Frankfurter Allgemeine Zeitung - 13.03.2020

(avery) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Politik FREITAG,13. MÄRZ2020·NR.62·SEITE 3


A


nthonyFauci hattegerade wie-
der einmal dasgetan, waserin
den vergangenen Wochen
schon häufiger tunmusste: Er
hattedem Präsidenten widersprochen.
Der Leiter desInstituts für Allergien und
Infektionskrankheitenwargeradevonei-
ner Kongressanhörung zurück ins Weiße
Hausgekehrt. Der bekannteImmunolo-
ge,der seit Jahrzehntenfür die Einrich-
tung des Nationalen Gesundheitsinsti-
tuts arbeitet,war auf demWegzum Kri-
senstab, dertäglichunter demVorsitz
vonVizepräsident MikePence zusam-
men kommt.
Im Kapitol hatte Fauci am Mittwoch-
morgengesagt:„Wirwerden mehr Infek-
tionenhaben. Die Lagewirdsichver-
schlechtern.“Wieschlecht, hängevon
zweiFaktoren ab:vonder Fähigkeit, den
Zuzug vonaußen und dieVerbreitung im
Inneren einzudämmen. Mankönnejeden-
falls nicht sagen, esgebe hier nur ein
paarFälle. „Heute ein paarFälle heißt
morgensehr,sehr viele.“ VieleAbgeord-
nete verstandendie Aussageals Reakti-
on auf dieWir-haben-alles-im-Griff-Bot-
schaftenDonaldTrumps.
Dem Präsidentenwar nochamMitt-
woch bei einemTreffen mit Bankern ver-
sichert worden, dassdie amerikanische
Volkswirtschaft stark sei und die Situati-
on nicht mitder Krisedes Jahres 2008
verglichenwerden könne. DieVorstands-
vorsitzendender wichtigstenGeldinstitu-

te hatten sichimKabinettssaal eingefun-
den. Das Bild erinnerte an die Finanzkri-
se. Wiederwarvon einem „Bail-out“,
also einer Rettungsaktion, die Rede.
Man müsse all jenen Branchen, die nun
durch die Coronavirus-Pandemie in
Schwierigkeitengerieten, zur Seite ste-
hen. Die Botschaftder Banker:Man sei
in guterVerfassung,wasKapital und Li-
quidität betreffe.
Vonder Börse ließ sichdas nicht be-
haupten. An derWall Street sprachen die
Finanzanalysten kurz daraufvoneinem
Bärenmarkt.Für Trumpist der Dow-
Jones-Index bekanntermaßen wichtiger
als sämtlicheUmfragen. DerWirtschafts-
boom sollte die Hauptbotschaftseines
Wahlkampfswerden.Undnun?AmMon-
taghatteTrump einenWutanfall bekom-
men. In einem Gesprächmit Finanzmi-
nisterStevenMnuchin hatteer, wie jetzt
berichtet wird,geklagt, dassNotenbank-
chef JeromePowell mehr tun müsse, um
Anreize zu setzen. DieFederalReserve
hatteerstAnfang Märzeine Zinssen-
kung in einer Größenordnungverkün-
det, wie es sie seit 2008,kurz nachder In-
solvenz vonLehman Brothers, nicht
mehrgegeben hatte.Trumpsoll dennoch
geflucht haben, er hättePowell niemals
zum Präsidenten derFedernennen dür-
fen. Dieserschade derNation und ihm
als Präsidenten. Daswarfreilichgegen
Mnuchingerichtet, der ihmPowell emp-
fohlen hatte.
In der Öffentlichkeit entstand in den
vergangenenTagenein aus Sicht des Präsi-
denten bedenkliches Bild: hier derVize-
präsident, dertägl ichmit seinem Krisen-
stab vordie Presse trat und inruhigem
TonMaßnahmenverkündete und auch
die Zusammenarbeit mit demokratischen
Gouverneuren lobte. Dortder Präsident,
der das Coronavirus anfangs mit einer
normalen Grippeverglich, einen baldi-
genImpfstoff in Aussicht stellteund äu-
ßerte,ersei garnicht besorgt, dieZahl
der Neuinfektionenwerdeschon baldgen
null sinken. Das ökonomische Hilfspaket,
das TrumpinAussicht gestellt hatte,
stößt derweil nicht nur bei den Demokra-

tenauf Bedenken.Auch einigeRepublika-
ner zeigen sichskeptisch.
Der Präsident sah Handlungsbedarf.
Die tägl iche Pressekonferenz des Krisen-
stabes in dem kleinen Briefingraum wur-
de abgesagt.Trumpselbstwolleetwas
„Großes“verkünden, hieß es am Mitt-
wochnachmittag. Am Abend werdeer
sichineiner Fernsehansprache an dieNa-
tion wenden.Kurz darauf hieß es, man er-
wäge,einen Einreisestopp für Europäer
zu verhängen.Fauci, der die schnelleAus-
setzung des FlugverkehrsnachChina zu-
nächstgelobt hatte, hatteerstkürzlichge-
äußert, in dem Moment, in demvoneiner
Pandemiegesprochenwerden müsse, sei-
en Reisebeschränkungen irrelevant, weil
man „nicht dieganze Welt“ draußen hal-
tenkönne. DennochentschiedTrump,

diesen Schritt zugehen. Zwei Berater –
der für Einwanderung zuständigeSte-
phen Miller und Schwiegersohn Jared
Kushner –sollen geholfen haben, die
Rede zu schreiben. Schnellverbreitete
sichdie Deutung, manwolle einen Schul-
digen für die Krise suchen.
Der Präsident sprachsodann im Oval
Office voneinem „präzedenzlosenAus-
bruch, der in China begonnen“ habe, und
kündigtedie „umfassendstenMaßnah-
men in der jüngeren Geschichtedes Lan-
des“ an, um das „ausländischeVirus“ zu
bekämpfen.Wegenseiner drastischenRei-
sebeschränkungen für Chinagebe es in
den VereinigtenStaaten signifikantweni-
gerFälleals in Europa,sagte er.Die Euro-
päischeUnion habe esversäumt, dieglei-
chen Vorkehrungen zu treffen. Daher

habe erfolgende Entscheidunggetrof fen:
Um zu verhindern, dassInfizierte ins
Landkämen, „werden wir alleReisen von
Europa nachAmerikafür die nächsten
Tage aussetzen“.Trumperwähntenoch,
dassAmerikaner,die untersuchtworden
seien, und BürgerGroßbritanniensvon
der Beschränkung ausgenommen wür-
den. Sodannfolgteder Satz, dass„alles“,
wasaus Europakomme, Gegenstand der
„Gespräche“ sei.
DaswarTeil eins der Ansprache. Der
Tenor:Eshandle sichumeine chinesi-
sche Gefahr,die vonEuropa unterschätzt
worden sei. Amerikawerde entschlossen
handeln. Das entspricht demWeltbildSte-
phen Millers. Genauso hatteersichüber
die Flüchtlingskrisegeäußert; man muss
nur China durch den Mittleren Ostener-

setzen. Dassman Brüssel nichtkonsultier-
te,passteins Bild.
Teil zwei der Ansprache:Trumpverge-
wisserte die Amerikaner,dasserdie Fol-
gender Kriseabmildernwerde–individu-
ell undgesamtwirtschaftlich. Sokönnten
Arbeitnehmer,die vomVirus betroffen
seien, zu Hause bleiben, ohne wirtschaftli-
cheSchwierigkeiten fürchten zu müssen.
Es werdepräzedenzlosefinanzielle Ent-
lastungengeben. Die Bankenverfügten
zudem über ausreichend Kapital.Und
Kleinunternehmen würden Hilfen erhal-
ten. Die Bilanz des Präsidenten: Dies ist
„keine Finanzkrise“, sondernein „vor-
übergehender Moment“. Amerikahabe
die beste Wirtschaftund das beste Ge-
sundheitssysteminder Welt.Kein Land
sei so gutvorbereitet auf die Herausforde-
rung wie dieVereinigtenStaaten. Dann
appellierte er noch an denKongress,Par-
teipolitik beiseitezuschieben und als „Na-
tion undFamilie zusammenzustehen“.
Obwohl Trumpein Teleprompter zur
Verfügunggestanden hatte, mussten sei-
ne Ankündigungen hernachpräzisiert
werden: Zunächstwandte sichder amtie-
rende HeimatschutzministerChadWolf
an die Öffentlichkeit:Der Präsident habe
eine Bekanntmachung unterzeichnet, die
„den meistenAusländern, die 14Tage vor
ihrer beabsichtigtenReise in dieVereinig-
tenStaaten in bestimmten europäischen
Ländern“gewesen seien, die Einreisever-
bietet. Betroffenseien die Schengen-Staa-
ten. Dies beziehe sichnicht auf Amerika-
ner,derenFamilienangehörigeund Aus-
länder,die einenfesten Wohnsitz in Ame-
rika hätten.Trump selbstkorrigierte sich
auch. In einemTweetnachseiner Anspra-
cheschrieb er:Der Handel sei nicht be-
trof fen. Die Beschränkungen beträfenPer-
sonen, nicht Güter.
Die Kongressf ührung der Demokraten
reagierte noch am Mittwochabend: Der
Präsident habekein Wort darüberverlo-
ren, dasseszuwenig Coronavirus-Tests
gebe, teiltenNancy Pelosi und Chuck
Schumer mit.Worauf beide abzielten,
wareindeutig: Gäbe es mehrTests, gäbe
es auchmehr Fälle. Pelosi fügteamDon-
nerstag hinzu, obwohl sieFauci vertraue,
habe sie Zweifel an den beschlossenen
Maßnahmen.„Tests,Tests, Tests“, sagte
sie. ImKongress glaubt man denZahlen
nicht–und damit auchnicht, dassAmeri-
ka besser dasteht als Europa.Fauci war
am Morgenwieder imKapitol. Diesmal
sagteer: Die Mehrheit der neuen Infektio-
nen in denVereinigtenStaatenkäme aus
Europa.

Die Stadt fühlt sichanwie zu Beginn der
großenFerien. ImRetiro-ParkimZen-
trumvonMadrid ertönen überall helle
Kinderstimmen. Ein Großvater packt
Blockund Malstifte für seine beiden En-
kelinnen aus. Der Puppenspieler,der
sonstnur amWochenende auftritt, baut
seine Bühne auf.Nebenan auf derWiese
habenStudenten eine Decke ausgebrei-
tet. Sie nutzen denwarmen Vorfrühlings-
tagfür ein Picknick. Metround Busse
sind leer,kein einzigerStau is tgemeldet.
Die Region Madrid istder Wirtschafts-
motorSpaniens. Dochwie imAuge des
Sturms istinihrer Mitteeine unwirkliche
Ruhe eingekehrt. Kaum jemand lässt
sein Smartphone aus dem Blick, um die
nächste Eilmeldung nicht zuverpassen.
Mittagskommen immer die neustenZah-
len :1388 Infizierte und 38Tote.Knapp
die Hälfte aller Corona-Fällekommt aus
Madrid. Mehr als 3000 Infektionen sind
es imganzen Land. Spanien istdamit
nachItalien das europäische Land mit
den meistennachg ewiesenen Corona-In-
fektionen.
Bis Montagabend schienen die meis-
tenSpanier dieAusbreitung desVirusge-
lassener zu nehmen als andereEuropäer.
Hunderttausende demonstriertenam
Sonntag amWeltfrauentag, und dieFuß-
ballstadienwarenvoll wie immer.Doch
dann kündigtedie Regionalregierung
vonMadrid an, alle Kindergärten, Schu-
len undUniversitäten zu schließen–Ka-
talonienfolgt mit diesem Schritt an die-
semFreitag.Kurz darauf begannen die
ersten Madrider die Supermärktezustür-
men.Noch am Donnerstag warinvielen
Läden dasToilettenpapier ausverkauft.
Mit derexplosionsartigenZunahme der
Fälle schlug das emotionalePendel ins
andereExtrem um:Aufeinmal ging so-
gardie Sorge um, dieRegionkönntesich
in eine zweiteLombardeiverwandeln.
Gerüchtemachten dieRunde, der inter-
nationale Flughafen würde bald schlie-
ßen.Studenten undganze Familien pack-
tenihreKoffer, um dieStadt rechtzeitig
zu verlassen und zu den Elternindie we-
nigergefährliche Provinz oder insAus-
land zufahren.
Sechs Millionen Madrider dürften
nicht dierestlichen 40 Millionen Spanier
in Gefahr bringen, schrieb einNutzer im
KurznachrichtendienstTwitter undfor-
derte ein noch härteresDurchgreifen.
Unterdem Schlagwort„Cerradmadrid“
(Madrid schließen) wurde heftig darüber
diskutiert, ob man dieRegion um die
Hauptstadt nachitalienischemVorbild
abriegeln sollteoder nicht.Imchinesi-
schen Wuhan sei das schon nachhalb so
viel Fällen wie in Madridgeschehen, ar-
gumentieren manche Befürworter.Die
panische Debattehattejedochkeine
Grundlage.Kein Politiker hat bisher die
Isolierung Madrids ernsthaftins Ge-

sprächgebracht.Die Regionalpräsiden-
tin IsabelAyuso und das Bürodes spani-
schen MinisterpräsidentenPedroSán-
chez meldetensichmehrmals zuWort,
um die Sorgenzuzerstreuen. Eine „an-
gebliche Schließung derRegion istzukei-
nemAugenblickinBetrachtgezogenwor-
den“, schriebAyuso, die derkonservati-
venVolkspartei(PP) angehört, aufTwit-
ter. Bürger und Presse sollten keinen
Fake NewsGlauben schenken. Gleichzei-
tig gabesaus ihrerUmgebung auchKri-
tik an derZentralregierung.Zehn Tage
lang habe Ayuso um entschiedenere
Schrittegebeten, bis sie am Montag in
Madrid sämtliche Bildungseinrichtun-
genschloss.
AufUnverständniswarnicht nur in
der Oppositiongestoßen, dassdie Regie-
rung nochamSonntagkeine Einwände
gegendie Großkundgebungen aus An-
lassdes Weltfrauentages hatte. Hundert-
tausende nahmen imganzen Land daran
teil. GleichstellungsministerinIrene
Monterowar in Madrid in der ersten Rei-
he mitmarschiert. Am Donnerstag teilte
die Regierung mit, dassdie Politikerin
aus der linksalternativenUnidas-Pode-
mos-Parteipositiv auf das Coronavirus
getestet worden sei. Das hatteFolgen für
den Rest der Regierung. Derstellvertre-
tende MinisterpräsidentPablo Iglesias
wurde unter Quarantäne gestellt .Der Po-
demos-Vorsitzende istder Lebenspart-
ner der Ministerinund sollte eigentlich
am Donnerstag an der Krisensitzung des
Kabinettsteilnehmen. Siefand nur noch
mit einerRumpfmannschaftstatt.Alle
Ministerwurden im Laufdes Tagesgetes-
tet. Auch das spanische Königspaar,
dennKönigin Letizia hatteamvergange-
nen Freitag ein Arbeitstreffenmit Irene
Montero. Ministerpräsident Sánchez

stelltesichamDonnerstagnachmittag
nur nochüber eineVideokonferenz den
Fragen der Journalisten, die nicht mehr
ins Pressezentrum desRegierungssitzes
kommen durften. Auch seine anderen
Gesprächskontaktewill derRegierungs-
chef vorerstnur virtuellwahrnehmen.
Spanienkämpfe an mehreren „Fronten“
und hoffe,das Virussobald wie möglich
zu besiegen. SeineRegierungwerde3,
Milliarden Eurofür das Gesundheitssys-
temzur Verfügungstellen und zugleich
die Wirtschaftunter stützen. In Madrid
rechnet man damit, dasseszwischen
zwei und fünf Monatedauernwird, die
Lageinden Griffzubekommen.
Die Handlungsfähigkeit derPolitiker
istdabei jedocheingeschränkt.InMa-
drid haben das nationaleParl ament und
die Regionalversammlung ihre Sitzun-
genfür zweiWochen unterbrochen. Die
ehemaligeParlamentspräsidentin und
frühereGesundheitsministerinAna Pas-
torsowie zweiAbgeordnete der rechts-
populistischenVox-Parteiwurden posi-
tiv getestet.Am24. Märzsoll dasParla-
ment wiedertagen. Dannkönnen dieAb-
geordnetennotfall sauchper Knopf-
druck über das InternetZuHause abstim-
men. Eile istgeboten, denn in Galicien
und im Baskenlandstehen am 5. April
Regionalwahlen an. Fürdie Verschie-
bung, die immerwahrscheinlicher wird,
fehlt aber diegesetzliche Grundlage.
Vorden beiden LöwenamSäulenpor-
taldes Parlaments schießen am Donners-
tagkeineTouris tenSelfies. Im nahen
Thyssen- und Prado-Museumstehen sie
vorverschlossenenToren. In Madrid wie
in Barcelona,wo das auchfür Gaudís Sa-
grada Familia gilt, haben Museen, Thea-
terund die ersten Hotels geschlossen.
Statt 70 Prozent sind in der Hauptstadt
nur 15 Prozent der Zimmervergeben.
Die Angstwächst, dassdie Touris ten,
vondenen SpaniensWirtschaftabhängig
ist, das Land in diesem Jahrmeidenkönn-
ten. In der benachbartenRegionKasti-
lien La Mancha überlegen die Behörden,
im April diegroßen Prozessionenwäh-
rend derKarwoche abzusagen.
Aber schon jetztgeht diePandemie an
die Substanz des spanischen Lebensstils.
Nicht nur in Madridwarten dieKellner
in den Barsund Cafélangeauf dieweni-
genGäste,die sichnacheinem Glas
dann oftschnellverabschieden. In den
Restaurants sindkeine Reservierungen
mehr nötig.Trotzzahlreicher Plakate,
die sie daran erinnern, müssen viele Spa-
nier erst lernen, aufKüsse, Umarmun-
genund den Händedruckzuverzichten.
Die nächstenWochen bedeuten auchfür
die Sportfans eine ungewohnteHeraus-
forderung. Nicht nurFußballspiele wur-
den abgesagt.Das Virusversetzt auch
demStierkampfeinen schwerenStoß.
Die meistenArenen bleibenvorerstge-
schlossen.

Üblicher Angriffsmodus:Natürlic hsind wieder die bösenAusländer schuld, diesmal an derAusbreitung des Coronavirus. FotoAFP

Eigentlichwollte Ursulavonder Leyen
am Donnerstag nach Athen fliegen.Auf
ihrem Programm standen ein Besuchin
einem Zentrumfür Flüchtlingskinder
und ein Gesprächmit de mgriechischen
Ministerpräsidenten. Daswaralleserst
am Mittwochmorgengeplant worden.
Die EU-Kommissionspräsidentinwoll-
te zeigen,dassdie MigrationskriseChef-
sache ist. DochamspätenAbend beka-
men Mitreisendeeinen Anruf: Vonder
Leyenmüsse nun dochinBrüssel blei-
ben.Schließlichhabe die italienische
Regierung gerade bekanntgegeben, dass
wegender Corona-Pandemienun auch
Geschäfte, Barsund Restaurants imgan-
zen Land schließenmüssten. Dakönne
die Präsidentin nichtins Flugzeugstei-
gen.
Vonder Leyenhat jetzt zwei Krisen
auf einmal zu bewältigen–das istder
Härtetest für dieFrau, die erst seit An-
fang Dezember im Amt ist. Si emusssich
als Krisenmanagerin beweisen, die Zü-
gelindie Hand nehmen und europäi-
sche Lösungen finden. Ihr Gesetzge-
bungsprogramm,vomKlimaschutz bis
zur Reform des Asylrechts, rückt erst
mal in den Hintergrund. Schon als sie
am Montag nachden erstenhundertTa-
genBilanz zog,wardas zu spüren. Die
Hälfteder Zeit redetesie überdie neuen
Herausforderungen, und irgendwann
fiel der Satz: „Es istimmer schwervor-
auszusehen,wasdie nächste Krise sein
wird.“ Anschließend präsentierte die
Kommissionihren Beitrag zueiner neu-
en Stra tegie für Afrika.Vonder Leyen
hattedas früh zur Priorität erklärt, sie
warsogar mit allenKommissaren zur
Afrikanischen Union gereist. Doch ange-
sichtsvonMigration und Corona ging
das Thema unter.

Leyenhat ihreSchlüssegezogen
Jean-Claude Juncker, ihr Vorgänger im
Amt, hatteeine ähnliche Erfahrung ma-
chen müssen. Erwargerade drei Mona-
te im Amt,dawurde AlexisTsipras in
Griechenland zumRegierungschefge-
wählt.Der Linkspolitikerweiger te si ch,
die vonder EUverord nete nSparmaß-
nahmenumzusetzen. Die Lagespitzte
sichschnellzu–und in Brüsseldrehte
sichallesumdie Frage, ob Griechenland
in der Eurozone bleibenkann. Juncker
schaltete in denKrisenmodus.Zeitwei-
lig kamen dieRegierungschefsimWo-
chenrhythmus nachBrüssel.Kaum war
Griechenland „gerettet“, stelltedie Mi-
grationskrise Europa auf die Probe. Das
stelltesichals nochgrößeres Problem
heraus, dennauf einenTeil derUrsa-
chen hattedie Union keinen Einfluss.
Obendrein warendie Mitgliedstaaten
tief gespalten: hier Angela Merkels Will-
kommenskultur,dortViktor Orbáns
Zaun.

Vonder Leyenhat daraus ihre Schlüs-
se gezogen. Siestand 2015fest an Mer-
kels Seite, nunstelltesie sichohne Wenn
und Aber hinter diegriechischeEntschei-
dung, die Grenze zurTürkei abzuriegeln
undrobustzuverteidigen. Das sah aus
wie ein späterTriumph Orbáns. Doch
hattesichdie Kommissionspräsidentin
vorher eng mitKanzlerin Merkelund
dem französischen Präsidenten Emmanu-
el Macron abgestimmt.Kein Mitglied-
staat kritisierte die Grenzschließung.
AusSicht der handelnden Akteureist die
Lagenämlichandersals 2015: Damals
hatteAnkar adie Kontrolleverloren, dies-
mal fuhr es Migranten in Bussen zur
Grenze, um politischen Druckauszu-
üben.
Bei einem Besuchander Grenze lobte
vonder LeyenGriechenland als „Schild
Europas“, ohne auf europäischesRecht
hinzuweisen.Ratspräsident Charles Mi-
chel erinnerte an jenemTagvorsichtig
daran. Seither sieht sichdie Kommission
beharrlichenNachfragenvonJournalis-
tenausgesetzt, ob sie als „Hüterin der
Verträge“rechtswidrigesVerhaltengrie-
chischer Beamter willenlos hinnehme.
Inzwischen musstevon der Leyenbeidre-
hen. Alle Maßnahmen müssten „verhält-
nismäßig“ sein, exzessiveGewalt sei
„inakzeptabel“ –soformuliertesie es die-
se Woche. Ihr Gesprächmit Ministerprä-
sident Kyriakos Mitsotakis hättesich
wohl vorallem darumgedreht,wäre es
nicht am Donnerstag der anderen Krise
zum Opfergefallen.
Als ausgebildeter Ärztinwarvon der
Leyenrecht früh klar,was auf die Europäi-
scheUnion zukommt,wenn sichdas Co-
ronavirus unkontrolliert ausbreitet.ImFe-
bruar überließ siedas Thema nochden zu-
ständigenKommissaren. Anfang März

dann lud dieKommission spräsidentin die
Brüsseler Medienkurzfristig in den Sitz
des EU-Krisenstabs ein. Dortstellt esie
ihr eigenes Corona-Krisenteamvor: die
fünf Kommissarefür Krisenmanage-
ment, Gesundheit, Inneres,Verkehr und
Wirtschaft. Zwarwardie Zahl bekannter
Infektionen nochniedrig, dochhatteIta-
lien gerade „roteZonen“eingerichtet. Es
warbei dieser Gelegenheit,dassWirt-
schaftskommissarPaolo Gentilonierst-
mals ankündigte, die EUwerde„alle ver-
fügbarenOptionen“ einsetzen,umdie
wirtschaftlichenFolgen zu lindern.
AufdiesemFeld hat dieKommission
die größtenKompetenzen; siekann Bei-
hilfe- und Schuldenregelnflexibel ausle-
gen, wenn Staaten wie Italien jetzt ihr
Staatsdefizit erhöhen. Die deutscheKom-
missionspräsidentin istdasowenig zim-
perlich, wie es ihreVorgänger in der
Schuldenkrisewaren. An diesemFreitag
will siekonkreteVorschlägemachen. Al-
lerdings schosssie über das Ziel hinaus,
als sie am Dienstagabend ankündigte,
die Kommissionwerdeeinen 25 Milliar-
den Euroschweren„Investitionsfonds“
auflegen, umUnternehmen, Arbeitneh-
mer und die Gesundheitssysteme der Mit-
gliedstaaten zu unterstützen. Bald muss-
te die Kommissionzurückrudern.Eshan-
delt sichlediglichum7,5 Milliarden
EuroanStrukturmitteln, die nicht ausge-
geben wurden und nun denvorgesehe-
nen Empfängernein zweites Mal angebo-
tenwerden.

Waslässt sichkontrollieren?

Vonder Leyenist bei ihrenAufritten die-
ser Tage bemüht,Kontrolle auszuüben,
mindestensaber auszustrahlen. In derMi-
grationskrise istihr dasgelungen; Erdo-
gans Erpressungsversuchversandete.
Das Coronavirus und dessenFolgen ent-
falten dagegen einegroße Eigendyna-
mik.AmMittwochnachmittag hieltvon
der Leyennoch eineVideokonferenz mit
dem italienischen Ministerpräsidenten
Conteab. Vondessen späterer Entschei-
dung, das öffentliche Leben in Italien
weiter einzuschränken, wurde sie dann
offenkundig selbstüberrascht.
Hinzukommt, dassihr Spielraumstets
davonabhängt, ob dieStaaten unterein-
ander einig sind. Bei derUnterstützung
Athenswarensie es. Dochwenn nun mit
Erdogan übermehr Geld und eineVertie-
fung der Beziehungenverhandeltwer-
den soll, sind sie es nicht.Genauso beim
Coronavirus: Die Italiener beschweren
sichinBrüssel über mangelnde Solidari-
tätder anderenStaaten,weil siekeiner-
lei Schutzausrüstung bekommen. Berlin
und Parishaben Ausfuhrengestoppt.
Vonder Leyenmahnt, dasssolche Ent-
scheidungen nicht einseitig getrof fen
werden sollten–durchgreifenkann sie je-
dochnicht.

Pressekonferenzen nur nochvirtuell


SpaniensPolitikist starkeingeschränkt /VonHans-ChristianRößler,Madrid


Madrid:Museengeschlossen FotoReuters

Der Prä sident


teilta us


Zwei Krisen aufeinen Schlag


Vonder LeyenmussLösungenpräsentieren /VonThomasGutschker,Brüssel


Viel Arbeit:VonderLe yen FotoGetty/Anadolu

Trumphat die Gefahr


durchdas Coronavi rus


lang eklein geredet. Jetzt


zeig tder Präsident mit


demFingerauf andere.


VonMajid Sattar,


Washington

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