Frankfurter Allgemeine Zeitung - 24.02.2020

(Wang) #1

SEITE 2·MONTAG, 24.FEBRUAR2020·NR.46 FPM Politik FRANKFURTER ALLGEMEINEZEITUNG


A


ls im Konrad- Adenauer-Haus
in Berlin um 18 Uhr die Pro-
gnosen zumAusgang der Ham-
burgerBürgerschaftswahl über
die Fernsehlautsprecherverkündetwer-
den, passiertzunächst–nichts.Für Bei-
fall liefertdas schlechteAbschneiden der
CDUkeinen Grund, aber nicht einmal
ein Stöhnen istzuhören.Nurals die Zah-
len darauf hindeuten, dassdie AfD mögli-
cherweise nicht in die Bürgerschafteinzie-
hen wird, klatschen einigeimFoyer.Das
schlechteAbschneiden der eigenenPartei
isterwarte tworden. Gegenüberden ohne-
hin schon nicht besonderssatten 15,9 Pro-
zent, dievorfünf Jahren erbeutet worden
waren, geht es nocheinmal bergabauf et-
wasmehr als elf Prozent,Stand 18 Uhr.
Generalsekretär Paul Ziemiak bringt
dannextrem wenig Zeit mit ansRedner-
pult für seine üblicheStellungnahme zu
Wahlausgängen, nicht einmal zwei Minu-
tenspricht er.Ziemiak beginnt seinen
Auftritt mit einer Gratulationanden sozi-
aldemokratischen „Wahlsieger“ Peter
Tschentscher.Essei sein „persönlicher
Sieg“.Fürdie CDU sei es ein „bitterer
Tag“. Die Ereignisse in Thüringen hätten
nichtgeholfen, in Hamburgdie Ziele der
CDU zuverdeutlichen.
BevorZiemiak sichäußert,hat der saar-
ländische MinisterpräsidentTobias Hans,
der Nach folger derglücklosen CDU-Vor-
sitzenden AnnegretKramp-Kar renbauer,
in einem Interviewschon mehrgesagt als
der Generalsekretär.Das ResultatinHam-
burgmüsse diePartei „aufschrecken“, die
CDUgebe ein „Bild derFührungslosig-
keit“ ab. Zwar spricht er Kramp-Karren-
bauer nochzu, die CDU führen zukön-
nen. Dochmüsse am Montag,wenn sich
Präsidium undVorstand treffen, geklärt
werden, wie esweiter geht.
Die Hamburg-Wahl wir dschon dasgan-
ze Wochenende lang überlagertvon dem
Streit zwischen der Bundesparteiund
dem Thüringer Landesverband über des-
sen Ankündigung, BodoRamelow(Lin-
ke)mit ein paar CDU-Stimmen wieder
auf denStuhl desRegierungschefszuh el-

fen. Am Samstagherrschte in der CDU-
Führung in Berlin–aber auchinden Lan-
desverbänden derPartei –die pureWut.
Sofor twar klar,dassdie BerlinerFühr ung
dazu niemals ja sagen wird. In einer
SchaltkonferenzvonGeneralsekretären
und Geschäftsführernder CDU-Landes-
verbände mit demAdenauer-Hauskam
es zu ungewöhnlichdeutlichen Ansagen
in Richtung derParteifreunde in Erfurt:
SolcheÜberlegungen seien zu unterlas-
sen, esgebe schließlicheinen Parteitags-
beschluss, der das ausschließt.
Auch in Thüringen überschlugen sich
am Samstagdie Ereignisse, nachdem sich
die CDU mit Linken, SPD und Grünen
am spätenFreitagabend nachlangenVer-
handlungen über einenAusweg aus der
Regierungskrisegeeinigt hatte, in der das
Land seit derWahl des FDP-Politikers
Thomas KemmerichAnfang Februar
steckt.Demnachsoll BodoRamelowam


  1. MärzimLandtag alsÜbergangsminis-
    terpräsidentgewählt werden, bis es im
    April 2021 einevorgezogeneWahl gibt.
    Bis dahinwollen die vierParteien projekt-
    bezogen miteinanderkooperieren, den
    Haushalt für daskommende Jahrbeschlie-
    ßen und dann den Landtag imFebruar
    2021 auflösen. Linke, SPD und Grüne hat-
    tenfür eine sofortigeWahl plädiert,wäh-
    rend die CDU angesichtsverheerender
    Umfrag ewerte einen möglichstspäten
    Neuwahlterminfavorisierte.ImGegen-
    zug will dieUnion Ramelowfür eine
    Übergangszeit dieRückkehr in dieStaats-
    kanzlei ermöglichen.


Erinnerungen an denUnvereinbar-
keitsbeschluss
Die faktischeTolerierung einesrot-rot-
grünen Bündnisses durch die CDU wurde
jedochvor allemvonder Bundespartei,
aber eben auchinden Landesverbänden
entschieden abgelehnt.Nicht nur Ziemi-
ak, auchBundesgesundheitsministerJens
Spahn undandereCDU-Politiker erinner-
tenanden Unvereinbarkeitsbeschlussder
Bundespartei. Friedric hMerz, der sich
zwar nochnicht öffentlichumden CDU-
Bundesvorsitz inNach folgeKramp-Kar-
renbauersbeworben, aber schon Gesprä-
chemit ihr in der Angelegenheitgeführt
hat, sagteder FrankfurterAllgemeinen
Sonntagszeitung, die Pläne der CDU in
Thüringen beschädigten „die Glaubwür-
digkeit der CDU inganz Deutschland“.
Die Thüringer CDU wurde überrascht
vonder Heftigkeit desWiderstands, der
sichamSamstagvormittag in telefoni-
sche nSchaltkonferenzen auchdurch Brül-
len sowie dieForderung insbesondere
westdeutscher Landesverbände anPaul
Ziemiak, „unbedingt draufzuhauen“,
Bahngebrochen haben soll. Der Landes-
verbandveröffentlichtedaraufhin einen
Beschluss, dem zufolgeerRamelownicht
aktiv mitwählenwolle. Das führte aber-

mals zuVerwirrung, stand damit dochdie
mit Rot-Rot-Grüngetrof fene Vereinba-
rung wieder inFrage. Denn die Linke
will,dassRamelow gleichimerstenWahl-
gang die absoluteMehrheitvon46Stim-
men erreicht. Linke, SPD und Grünebrau-
chen dafür mindestens vierAbgeordnete
vonCDU und FDP,die Ramelowdirekt
wählen. Thüringens einstiger Ministerprä-
sidentgabsichangesichts desAufruhrs
am Samstagentspannt.„Wirhaben nie
über eine aktiveUnter stützung durch die
CDU gesprochen“, sagteRamelowdieser
Zeitung. „Im Gegenteil:Wirhatten bei
den Verhandlungen die Beschlusslageder
CDU immer im Blickund wollten sie
nicht zwischen Baum und Borkebrin-
gen.“ FrühereForderungen der Linke-Vor-
sitzenden Susanne Hennig-Wellsow, wo-
nachdie vier CDU-Stimmen fürRame-
lowerkennbar sein müssen, habe sie aus-
drücklichwieder zurückgenommen. „Es
gibt dazukeinerleiVereinbarungen mit
der CDU“, sagteRamelow. „Ichbin nach
vielen Gesprächen in denvergangenen
Tagenemotional zu dem Ergebnis geko m-
men, dassich mit einer ausreichenden
Mehrheit aus dem demokratischen Spek-
trum im ersten Wahlgangrechne nkann.“
Eine konkreteZahl anStimmenwerdeer
nicht nennen, aber:„Ichbin da völlig zu-
versichtlich.“
CDU-Generalsekretär RaymondWalk,
der Mitglied der Vierer -Verhandlungs-
gruppe derUnionwar,dementierte gegen-
über derF.A.Z., dassdie Union zugesagt
habe,Ramelowaktiv mitzuwählen.„Wir
stellenkeinen eigenenKandidaten auf,
wir unterstützen keinen anderen, son-
dernwir werden uns enthalten“, sagte
Walk.„Dannwäre Ramelowimdritten
Wahlgang automatischgewählt.“Fürdie

Thüringer CDUgelte: „Wir wollen eine
stabileRegierung, und die gibt es nur,
wenn BodoRamelowfür eineÜbergangs-
zeit ins Amtkommt“, sagteWalk. Das
aber kann nur heißen: DiePartei steht of-
fiziellzuihren Beschlüssen,während eini-
ge ihrerAbgeordneteninder geheimen
Wahl dennoch fürRamelowstimmen.

Mohring will früher zurücktreten

Ein Novum wäre das wohl nicht.Bereits
am 5.Februar ,das warbisheretwas unter-
gegangen, hatteeszweiStimmen und
eine Enthaltung mutmaßlichaus CDU
und FDP zugunstenRamelows gegeben.
Darüber hinausvereinbartendie Union
und Rot-Rot-Grün,keines ihrer Projekte,
auchnicht dieWahl desRegierungschefs,
mit Stimmen der AfD zu beschließen, so-
fern diese dafürrelevant wären. In diese
voltenreiche Gemengelageplatztedann
nochdie Nach richtvom Sonntag,wonach
Thüringens CDU-Vorsitzender MikeMoh-
ring bereits Anfang Märzneben demFrak-
tions- auchden Landesvorsitz abgeben
will. Ursprünglichwollte er das erst auf ei-
nem vorgezogenenParteitag imFrühjahr
tun. Er begründete das gegenüber derZei-
tung „Bild am Sonntag“ mit derVereinba-
rung, die seinePartei mitRot-Rot-Grün
getrof fenhabe. Mohring, der denRück-
halt der Mehrzahl seinerAbgeordneten
verloren hat und bei denVerhandlungen
schon nicht mehr dabeiwar, kritisierte
die Einigung als „das Gegenteil unseres
zentralen Wahlversprechens“, nämlich
Rot-Rot-Grün in Thüringen zu beenden –
vier Tage zuvor hatteMohring die unver-
söhnliche Haltung seinerPartei gegen-
über einerKooperation mit der Linken
nochkritisiert.

FürSaskiaEsken undNobertWalter-Bor-
jans hätteesnicht besser laufenkönnen.
Kaum im Amt–und schon gibt esauch für
die Bundes-SPD einenWahlerfolg zu fei-
ern. „Einganz hervorragenderTagfür
Hamburgund auchein wunderschöner
Tagfür die SPD“, so beschriebWalter-Bor-
jans das „überwältigende Ergebnis“. Die
beiden neuenParteivorsitzenden der SPD
warenimvorigen Dezember auf einem
Parteitag gewählt worden, vorallem von
Jusosund Sozialdemokraten, die mög-
lichs traschaus derKoalition mit derUni-
on hinauswollen. Dochstatt rauher Atta-
cken auf denKoalitionspartner tratStille
ein, zumal imWilly-Brandt-Haus die Öf-
fentlichkeitsarbeitwegeninterner Sitzun-
genweitgehendeinges tellt ist.
Mit Blickauf Hamburg und den dorti-
genWahlkampfwardie BerlinerWindstil-
le allerdings auchsehr erwünscht.Gerade-
zudringlichhatteSpitzenkandidatPeter
Tschentscher darumgebeten, den ohne-
hin schweren Machtkampf mit denstar-
kenElbe-Grünen nicht auch nochdurch
Berliner Querschüsse zu behindern. Dar-
an hat man sichinder Hauptstadtgehal-
ten–teils aus Einsicht,teils aus Erschöp-
fung.Nötig wardas auchdeswegen,weil
der neue Linkskursder Bundesparteiund
Forderungen nachhöherenSteuernoder
MietendeckelinHamburg auf kräftigen
Widerstand stießen. Mehrfach hatteder
ErsteBürgermeiste rTschentscher be-
tont, dasssein Kurs ein anderer bleibe,
moderater,pragmatischer. Der frühereFi-
nanzsenatorwollteals Manager des Mög-
liche nreüssieren, nicht als Klassenkämp-
fer. Das gingvorallem an dieAdresse
vonEsken. Denn mitWalter-Borjansver-
bindetTschentscher ein gutes persönli-
ches Verhäl tnis ausgemeinsamerZeit,
als Walter-Borjans Finanzministerin
Nordrhein-Westfalenwarund beide sich
bei denregelmäßigenTreffender Haus-
haltspolitiker begegneten. Die beiden
neu gewählten Vorsitzenden wurden
überdiesgebeten, sichauch persönlich
im HamburgerWahlkampfmöglichstwe-
nig blickenzulassen. Manwolle, hatte
Tschentscher gesagt, die Themen der
Stadt imVordergrund behalten.
Die Ausladung wurde dann allerdings
auchnochmit einerSympathie-Erklärung
des Ersten Bürgermeister sfür Olaf Scholz
gekrönt, derTschentscher als überausge-

eigneten SPD-Kanzlerkandidaten lobte.
Dabei hatten Scholz und Klara Geywitzge-
rade geg en dasSiegerduo Esken/Walter-
Borjans eine schwereNiederlageerlitten
–Scholzkonntefrohsein,dassernochMi-
nis terist.AmSonntagabend sagteWalter-
Borjans dann: GrundsolideRegierungs-
politik,sozialdemokratischePolitik nah
am Menschen sei honoriertworden–also
der Scholz- undTschentscher-Stil.
Das trotzder Verluste guteAbschnei-
den der SPD in Hamburggab Gelegen-
heit, am Sonntagabend in Berlin zufeiern.
Früher nannteman solcheVeranstaltun-
genauchinder SPD„Wahlparty“, doch
das is tlangeher.AmEnde derkurzen Ära
vonAndreaNahles alsParteichefin ging
es den Sozialdemokraten so schlecht, dass

sogarganz daraufverzicht et wurde, An-
hänger und Beobachter überhauptindie
Parteizentrale einzuladen. Im vorigen
Jahr wardann einweiterer Tiefpunkt er-
reicht, als die amtierendeParteivorsitzen-
de Malu Dreyer dasWahlergebnis von
Thüringenkommentieren musste, es lag
bei 8,2 Prozent derStimmen.Gekommen
warenaußer ihr fünf, sechs Journalisten
und der unverwüstlicheRalf Stegner aus
Kiel,der kurz davorerfahren hatte, im
Wettbewerb um denParteivorsitz Letzter
geworden zu sein,gemeinsam mit Gesi-
ne Schwan.
Diesmalist es etwasanders, dieStim-
munggehoben. Dassdie CDU imNord-
westen annäherndsoschlecht eErgebnis-
se erzielt wie die SPD im tiefen Südosten,

gabgleichwohl zu denken. Bereits die Er-
eignisse in Thüringen haben auf die SPD
belebendgewirkt .Der Kampfgegen totali-
täre Ideologenvonlinksund rechts gehört
zum Wesenskernder SPD, hier hat sie sich
bewährtwie keine anderedeutschePartei
in über einhundertJahren.Undandersals
in der Krise um den früherenVerfassungs-
schutzchef Hans-GeorgMaaßen behielt
die Parteiführung diesmalden politischen
Kompassfest im Blick, diktierte sogar der
Union die Richtung.Undselbstwer be-
zweifelt, dassdie SPD zum Jahresende
bundesweit wieder bei 30 Prozentstehen
wird, wie Esken undWalter-Borjans es
sichvorgenommen haben, der spürte
dochein Frühlingslüftchenrund um die
Willy-Brandt-Statue.

BittererTag: CDU-SpitzenmannWeinbergnimmt die Prognose zurKenntnis. Fotodpa

Der Parteivorsitzende unterlässt jeden
Beschönigungsversucheiner Nieder-
lage–zunächst. „In Hamburghaben
wir heute verloren“, stellt Christian
Lindner um 18.30 in der Berliner FDP-
Zentralefest,man habe sichinHam-
burg„mehr erhofft“. Er bietetgleich
mehrereErklärungen dafür an,warum
die FDP,die vorfünf Jahren 7,4 Prozent
der Stimmen erreichteund damals in
Hamburgihren Wiederaufstieg begann,
an diesemAbend auf demFünfprozent-
punktgelandetist und zunächstnicht
weiß, ob sie noch in die Bürgerschaft,
das HamburgerLandesparlament,rut-
schen wirdoder nicht.
Die ersteErklärung Lindnerslautet,
SPD und Grüne hätten sichimWahl-
kampfjalangeZeit einKopf-an-Kopf
Rennengeliefert, das habe auch„viele
Wähler der bürgerlichen Mitteelektri-
siert“, die sonstfür die FDP zu interes-
sieren seien; dieFreien Demokraten sei-
en mit ihren eigenen Themenkaum
durchgedrungen. Dann habe es „dasFi-
askovon Thüringen“ gegeben, sagt
Lindner und benennt damit die zweite
Ursache für das FDP-Ergebnis. Zwar
habe die FDP „schnell Klarheitgeschaf-
fen“ darüber,dasseskeine Koopera-
tion mit der AfDgeben könne –hier ap-
plaudieren die FDP-Anhänger in der
Berliner Bundeszentrale am Wahl-
abend–dochseien durch die Wahl des
FDP-AbgeordnetenThomas Kemme-
rich zum Ministerpräsidenten in Erfurt
mit Hilfeder AfD „natürlichbei man-
chem Zweifel entstanden“. Es habe
auch„unschöne Ereignisse“gegeben;
FDP-Plakateseien zerstörtworden,
„wir haben viel erklären müssen“.
Lindner hat in denvergangenenWo-
chen nicht nur in Hamburgmit hohem
Eiferversucht, die FDPvomVerdacht
zu reinigen, sie habe es zumindestunbe-
dacht darauf ankommen lassen,Stim-
men aus der AfD-Fraktion in Anspruch
zu nehmen, um eineWiederwahl des
LinkenRamelowzuverhindern. Als
der Parteivorsitzende bekundete,er
habe sichnicht vorstellen können, dass
die AfD ihren eigenenKandidaten im
drittenWahlgang imStichlassen wür-
de, um im Thüringer Landtagstattdes-
sen den FDP-KandidatenKemmerich
zu wählen, nahm er inKauf, dassman
ihm politischeNaivitätvorhielt.

Nacheinem ersten Zögerntat Lind-
ner vomfolgendenTaganviel, um das
„Fiasko“ zu lindern. Er erreicht eKem-
merichsRücktritt in Thüringen,stellte
in Berlin dieVertrauensfrageimFDP-
Parteivor stand und berief eineKommis-
sion,welche die politischen Hacken-
tric ksder AfD eruieren und dieAbgren-
zung der Freien Demokratengegen-
über dieser Partei exakter definieren
soll. Lindner selbsterinnerte während
seines Krisenmanagements an die „Möl-
lemann-Affäre“der Jahre2002/2003, in
der sichdie Partei quälend und in vie-
len Wendungenvonihrem prominen-
tenMitglied JürgenMöllemann trenn-
te,nachdem dieser durch eine Kritik an
Israel und an in Deutschland lebenden
Juden denVorwurfdes Antisemitismus
hervorgerufen hatteund dafür nochin
seinen Entschuldigungen neue Anlässe
bot. Im Vergleichzujener Lagesieht
sichdie FDP-Führung jetzt handlungs-
fähig undgeschlossen.
Ob diese Einschätzungvollkommen
zutrif ft,wirdder nächste Bundespartei-
tagder Freien Demokraten zeigen, der
andersals bei den meistenanderenPar-
teien nicht zum Jahresende hin, son-
dernimMai stattfindet. Dortfindet
zwar keine turnusgemäßeNeuwahl des
Parteivor standsstatt;aber eine Gele-
genheit zurAussprache wirddie Ver-
sammlung allemal sein. Bei seiner
jüngstenWiederwahl alsParteivorsit-
zender hatteLindner imvergangenen
Jahr fast 87 Prozent derStimmen be-
kommen, bei den zweiweiter zurücklie-
gendenVorstandswahlenwarenesje-
weils 91 Prozentgewesen. Lindner hat
im HamburgerWahlkampf ausdrück-
lichbeteuert, er selbststehe ja bei die-
ser Landtagswahl nicht zurWahl. 2015
wollteerdas gern anderssehen–da
galt der HamburgerErfolg als Ermuti-
gungsspritze für diegesamtePartei.
UndauchandiesemWahlabendfin-
detLindner am Ende in der Niederlage
nocheinen Trost. Er dankt den Wäh-
lern, die der FDP in Hamburgunter den
widrigstenvorstellbaren Ums tänden
die Treue gehalten hätten–immerhin
fünf Prozent bei einer gestiegenen
Wahlbeteiligung –und stellt lobend
fest,diese Wähler hätten einZeichen
gesetzt und ein unabhängigesUrteils-
vermögen bewiesen.

Endlichmalwieder obenauf


DasErgebnis der SPDinHamburg gib tder Partei im BundAuftrieb /Von PeterCarstens, Berlin


Nachder Wahl müssen sichdie Grünen
Fragen nachihrem Erwartungsmanage-
ment anhören. DiePartei hat ihr Ergeb-
nis verdoppelt, die Spitzenpolitiker
müssen aber trotzdem den ganzen
Abend erklären,warumsie ihr Zielver-
fehlt haben: in einem zweiten Bundes-
land eineRegierung anzuführen.Natür-
lichjubeln Grüne amAbend vorden Ka-
meras, sorichtig ausgelassen wirddie
Stimmung aber nicht.Der Parteivorsit-
zendeRobertHabeckspricht zwar in
Berlinvoneinem „fulminanten Ergeb-
nis“, docherwirdschnell ernst:„Wir erle-
ben eineextrem herausfordernden Situa-
tion für die Demokratie“, essei Aufgabe
der Grünen, „Orientierung undVertrau-
en zugeben“. Da sei esrichtig gewesen,
um Platz eins zukämpfen. Das klingt
nachRückendeckung für die Hamburger
Spitzenkandidatinund ihreEntschei-
dung, die SPD und ihren Bürgermeister
Peter Tschentscher herauszufordern.
Noch im Januarstanden die Chancen
nicht schlecht, dassdie grüne Wissen-
schaftssenatorin Katharina Fegebank
ErsteBürgermeisterinwird. Damals la-
genGrüne und SPD laut Umfragen
nochfastgleichauf, bei knapp 30 Pro-
zent.„Wirunter stützen denWahl-
kampf, weil es für uns Grüne mit dieser
Wahl die Chance gibt, eine zweitegrü-
ne Ministerpräsidentin zu stellen“, sag-
te die ParteivorsitzendeAnnalena Baer-
bockimJanuar auf derVorstandsklau-
sur,die die Bundes-Grünenextra nach
Hamburgverlegt hatten. Am Sonntag
aber läuftdie SPD ihrem Juniorpartner,
mit dem sie seit 2011regiert, davon
und geht mit mehr als zehn Prozent-
punktenVorsprung über die Ziellinie.
Wieder einmal.Schon bei derWahl in
Brandenburgwar das so. ImUmfrage-
hochvor derWahl warauf einmalvonei-
ner grünen Ministerpräsidentin inPots-
dam dieRede, amWahlabend im Sep-
tember vergangenen Jahres landetendie
Grünen mit 15 Prozent dann hinter der
SPD –Habecksprac hauchdamalsvon
einem „phantastischen Ergebnis“. Bei
den LandtagswahleninSachsen und Thü-
ringen schnitten die Grünenebenfalls
schlechter ab als erhofft.Die Bundes-Grü-
nen machten mit Hilfeeiner plausiblen
Erklärung schnell einen Haken hinter die
Wahlen im Osten: In derZuspitzungzwi-
schen derPartei des Ministerpräsidenten
–injedem der drei Länder eine andere–
und der AfD umPlatz eins hätten sichvie-
le grüne SympathisantenamEnde doch
anders entschieden.
In Hamburgallerdings funktioniert
diese Deutung nicht:Die AfDwarhier
nie stark, nun musssie um denWieder-
einzug in die Bürgerschaftbangen. Das

sehen die Grünen auchals ihrenVer-
dienstan. Nunaber müssen sie sichmit
der Situation auseinandersetzen, dass
es ihnen in einer liberalen undweltof fe-
nen Großstadt nichtgelingt,stärkste
Kraf tzuwerden. Dabeikönnten die
Rahmenbedingungen kaum günstiger
sein: Die Bundesparteitritt so geschlos-
senaufwieseltenzuvor.Angesichtsdes
Chaos in der CDUkonntensichdie Grü-
nen als bürgerliche Kraftpräsen tieren.
Undnachdem DebakelvonThüringen
gewinnen sie in derRolle der „aufrech-
tenDemokraten“,tapptenaber –an-
dersals SPD und Linke–nicht in die
Falle, dieWelt nur nochinFaschisten
und Antifaschisten zuteilen. Undtrotz-
dem: DieWähler,die sic hvon FDP und
CDU abgewendethaben, liefen zur
SPD nicht zu den Grünen. Die politi-
schen Uhren in Hamburgtickenanders
als im Bund.Aber tr otzdem: Es wirdfür
die Grünen in Berlin nun nicht leichter,
ihren Anspruchauf Platz eins bei der
nächs tenBundestagswahlglaubwürdig
zu machen. DassFegebank imWahl-
kampfimmer wieder hervorhob, dass
es in HamburgDank der Grünen end-
lichwieder „eine echteWahl“ gebe,
macht die Sache für die Grünen nicht
besser,wenn die Hamburgersichdann
für die SPD entscheiden.
Die Bürgerschaftswahl in Hamburg
istfür die Grünen im Bund nicht nur als
Stimmungstest wichtig, schließlich
wirdindiesem Jahrvoraussichtlichin
keinem anderen Bundeslandgewählt.
Eine ErsteBürgermeisterinFegebank
hätteihren EinflussimBundesrat noch-
mals deutlichsteiger nkönnen. In der
Runde der Ministerpräsidenten sitzt
vonseiten der Grünen bislang nurWin-
fried Kretschmann, der seit 2011 in Ba-
den-Württembergregiert, der inhalt-
lichimmer mal wieder Sonderwege
geht.Die Grünenwollten gern den Ein-
druc kaus derWelt schaffen, einegrüne
Regierungsführung funktionierenur
auf die baden-württembergische Art.
Das sprachdie Parteiführung offenan.
Wenn die Grünen nicht nur in einem
„konservativer geprägten Flächenland,
sondernineiner liberalen Großstadt“
regierten, könnten sie deutlichmachen,
dassdie ökologischeFrageund die so-
ziale Fragezusammen umgesetztwer-
den könnten, sagteBaerbock im Janu-
ar.Ihr Ko-VorsitzenderRobertHabeck
bemühtesich, den Eifer einwenig zu
bremsen:„Wenn mankämpft und ver-
liert, istdas kein Beinbruch.“ Damit hat
er allerdings selbstdas Narrativ von
Platz zwei als Niederlagegesetzt .Zu-
letzt sprachen die Grünen daher lieber
vom„ehren vollen zweiten Platz“.

DieWutprobe


VonFiaskozu Fiasko


Die Bürgerschaftswahl in Hamburgverschär ft die


Krise derFDP / VonJohannes Leithäuser,Berlin


ZweiterPlatz,


erster Verlierer


Die Grünen legen erheblichzu, verpassen aber eine


große Chance / VonHelene Bubrowski, Hamburg


In Ha mburgschneidet


dieCDU schlecht ab.


DasinteressiertinBerlin


kaum einen–die Partei


blicktvoller Zorn auf die


Entwicklung in Erfurt.


VonEckartLohse, Berlin


und Stefan Locke,Erfurt


Hamburgische Bürgerschaftswahlen seit 1946
ErsteBürgermeister, Koalitionen undStimmenanteile ausgewählterParteien in Prozent

1) VBH: Vaterländischer Bund Hamburg(CDU,FDP, DeutscheKonservative Partei).2)Deutsche Partei. 3) Hamburg Block(CDU, FDP, DP). 4) NPD(19740,8, 1978 0,3, 19970,1, 2004 0,3, 2011 0,9, 2015 0,3 Pro-
zent). 5) Bunte Liste (3,5 Prozent), Grüne Liste Umweltschutz (1,0 Prozent). 6) Republikaner 1991 1,2, 19934,8, 1997 1,8, 2001 0,1 Prozent. 7) Geschäftsführend zwischen ersterund zweiterWahl 1982, eben-
so nachder Wahl1986 bis zum 2.9.1987.8)Zwei Wahlen: 6.6. und19.12.1982. 9) Statt-Partei (19973,8 Prozent).10)Kooperationsvereinbarung zwischen SPD undStatt-Partei. 11)Partei Rechtsstaatlicher
Offensive: 2004ohne Ronald Schill angetreten,der auf der Liste Pro DM/Schill kandidierte (3,1 Prozent).12) Die Grünen beendeten die Koalitionmit der CDU Ende November 2010.
Quellen:ARD; ZDF; Bundeswahlleiter, Ergebnisse früherer Landtagswahlen, Wiesbaden 2019; F.A.Z.-Archiv Fotos fpa, dpa (8), AP, Klemm(2), Pilar, Archiv/F.A.Z.-Grafik Heumann

1946 1949 1953 1957 1961 1966 1970 1974 1978 1982 8) 19868711991 993 1997 2001 2004 2008 201 120152020

DP 2)
NPD 4) REP 6)

Regierung/Koalition:

Max
Brauer
SPD
1946–

Kurt
Sieveking
CDU
1953–

Henning
Voscherau
SPD
1988–

Ole von
Beust
CDU
2001 –

Max
Brauer
SPD
1957–

Paul
Nevermann
SPD
1961–

Klausvon
Dohnanyi
SPD
1981–887)

Ortwin
Runde
SPD
1997–

Herbert
Weichmann
SPD
1965–

Peter
Schulz
SPD
1971–

Hans-Ulrich
Klose
SPD
1974 –

Chris toph
Ahlhaus
CDU
2010– 11

Olaf
Scholz
SPD
2011–

Peter
Tschentscher
SPD
seit 2018

SPD SPD

DP 2)

CDU SPD SPDSCDU PD
Grüne Gr. 12 ) Grüne
KPD

Statt 10)
Schill 11)

FDP FDP FDP FDPFDP

KPD

Schill 11)

Statt 9)

Grüne/GAL

CDU

SPD

FDP

CDU

5,

VBH 1)

HB 3)

FDP

DP 2)

24,8/25,4 Grüne

38,6/37,8 SPD

11,2/11,3CDU
9,1/9,
5,0/5,
4,9/4,

Linke
FDP
AfD

Wahlbeteiligung ca. 62%
(2015:56,5%)

ARD/ZDF,Stand 20.00 Uhr

Hochrechnungen

43,1 42,

50,

45,

34,

53,

57,4 59,0 55,

45,

51,
45,

48,

40,
36,2 36,

26,
19,

47,
42,

34,

48,
45,

21,9 15,
11,2 12,
6,7 7,
6,4 6,

9,6 8,

4,

6,

12,

2,

30,

8,
5,

30,

13,

3,

35,

25,
13,

4,

7,

40,

51,

38,

CDU
43,

SPD
42,

37,

4,

7,7 7,
6,5 5,

6,

10,

4,
2,6 4,

4,55)

32,

40,

10,

30,

6,8 7,

2,

3,

29,

9,

32,

13,

4,

8,

26,

18,

10,
7,
3,

CDU
41,

SPD
41,
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