem Büro, in Gremiensitzun-
gen, imAusschussfür Bauund Wohnungs-
wesen. Es sei einePersonenzahlim „nied-
rigenzweistelligen Bereich“ identifiziert
und benachrichtigtworden, hieß es.Auch
die Kontaktpersonen sollen sichnun bis
auf weiteres zu Hause isolierthalten.
In den Organisationsrunden des Bun-
destags warschon Tage zuvor dieFrage
erör tert worden, waszuunternehmen ist,
wenn dasVirusdas Parl ament erreicht.
Es hatteeinen Blickauf dieNotstandsver-
fassung gegeben, die einen im Grundge-
setz veranker ten„GemeinsamenAus-
schuss“vonBundestagund Bundesrat für
denFall vorsieht, dassder Bundestag–
durch Kriegseinwirkungen–nicht zusam-
menkommenkann. Dochdas Gesetz ist
eindeutig. Etwas anderes als derVerteidi-
gungsfallkann nicht zur Einsetzung des

48 Mitglieder umfassenden Sondergremi-
ums führen. Dazu müsstedas Grundge-
setz geändertwerden. Zwar hörtman so-
garaus dem Kreis derRegierungsfraktio-
nen ersteshalblautes Nachdenken, ob
eine Erweiterung auf Seuchen nicht ange-
brachtwäre.Dochdiese Gedanken sind
in einemsehr frühenStadium und spielen
für die Bekämpfung der aktuellen Coro-
na-Krisekeine Rolle.
Zunächstwerden schneller zuverwirkli-
chende Maßnahmen ergriffen. Bundes-
tagspräsident Wolfgang Schäuble, der
sichdabeieng mit derFraktionsgeschäfts-
führern abstimmt, hat zunächstdie
Reichs tagskuppel und die Dachterrasse
für den Besucherverkehr geschlossen, da
dieMenscheninWarteschlangenund Auf-
zügen dicht an dichtstehen. Besucher-
gruppenhaben bisvorer st EndeApril kei-
nenZugang mehr zum höchstendeut-
schenParlament, nur nocheinzelne Besu-
cher können sichPlenarsitzungen anhö-
ren, Kleingruppenvonhöchs tens sechs
PersonenkönnenAbgeordnete besuchen.
Fürdiese Woche sindnamentlicheAb-
stimmungen abgesetzt.Bei diesenstehen
die mehr als 700Abgeordneten engge-
drängtvorden Wahlurnen. Das sollver-
miedenwerden. DiekommendeWocheist
ohnehin sitzungsfrei, dieAbgeordneten
sind also überwiegend in ihrenWahlkrei-
sen. Noch is tdie weiter eSitzungsplanung
nichtgeändertworden, nachgegenwärti-
gemStandkommen dieAbgeordneten in
der übernächstenWochewieder ausganz
Deutschland zusammen. Dochdakaum
ein Satz derzeit so oftzuhören istwie der
vonder ständigenAnpassung der zu er-
greifenden Maßnahmen an die Entwick-
lung,kann sichauchdas nochändern.
Es gibt zahlreiche Gesetzesvorhaben,
die problemlosverschobenwerden kön-

nen, wie das immer wieder geschieht,
wenn die politische Einigung nicht herge-
stellt werden kann. Füranderegilt das
nicht.Somussder Bundestag bis Ende
des Monats Mandate für Auslandseinsät-
ze der Bundeswehrverlängern. Geschähe
das nicht, sowäre ein Abzug der Soldaten
die Folge. UmRecht setzen zukönnen,
also Beschlüsse zufassen, müssen dieAb-
geordnetenkörperlichimParlament an-
wesend sein. Das musszwarnicht im
Reichs tagsein; als dieservoreinigerZeit
renoviertwurde, zogen dieParl amenta-
rier auchineinesder Abgeordnetengebäu-
de für ein Plenarversammlung.Aber die
Möglichkeit–imaktuellenFall zurVer-
meidungvonAnsteckung –, perTelevo-
ting vomheimischen Schreibtischaus ab-
zustimmen, sieht die Geschäftsordnung
des Bundestagesnicht vor.
Es müssen allerdingsnic ht alle derzeit
709 Abgeordnetenanwesend sein.Oft
wirdmit einigenHandvollParlamenta-
riernein Gesetz beschlossen.Wird ein
solcherBeschluss angezweifelt,muss
mindestens einAbgeordnetermehrals
die Hälftedes Bundestags erscheinen.
Entscheidungenkönnen dann mit der
MehrheitdieserStimmengetrof fenwer-
den.Die Wahrscheinlichkeit,dasszah-
lenmäßig eine Beschlu ssfähigkeitdurch
Ansteckungvon Abgeordneten mit dem
Coronavirus nicht mehrmöglichist,
scheint derzeit nochgering. Eine neue
Lageträte ein, würde eine komplette
Fraktion unterQuarantäne gestellt.
Wäre es eineKoalitionsfraktion,könnte
das Regierungsbündniskeine Entschei-
dungenimParlament mehrtreffen.
Wäre eineOppositionsfraktion betrof-
fen, gerieten Minderheitsrech te in Ge-
fahr.Esgab auchErwägungen, einigeAb-
stimmungsverfahren im Eildurchlaufzu

Endezu brin gen, die nach der Parlament-
spraxiserstübernächste WochezuEnde
debattiertwerden sollten.Die Regie-
rungsfraktionen sondierten etwa,obdas
Erneuerungs-Mandat fürden Afghanis-
tan-Einsatz,das amDonnerstaginerster
Lesungverhandelt wurde, entgegender
Praxisnochrasch in zweiter und dritter
Lesungverabschiedet werden könne.
Das unterblieb amEnde,weil si ch die
Linkspartei dagegenwandte.
Der Parlamentarische Geschäftsfüh-
rerder FDP-Fraktion, MarcoBusch-
mann,argumentierte, wenn es bei den
Corona-Krisenmaßnahmen darumgehe,
Freizeitvergnügen abzusagen, die Produk-
tion in Betriebenund Büros aber mög-
lichst aufrechtzuerhalten, dann dürfe der
Bundestag doch nicht dieersteInstituti-
on sein, die über die Einstellung ihres Be-
triebsnachdenke. Buschmannhattean-
dere Vorschläge, diewiederum nichtvon
allenanderenFraktionengeteilt wurden.
Sielauteten: Heimarbeit für alle Mitar-
beiter,nur dieAbgeordnetengehenwei-
terins Plenum.
Die FDP-Fraktion hat seit ihrerRück-
kehr in den Bundestag vorzweiJahren
viel Aufwand betrieben, um im internen
Arbeitsablauf, aberauchbei derFormulie-
rung vonGesetzentwürfenund Anträgen
möglichstauf Papier zuverzichten und
sämtlicheTexteelektronischzubearbei-
ten. Der FDP-Abgeordnete Bijan Djir-Sa-
raisagt, das Intranetder Fraktion enthal-
te „alles,wasich zum Arbeiten brauche“.
Er könne dortgemeinsam mit seinen Mit-
arbeiternTexte formulieren, alle Doku-
menteund Informationen einsehen.
Auch Djir-Sarai schickteseine Mitarbei-
terzum Weiterarbeiten nachHause. Er
selbstwar morgens zum Corona-Test bei
der Bundestagsärztingewesen.

Mehrheitsfindung unter schwierigen Umständen


Wieder Bundestagtrotz Corona handlungsfähig bleibt /VonJohannesLeithäuserundEckartLohse,Berlin
„Freunde, keineP anik“

Regierung in KiewergreiftpräventiveMaßnahmen


Abiprüfung mit genug Abstand?


In normalenZeiten wären dieserschüt-
ternde Nachrichten: Der Flughafen
Ciampino im Südostenvon Rom, den
vorallem Billigfluggesellschaftenbedie-
nen, wird geschlossen; beimgrößeren
Flughafen Fiumicino im Westen der
Hauptstadt wirdeinesvondreiTermi-
nals zugesperrt.Auch in Mailandsteht
die Schließung desFlughafens Linatebe-
vor; der GroßflughafenMalpensahat oh-
nediesÜberkapazitäten,weil niemand
mehr nachItalien fliegt.Umgekehrt
stauen sichauf demWegaus Italien hin-
aus die Lastwagen auf der Brenner-Auto-
bahn bis Bozen auf einer Längevon 90
Kilometern,weil die Österreicher an
der Grenze am BrennerpassjedesFahr-
zeug und jedePerson kontrollieren.
Aber dies sindkeine normalenZei-
ten, und deshalb dürften am Donners-
tagdie wenigstenItalienervon der im-
mer schrofferenAbschottung ihres Lan-
des vonder Welt Notiz genommen ha-
ben. ImVergleichzur fast vollständigen
Blockade des öffentlichen Lebensimei-
genen Land dürftedie äußereIsolation
Italiens vielen eher nebensächlicher-
scheinen. Die Selbstisolierungkamseit
der Nachtzum Sonntag in drei beispiel-
losen Dekreten. Zunächstwurden die
Lombardei undweiter e14Provinzen in
Nord-und Mittelitalien zum Sperrge-
bietmit starkeingeschränkter Bewe-
gungsfreiheit und Geschäftstätigkeit er-
klär t; Kaffeebarsund Restaurants durf-
tendemnach nurvonsechs bis 18 Uhr
geöffnetbleiben,sofer nzwischen den
Gästender Mindestabstand voneinem
Metereingehaltenwerden konnte.

Rückzug aus der Öffentlichkeit

Am Dienstagwurden dieVerfügungen
vonder „roten Zone“ imNorden dann
auf dasgesamtenationaleTerritorium
ausgedehnt;betroffenwaren nunstatt
16 Millionenalle 60 Millionen Einwoh-
ner.Und am Donnerstag schließlich
folgtedie drastischeVerschärfung der
Einschränkungen imganzen Land: Seit
dem Morgensind alle Geschäfte außer
Supermärkten, Lebensmittelläden und
Apothekengeschlossen.Auchdie Gas-
tronomie mussbis zum 25. Märzvoll-
ständigpausieren, Bars, Imbisse undRe-
staurants bleibengeschlossen.Außer-
dem müssen alle nicht unbedingt not-
wendigen geschäftlichen Aktivitäten
der Wirtschafteingestellt werden. Die
Produktion in der Industrie soll aber
weiterlaufen, dieVersorgung der Bevöl-
kerung gewährleistetbleiben.
Alles spricht dafür,dassdie große
Mehrheit der Italiener diesen Drei-
schritt nachanfänglichem Zögernmitge-
gangen ist: DerRückzug aus der Öffent-
lichkeit istimganzen Land zu spüren.
Am Sonntag, dem ersten Tagder „Teil-
isolierung“ der Lombardei und umlie-
gender Provinzen, hatten sichdie Leute
dortnochverhalten, alswäre nichtsge-
schehen. In anarchisch-fröhlicherUnbe-
kümmertheitgenossman das mildeVor-
frühlingswetter.Esherrschte lebhafter
Ausflugsverkehr –über die unsichtba-
renGrenzen des Sperrgebiets hinweg
und auchinnerhalb der „roten Zone“
selbst.Kaffeebarsund Restaurantswa-
rentagsüber gut besucht. Dannkamzu
Beginn der neuen Arbeitswoche der ers-
te Schreck,der dann dochvielen in die

Gliedergefahren sein dürfte: Am Mon-
tagabendverkündete Ministerpräsident
Giuseppe Conte, dassnun dasganze
Land zur „roten Zone“ erklärtwerde.
Nurdassdiesekünftig besser „Schutz-
zone“ heißen solle, denn die Maßnah-
men dienten dem Schutz aller. Voral-
lem aber dem Schutz der „nonni“, der
Generation der Großeltern, die im All-
tag gestre sste rjungeritalienischerFami-
lien als Aushilfeund Ruhepol unersetz-
lichsind. Denn das Durchschnittsalter
derer,die an dervom Coronavirusverur-
sachtenLungenkrankheitsterben, liegt
in Italien bei 81 Jahren. Sokann man es
jedenAbend hören,wenn der Chef des
Zivilschutzes bei der täglichen Presse-
konferenz die neuestenCoronavirus-
Zahlenverliest. Am Mittwochabendwa-
renesrund 12 500 infiziertePersonen
und fast 830 Todesfälle.Eine Abfla-
chung derWachstumskur ve sei allen-
falls in einerWochezuerwarten, die
kommenden 14Tage blieben kritisch,
warnen dieFachleute.

Sorge um die Großeltern

Neben diesen Zahlen dürften es der
Aufruf zur Solidarität mit den beson-
dersgefährdeten„nonni“ sowie die im-
mer schrillerenAlarmrufedes medizini-
schenPersonals aus demkollabieren-
den Gesundheitssystem der Lombardei
gewesen sein, die maßgeblichzum Sin-
nes- undVerhaltenswandel vieler Italie-
ner beigetragen haben. Der nationale
Notstand schien am Mittwochschließ-
lichimBewusstsein der meistenItalie-
ner angekommen zu sein. An denKas-
sen der Supermärkteund Gemüsege-
schäfte hielten die LeuteerkennbarAb-
stand. Geduldigwarteten dieKunden,
abermals im Mindestabstand vonei-
nem Meter, vorden geschlossenenTü-
ren, durch welche immernurwenige
Kunden auf einmal eingelassen wur-
den. DieStraßen und Plätze in den Ein-
kaufs- und Flanierzonen der Altstädte
warenfastmenschenleer.Den schließ-
lichdochmühsam eingeübtenVerzicht
auf Handschlag undWangenkusszur
Begrüßung zelebriertendie Leutegern
mit einem Späßchen.
Nach den üblichen anarchischen
Trotzreaktionengegenalle Vorschriften
des Staates istden Italienern offenbar
nicht mehr zumute. HatteesamSonn-
tag und Montag im Süden des Landes
nocheinen Aufschreides Protests gegen
„Virusflüchtlinge“ aus demNorden gege-
ben, sitzt das Land seit zweiTagennun
vereint „imgleichen Boot“,wie es Minis-
terpräsident Conte in seinerFernsehan-
sprache an dieNation formulierte. Zum
bestimmendenNarrativüber die nun
weithin akzeptiertendrastischenNot-
standsmaßnahmengehörtinAlltagsge-
sprächen und in Medienkommentaren,
dassItalien beimUmgang mit dem aus
China eingeschlepptenCoronavirus un-
freiwillig eineVorreiterrolle in Europa
gespielt habe. In seinerFernsehanspra-
cheandie NationvomMittwochabend
appellierte Ministerpräsident Contean
die Verantwortung aller Italiener:„Je
mehr Opfer jeder einzelne bringt, desto
schnellerwerden wir aus dieser Krise
herauskommen.“Unddann sagt er ei-
nen Satz, der wie aus dem Deutschen
übersetzt klang:„Italien schafft das!“

In einem Drittelder


europäischen Länder


schließen Schulenund


Kindergärten. Auch in


Deutschlandhabensich


dieKultusministerschon


auf Regelungengeeinigt.


VonHeikeSchmoll,


Berlin


Mindestabstand an


der Supermarktkasse


In Italien hat sichein Bewusstseinswandel


vollzogen /VonMatth iasRüb,Rom

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