Frankfurter Allgemeine Zeitung - 24.02.2020

(Wang) #1

SEITE 6·MONTAG, 24.FEBRUAR2020·NR.46 Die Gegenwart FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


S


eit vielen Jahren ertrinken
Abertausende Menschen bei
ihremVersuch, über das Mit-
telmeer nachEuropa zuge-
langen.Nach Angaben des
Flüchtlingshilfswerksder Ver-
eintenNationen (UNHCR)starben allein
im Jahr 2016 mehr als 5000 Migranten.In
den beidenFolgejahrenwarenes3100 be-
ziehungsweise 2300. Die Migrantensind
bei einem Fluchtversuchüber das Mittel-
meer auf professionelle Schlepper ange-
wiesen, die oftviele tausend Europro Per-
son für ihreDienste verlangen. Daher
kann sichauch nur einewohlhabendere
Minderheit der Migranteneinen lebensge-
fährlichen Fluchtversuchüber das Mittel-
meer leisten. Wurden früher ausrangierte
Fischkutter und ähnliche Schiffe mit
Rümpfenaus Holz oder Metall benutzt, so
setzen die Schlepper seit einigen Jahren
fast nur nochauf große Schlauchboote.
Diesewerden anscheinend in derTürkei
oder in China produziertund vorOrt mit
einemAußenbordmotorversehen.
Die nur bei schönemWetter benutzba-
renSchlauchboote sind Instrumenteder
absichtlichen oder fahrlässigen Erzeu-
gung vonSeenotund desfahrlässigenTö-
tens. Diese im Grunde seeuntüchtigen Ge-
fährte sind reine Seelenverkäufer ,wie das
in der alten Seemannssprache heißt.Die
oftüberfüllten Boote befinden sichbe-
reits wenigeMeter vomUferentfernt in
Seenot. 2,50 MeterWassertiefereichen
dazu aus. Die meistenFlüchtlingekönnen
nicht schwimmen und ertrinken,wenn sie
vonBordder Schlauchboote fa llen.
Die Schlepperrechnen auf der mittleren
Mittelmeerroutedamit, dassdie Schlauch-
boote vonseetüchtigen Schiffenentdeckt
werden und ihreKundenvondiesen gebor-
genwerden. Ohne die Seenotrettungfunk-
tioniertdas Geschäftder professionellen
Fluchthelfer nicht.Sie sind ja darauf ange-
wiesen, dassder Großteil derjenigen, die
ein Seenot-Ticket,das heißt ein SOS-Ti-
cket mit Russisch-Roulette-Charakter ,für
mehreretausend Europro Person er wor-
ben haben, ihr Ziel Europatatsächlicher-
reichen. Die Überlebenswahrscheinlich-
keit hat sichinden vergangenen Jahren al-
lerdingsdrastischverringer t. Sie beträgt
nachAngaben derVereinten Nationenzur-
zeit 47:1, nachanderen Berichten 2019
nur noch17:1. Undfastdie Hälfte der
Schlauchboot-Insassen wirdvon der liby-
schenKüstenwacheaufgeg riff en und an
Land zurückgebracht, hat also in derRegel
ihr letztes Geld bei demVersuchverloren,
nachEuropa zugelangen.
Symbol für das schreckliche Schicksal
vielertausend Flüchtlinge, die im Mittel-
meer ertrinken, wurde derkurdisch-syri-
sche JungeAylan Kurdi, dessen Leichnam
am Strand vonBodrumfotografier twurde.
SeinenNamenträgt nunmehrein privates
Seenot-Rettungsschiff. DerVaterdes Jun-
genhattenachzweivergeblichenVersu-
chen, nachGriechenlandzugelangen,
abermalsTicketsfür sich, seineFrau und
seine beidenSöhne (2050 Europro Person
–ein le gales Touris tenticketfür diese Über-
fahrtkostetweniger als 20 Euro) für eine
kurz eillegale Schlauchbootfahrtvon Bo-
drum auf dieetwa 19 Kilometerentfernt
liegende InselKos er worben. Das Boot
kenterte.Seine Frau und seine beiden Söh-
ne ertranken am 2. September 2015.
Bis Anfang 2019besorgte dieSeenotret-
tung vorallem Küstenwach-und Kriegs-
schif fe der „Sophia“-Mission der Europäi-
schenUnion. Die Marineeinheiten hatten
den Auftrag, die Schlepper zuverhaften.
Diesewarenaber meistklug genug, sich
frühzeitigvonihren Schlauchbootenzu
entfernen und nachLibyenzurückzukeh-
ren. Den EU-Schiffenblieb nichts anderes
übrig, als zigtausend Migranten und
Flüchtlingeaufzunehmen und nachIta-
lien oder Malta zu bringen.AufVerlangen
der italienischenRegierung wurde Ende
März2019 die Seenotrettung der EU ein-
gestellt ,weil sic hdie EU-Staaten nicht auf
eine Verteilung der Migranteneinigen
konnten. IhreFunktion wurde nur unzurei-
chend vonprivate nSeenotrettungsschif-
fenwie „Seawatch3“oder „Alan Kurdi“
übernommen.
Zwischen den Seenotrettern und den
professionellen Fluchthelfe rnalias Schlep-
pernist eine Symbiose entstanden. Ohne
Seenotretterkommtkaum nochein Mi-
grant oder Flüchtling per Bootüber die
mittlereMittelmeerroute nachEuropa;
also istdas Geschäftder Schlepperexisten-
tiell abhängigvonden Seenotrettern,die
für sie die moralische Erpressung einiger
EU-Staaten betreiben, um sie dazu zu be-
wegen, die Gerettetenaufzunehmen.
Ohne die Schleppergäbe es aber auchkei-
ne aus Seenotzurettenden Migranten.
„Seawatch3“und die anderen Schiffe
könnten ihreMission beenden, dievon
der Evangelischen KircheinDeutschland
ersteiger te „Poseidon“ müsstegar nicht
erstauslaufen.
Diemeiste nUnterstü tzer der Seenotret-
terwollen nur die BootsflüchtlingeinEu-
ropa aufnehmen, aber beileibe nicht alle
Migranten, die in dieNähe der südlichen
Mittelmeerküstegelangen. Das System
der systematischen Seenoterzeugung und
der partiellen Seenotrettung mit einem
„Kollateralschaden“ vonTausenden im
Mittelmeer ertrunkenen Migranten be-
ruht auf einer gutgemeinten, aber sich
barbarischauswirkenden Moral der selek-
tiven Humanität der hilfswilligen europäi-
schenRegierungen und Bevölkerungstei-
le. Die Botschaftandie Flüchtlingelautet
implizit:Wer voneucheinigeTausende
Eurofür ein Seenotticketder Schlepper
aufbringt und außerdem den Mut besitzt,
sichdem Risikodes Ertrinkungstodes aus-
zusetzen, denwerden wir nachMöglich-
keit aus dem Mittelmeerfischen und nach
Europa bringen. Euchandereohne Geld
und mit zuwenig Todesmutvertrauen wir
Gott und dem Gutdünken der libyschen
Regierung oder der Mafia-Banden an.
Gegenwärtig wirdhauptsächlichüber
eine Reduzierung des Massensterbens und


eine Verbesserung der Seenotrettung im
Mittelmeergestritten, ohneetwas an der
SymbiosevonSchleppernund Seenotret-
tern ändern zu wollen und zukönnen.Es
lassen sichimWesentlichen dreiVorstel-
lungenvoneiner Beendigung des Massen-
sterbens im Mittelmeerausmachen, zwei
recht einfache und einerechtlich-tech-
nischund politisch höchstkomplizierte.
Eine erste, im Grunde sehr einfache
Vorstellung lässt sichals radik al-humani-
tärbezeichnen.Viele privateSeenotretter,
für die mittlerweile CarolaRacketeals pro-
minenteVertr eterin steht, fordern, wie
die Organisation ProAsylschon seit lan-
gem, dassEuropaFährschiffe nachLibyen
schic kensollte, um dortalle rund 500 000
Migrantenabzuholen, die nachEuropa
wollen. Den kriminellen Schleppernwäre
ihreGeschäftsgrundlageentzogen. Die
Verfechter dieser radikal-humanitären
Haltung bedenken nicht, dassdie Aufnah-
me aller derzeit in Libyenbefindlichen Mi-
granten in Europa unvermeidlicheine
neue und viel umfangreicher eMassen-
flucht aus zahlreichen subsaharischen
Ländernzur Folgehätte.
Diese radikal-humanitäreVorstellung
geht voneinem Menschenrecht auf Migra-
tion fürdiejenigen aus, die aus menschen-
unwürdigen Lebensverhältnissen inwohl-
habende und sichereLänderflüchtenwol-
len. In derextremenVarianteliegt diesem
Rechtdie Vorstellung zugrunde, dassdie
Erde allen Menschengehöre,weshalb je-
der Menschein Rechthabe, sichindas
Land zu begeben,das er wünscht–die gan-
ze Welt ein einziger Schengen-Raum. In
keinem westlichen Land gibt eseine demo-
kratisch-parlamentarische Mehrheit für
dieseradikal-humanitäreVorstellung. Sie
steht auchinZukunftnicht inAussicht.
Nach einerzweiten Vorstellung, dievor
allemvon einerAllianz national-populisti-
scherund national-konservativer ,aberauch
einiger sozialdemokratischerParteien ver-
treten wird, sollte EuropanachdemVorbild
Australienskeineneinzigen Bootsflücht-
ling aufnehmen, sonderndie Boote mit Mi-
granten ohne Einreiseerlaubnisvonseinen
Küsten zurückweisen,sie eventuell mit Pro-
viantund Benzin fürdie Rückfahrt versor-
genund aus Seenot geretteteMigranten in
dasjenigeLand zurückschicken, aus dem
ihr SchiffoderBoothergekommen ist. Nach
diesemKalkül würde innerhalbkürzester
Zeit dem Schlepperunwesen der Boden da-
durch entzogenwerden, dassniemand sich
einerlebensgefährlichen Mittelmeerfahrt

auss etzenwird, wenn ervonvorneherein
weiß, dasserdas Ziel Europa au fdiesem
Wege absolut sicher nicht erreichen wird.
Eine dritteVorstellunglehnt sowohl die
vollständige Grenzöffnung für alleFlücht-
linge und Migranten al sauchdie vollständi-
ge Abriegelung der Grenzen ab,will also
einebegrenzteFlüchtlingsaufnahme er-
möglichen.Vor allem politischVerfolgte
sollen dasRechtauf Asylwahrnehmenkön-
nen.Dazu müssen sie allerdings inallerRe-
gelersteinmalillegaldie Grenzen Europas
überschreiten odersichvon einem europäi-
schen Schiffaus selbstverursachter Seenot
retten lassen. Damitbegebensie sic hunter
die Territorialhoheit desLandes, in dem
das Schiffregistriertist.Aber auchFlücht-
linge aus LändernoderGebieten mi tinten-
sivem Kriegsgeschehensollen in Europa
Asylerhalten. Elendsflüchtlinge, dievor
Armut, Arbeitslosigkeit, Umweltschäden
oderaus Verzweiflung überdie politischen
Verhältnisseflüchten, sollennachvorherr-
schenderAuffassun ghingegen nicht in Eu-
ropa aufgenommenwerden.
Jeder Migrant oder Flüchtling ,der illegal
eine Staatsgrenze überschreitet,erhielte –
sofer ndas in Europa bestehende Asylrecht
beachtet wird–eine befristete legaleAuf-
enthaltsberechtigung, indem er einen Asyl-
antragstellt. Einen Asylantragkann man
derzeit nurstellen ,wennman si ch in dem
Land befindet,indem man Asylbegehr t.
Da man einemMenschen nicht ansehen
kann, ob er eineAsylberech tigung hat oder
nicht, mussersicheinem Asylverfahren un-
terziehen,das monate-,oft auch jahrelang
dauer t.

U


mlangwierigeund teure
Asylverfahren zu vermei-
den, gehen immermehr Län-
der dazu über,ihreGrenzen
durch Zäune, Mauernund
Grenzpolizeivorillegalen Grenzübertrit-
tenund damitvor Asylbewerbernzuschüt-
zen. Auch die europäische Grenzpolizeibe-
hördeFrontex soll dieAußengrenzen der
EU „sichern“ undvorillegaler und krimi-
neller Migratio n„schützen“.
Merkwürdigerweise wirdnicht gefor-
dert, die Produktion, denVertrieb und den
Betriebvongroßen Schlauchbootenfür
die Seenoterzeugung mit hohenStrafenzu
belegen. DieVermeidung dervölker recht-
lich gebotenen Seenotrettung, indem sich
Schif fe vonden vonFlüchtlingsbootenbe-
vorzugten Seerouten fernhalte n, diente

ebenfalls dem Zweck,die Aufnahmevon
Flüchtlingen in Europa zureduzieren.
Die RettungvoninSeenot geratenen
Menschen istinder Tatein selbstverständ-
lichesvölker rechtliches und moralisches
Gebot,andem niemand rütteln sollte,
selbs twenn Menschen sichfahrlässig auf
reine „Seelenverkäufer“ und damit wis-
sentlich in Seenotbegeben. Denn nur auf
diesemWeghaben sievorersteine Chan-
ce, nach Europa zugelangen.Aber:„Das
Völker rechtverpflichtet zur Seenotret-
tung, sagt aber nicht,wohin die Men-
schen zu bringen sind“, so derKonstan-
zer Völker rechtler Daniel Thym.Würden
sie alle in das Land zurückgebracht,von
dem aus sie sich in Seenotbegeben ha-
ben, dannwäre in kürzesterZeit das Mas-
sensterbenimMittelmeer beendet.
Dasaber ist imFall Lib yenseit Jahren
nichtnur aus praktischen Gründen nicht
möglichgewesen. Libyenhat weder eine
rechtlichenocheine moralischeVerpflich-
tung,die Geretteten, unter denen so gut
wiekeinelibyschen Staatsbürgersind, auf-
zunehmen.Für Libyenwie für Ungarnsind
Flüchtlingenur durchre isende illegale Mi-
granten. Diesekönnen nicht in dieTransit-
länder zurückgeschi cktwerden, aus denen
sie zuletztkamen,sondernmüssen (sofern
möglich) in ihreHerkunftsländer zurückge-
brachtwerden, falls siekein Asylerhalten.
Aber mit Libyen könnteein ähnlichesAb-
kommen wie mitder Türkei im März
abgeschlo ssen werden: dassaus Seenotge-
retteteBootsflüchtling enachLibyenzu-
rückkehren müssen, aber einegleich eAn-
zahl vonMigranten, die nicht so zahlungs-
kräfti gund sotodesmutig wie dieBoots-
flüchtlingesind, nachEuropagebrachtwer-
dendürfen, vorzugsweise Krankeund von
Gewalthandlungen Verletzteoder voraus-
sichtlich Asylberechtigte.
Libyenwürde bei einemAustauschvon
BootsflüchtlingengegenLandflüchtlinge
mit Sicherheit eine Gegenleistungfordern.
Im lib yschen Interesse istesvor allem, sei-
ne Südgrenzegegen das Eindringenweite-
rerFlüchtlingezuschützen. Das schafftLi-
byen seit derVernichtung derStaatsgewalt
durch die Nato-Luftwaffe im Jahre
und dem nachfolgenden Bürgerkrieg nicht
mehrselbst. Libyenbraucht also nicht nur
europäische Gelder für seineKüstenwache
und Grenzsicherung imNorden, die die ita-
lienischeRegierung gewährt, sondern
auchfür seine Landwache im Süden. Zwei-
tens benötigt Libyendie Hilfedes UNHCR
für einehumaneUnterbringung undVer-
sorgung sowie für die Sicherheit derFlücht-

linge nachmindestens denStandards, die
etwa in Jordanienbeacht et werden.
Nach Ansicht einergroßen Mehrheit
der Europäer istdie AufnahmevonMi-
granten beziehungsweise Flüchtlingen so-
wie die BearbeitungvonAsylanträgen
eine nationale Angelegenheit, mit der je-
der Staat nachseinem demokratischen
und gesetzgeberischen Willen umgeht.
Die Illusion einergemeinsamen europäi-
schen Flüchtlingspolitik,die vorallem in
Deutschlandgepflegt wurde, musstespä-
tes tens im März2019 mit der Einstellung
der EU-Marinemission „Sophia“ aufgege-
ben werden.
Es gibt allerdings eine Alternative. Das
istdie Bildung eines europäischen Asyl-
raum smit einergemeinsamen Asylpolitik
der „Willigen“ unter denStaaten, die zu ei-
ner begrenzten undgesteuertenAufnah-
me vonMigranten bereit sind, also derzeit
Deutschland,Luxemburg,Portugal, Finn-
land,Frankreich, vielleicht auch die Nie-
derlande und einesTageswieder Schwe-
den. Das sichvereinigende Europa be-
steht aus höchst unterschiedlichen Integra-
tionsprojekten, der EU,dem Euroraum
und dem Schengen-Raum.
EsgibtalsokeinenGrund,überdiese
Räume hinaus nichteinen separaten euro-
päischen Asylraum zu schaffen, dem nur ei-
nige europäischeStaaten in einerKoalition
derHilfswilligenangehörenwürden. Er
würdeaus Staaten bestehen, die derTatsa-
cheRechnung tragen, dassdie meisten Mi-
granten aus Afrikaund Asien nichtunbe-
dingt in ein spezifisches europäisches Land
oder einKüst enland wie Griechenland,
sondernindas wohlhabende Mittel-,West-
undNordeuropa kommenwollen.Eswäre
also eineeuropapolitische Entscheidung,
über das 2013geschaf fene, aber unzurei-
chende Gemeinsame EuropäischeAsyls ys-
temhinauseineneuropäischenAsylraum
mitgemeinsamem Asylrecht undgemeinsa-
men Asylverfahren zu bilden.
Dazu müssteein Europäisches Amt für
Migrationund Flüchtlinge(EAMF)ge-
schaf fenwerden, das nicht erst in Europa
(wie bisher inmiserabler Praxis in den
EU-Hotspots in Griechenland und Ita-
lien), sondernunmittelbarvor der Grenze
EuropasinseinenAußenstellen in derTür-
keiund inNordafrik a(nachentsprechen-
den Abkommenmit den jeweiligenStaa-
ten) Asylanträge entgegennimmt und bear-
beitet. ErsteVorstellungen hierzugabes
im Europäischen RatimJuni 2018. Dieses
Amtkönnteentweder in nationale,sichko-
ordinierende Sektionengegliedertsein

oderingemeinsamerVerantw ortung Asyl-
anträge entgegennehmen und bearbeiten.
Dieneue Behördemüsstedurch einen
ebenfalls dortangesiedeltenEuropäischen
Asylgerichtshof (EAGH) mit einer einzi-
genInstanz er gänzt werden, der Migranten
einenrechtlichen Einspruchgegen dieAb-
lehnungeines Asylantrages ermöglicht.
DieBehandlungderAsylanträgedirektjen-
seits der Grenzen der EU würde Europa
und sehr vielenMigranten diemenschen-
unwürdigenAbschiebungen ersparen. Al-
lerdings müsstendie Migranten dannbis
zum Abschlussihres Asylverfahrens sich
entweder selbstversorgen(anstatt Tausen-
de Eurofür Seenot-Ticketsauszugeben)
oder in Flüchtlingslagerndes UNHCRun-
terk ommen.InLibyenmüssten UNHCR-
Lager überhaupterstinbürgerkriegsfreien
Landesteilen errichtetwerden.
Die einzelnen Staatenmüssten dem
EAMF mitteilen, wie viele Asylberechtig-
te sie aufnehmenwollen. Die Asylgewäh-
rung und dieRechtsprechung haben auch
inZukunftwiebishereinenweitenAusle-
gungsspielraum für „politische Verfol-
gung“ und andereberechtigte Fluchtgrün-
de wie Krieg. Insofernhätte das EAMF
große Möglichkeiten, die Zahlen der
Flüchtlingszuwanderung zusteuern, wie
es die nationalen undregionalen Behör-
den durch ihreengeoder weiteGesetzes-
auslegung zurzeit auchtun.

N

achMöglichkeit solltejede
Flüchtlingsfamilie in einem
Land eigener Wahl aufge-
nommenwerden. Fürdie we-
niger begehrtenZufluchts-
länder müssten die Plätze notfallsverlost
werden. Die Asylberechtigten solltensich
dannverpflichten, für mehrereJahrein
demLand zu bleiben, in dem sie aufgenom-
men wurden, nachdemsie darüber aufge-
klärtworden sind, dasssie nur in diesem
Land Unterkunftund Sozialhilfeerhalten,
bissie ihren Lebensunterhaltselbsterarbei-
tenkönnen. Auf dieseWeise könnte die Se-
kundärmigration der Geflüchteten vermie-
den werden, die das Prinzip derVerteilung
der Flüchtlingeauf mehrereeuropäische
Länder unterminiert.
Die anerkannten Asylbewerber würden
einenkostenlosenFahrschein nachEuro-
pa erhalten.Abgelehnten Asylbewerbern
könnteEuropa nicht nur dieRückreise in
ihreHerkunftsländerfinanzieren, sondern
aucheine Beihilfe zu ihrer ökonomischen
Eingliederung in ihrer Heimat. Daswäre
weitaus billigerund vorallem humaner als
ihrederzeitigeBehandlung in denAbschie-
beverfahren innerhalbEuropas. Die Inter-
nationale Organisation für Migration
(IOM) hat in Libyenmit der Motivation
zur Rückreise schon einigen Erfolg gehabt.
Seit 2004 betreibt die EU eineNachbar-
schaftspolitikgegenüber seinen Anrainer-
staaten, ohne diesen Länderneine Aus-
sicht auf eine zukünftigeMitgliedschaft
in der EU zu eröffnen.ZurEU-Nachbar-
schaftspolitik sollteaucheine humanere
Flüchtlingspolitikgehören. Durchfinan-
zielleUnterstützungsollteEuropa dafür
sorgen, dassdie Flüchtlinge, die Europa
nicht aufnehmen will, in den Nachbarlän-
dernmöglichstbesser als nachden Stan-
dards in den UNHCR-Lagerninden Ent-
wicklungsländernbehandeltwerden.
Die europäischeFlüchtlingsaußenpolitik
sollte außerdem darauf dringen, das sinLi-
byen vomUNHCRverwalteteFlüchtlingsla-
geraußerhalb der Bürgerkriegsregionen
eingerichtet werden oderdieFlüchtlinge
Zugang zu denNachbarländern Ägypten,
Tunesie nund Algerien erhalten,falls es der
EU-und UN-Diplomatie nichtgelingt,ei-
nenWaffenstills tand und einenFriedens-
vertragzwischenden Bü rgerkriegsparteien
zu erwirken. Auch die finanzielleUnter stüt-
zung derRückkehrvon Migranten und
Flüchtlingen, diekeine Chance aufAsylin
Europa haben,inihreHerkunftsländer
könnteintensiviertwerden. Daswürde Li-
byen entlasten.
Eine nochbessereeuropäische Flücht-
lingsaußenpolitik sollte auchdie Idee in Er-
wägung ziehen,exter ritoriale Flüchtlings-
siedlungen (Refugien) in eigener europäi-
sche rRegie in einem europäischen Land
selbs toder in einem außereuropäischen
Land zu errichten. DieserVorschlag könnte
längerfristig Erfolgsaussichte nhaben,weil
die internationalen Fluchtbewegungenzu-
nehmen und diese die innerenWidersprü-
cheder europäischenFlüchtlingspolitik
deutli cher zumVorscheinbringen werden.
Die Refugienwärenein Zwischenraum
zwischen Europa undAußereuropa mit
besseren Lebensverhältnissenals in vielen
Län dern Afrikas und Asiens. Dieser Zwi-
schenraum hättezweiAusgänge. Der eine
würde jederzeit jedem Migranten die freie,
vonEuropafinanzierte Rückkehr in sein
Herkunftslandoder in ein anderes Land er-
lauben,das ihn aufzunehmen bereit ist.
Der andereAusgang würde es den Bewoh-
nernder Refugien ermöglichen, sichnach
entsprechender Qualifikation in ihren
Schulen und Ausbildungseinrichtungen
auf einen ArbeitsplatzinEuropa zu bewer-
ben. Die Anwerbungvon Fachkräf tenaus
dem EU-AuslandsollteFlüchtlingeinden
europäischen Refugien bevorzugen, an-
statt dieFachkräf te aus den ärmerenStaa-
tenabzuwerben, die in diesen Ländern
selbstdringend benötigtwerden.
Bis eine europäischePolitik der be-
grenzten Flüchtlingsaufnahmeund derZu-
rückweisung nicht asylberechtigter Flücht-
lingeetwainder dargestelltenForm sich
durchgesetzt hat, bleibt esAufgabe der Zi-
vilgesellschaft, mittels Seawatch3und an-
derer Schiffe möglichstviele Flüchtlinge
vordem Ertrinken zurett en. Es sei denn,
die europäischenRegierungen würden die-
se Aufgabe wieder übernehmen.


Der Verfasser is tEmeritu sfür Politikwissenschaft
und Zeitgeschichteder Universität Mannheim.

RobertMotherwell, LyricSuite, 1965©Dedalus
Foundation, Inc./VGBild-Kunst, Bonn 2020

Die internationalen Fluchtbewegungenwerden zunehmen–und die inneren


Widersprüche der europäischen Flüchtlingspolitikwohl so schnellnicht abnehmen.


Grund fürFatalismusist dasnicht .Allein für die Beendigung des massenhaften


ErtrinkensimMittelmeergibt es mehrere Optionen. Einevonihnen führte


direkt in einengemeinsamen europäischen Asylraum.Vorschläge zur Gütevon


Professor Dr.EgbertJahn


Die Symbiose vonSchleppern


und Seenotrettern beenden!

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