Frankfurter Allgemeine Zeitung - 21.02.2020

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SEITE 10·FREITAG,21. FEBRUAR2020·NR.44 Neue Sachbücher FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


Der italienische Lyriker, Philosoph
und Maler Carlo Michelstaedter istim
deutschen Sprachraum wenig be-
kannt.Daranhaben di eÜbersetzung
seiner Dissertation „LaPersuasione e
la Rettorica“ und die Michelstaedter-
Romane vonClaudio Magris(„Unal-
tromare“, 1991)und Egyd Gstättner
(„Der Mensch kann nichtfliegen –
Der letzteTag des Carlo Michelstaed-
ter“,2008) ebensowenig geändertwie
ein 2014herausgegebener Sammel-
band. Michelstaedter ,geboren 1887 in
Görz/Gorizia, damals nochinÖster-
reich-Ungarn,studierte zuerst Mathe-
matik inWien, danachPhilosophie
und Literatur in Florenz. Im Oktober
1910erschossers ichins einemEltern-
haus, einenTagnachAbschlussseiner
Disser tation. Diese Eckdatenerin-
nerneinweniganOttoWeininger,der
sichimgleichen Alter einige Monate
nachder Publikation von„Geschlecht
und Charakter“, seiner erweiter ten
Doktorarbeit, im Jahr 1903 erschoss.
Parallelen zwischenWeininger und
Michelstaedterwurdenbereitsfrühge-
zogen. Daraufverweistauchdie Stu-
diezu Michelstaedter,die ThomasVa-
šek,Journalist,Autorund Herausge-
berder Philosophie-Zeitschrift„Hohe
Luft“, nunvorgelegt hat.Vašek folgt
allerdings einerweit spektakuläreren
Spur.Ergeht ausvonseiner überra-
schenden Entdeckung eines Typo-
skripts imNachlassder Pianistin Ar-
gia Cassini im Michelstaedter-Archiv
vonGorizia,nämlicheinebereits früh
angefertigtedeutsche Übersetzung
des erste nTeils von„Überzeugung
und Rhetorik“; und er sammelt Indi-
zien für die These, dassMartin Heid-
egger dieseÜbersetzungwomöglich
gekannt und zentrale Thesen der Dis-
sertation in „Sein undZeit“ verwen-
dethat.Dassbis heuteallerdings je-
der historische Beweis dafürfehlt,
dassHeidegger dasTyposkriptder
Übersetzungoderdie1913postumpu-

blizier te Dissertation tatsächlichgele-
sen hat,konzediertVašek in seiner
Einleitung.
Heidegger als Plagiator? Einesol-
cheSchlussfolgerungvermeidetVašek.
Aber er will auchnicht bloßvom
„Zeitgeist“,voneinem allgemeinen
Klima des Nihilismus oder der Kritik
an der Moderne sprechen. Daherver-
folgt er zweiStrategien: einerseits die
einer sorgfältigen historischenKon-
textualisierung, andererseits die eines
„forensischen Textver gleichs“, also
der akribischen Suche nachAnalo-
gien zwischen beidenWerken.
Vašek willkeine eindeutigen Ant-
worten geben, sondernFragenvon
„geistigerVerwandtschaftund philo-
sophischer Originalität“ diskutieren.
Die Affinität zwischen Michelstaed-
terund Heidegger erscheint ihm als
ein„philosophischesRätsel“,dasviel-
leicht sogar mehrereLösungen er-
laubt.Wer hat denn seit 1913–und
mit Verbindungen undKontakten zur
deutschen Philosophie–Michelstaed-
ters Werk gelesen?Vašek kommen-
tiertetwadie Schriftendes Wiener
Philosophen Oskar Ewald, der 1924
in Gorizia einenVortrag übe rMichel-
staedter hielt und diesenals Genie
charakterisierte; und Ewald wieder-
um unterhielt Beziehungen auchzu
EdmundHusserl.EinganzandererLe-
serMichelstaedterswarderprotofa-
schistische Philosoph Julius Evola,
derinseinerAuto biographiesogarbe-
kannte, er habe wichtigeIdeen von
Michelstaedter übernommen; dass
Heidegger einigeWerke Evolaskann-
te,ist immerhinverbürgt.
Aufschlussreichsind dieTextver-
gleiche. Im Anhang zu seinem Buch
hat Vašek dieKorrespondenzen zwi-
schen Begriffen und Denkfigurenre-
sümiert. So entspreche „persuasione“
der „Entschlossenheit“, „rettorica“
dem „Man“, die „cura“ der „Sorge“,
„l’angoscia“ der„Angst“, die„Todes-
furcht“ („la pauradel morte“) dem
„Sein zumTode“, der „Selbstbesitz“
(„possesso di sé stesso“) dem Begriff
der „Eigentlichkeit“. Gemeinsame
Denkfigurenbeziehensichaufdie Dif-
ferenzen zwischen dem eigentlichen
und uneigentlichen Leben, auf den
Konflikt zwischen dem„Verfallen“ an
das „Man“ und dem „Selbstbesitz“,
auf „Geworfenheit“, Angstund die
Antizipation desTodes, Heideggers
„Vorlaufen in denTod“.
Nicht in allen Punkten sinddie
Übereinstimmungengleichermaßen
evident; die Indizienketteist nicht so
lückenlos, dasssie ein klares Urteil
erzwingt. Dennoch istVašek eine
Darstellunggelungen, die zumindest
als Einführung i nCarlo Michelst aed-
ters Denken–und daneben sogar in
„Sein undZeit“ –zuü berzeugenver-
mag. THOMAS MACHO

Mehr konntebei dem ersten Zusammen-
tref fengar nicht schieflaufen. 1934 emp-
fing der uniformierte Mussolini einen lin-
kischaus dem Flugzeug steigenden Hitler,
der mit seinemTrenchcoat und zerknaut-
schen Filz hutwieeinBüroangestellteraus-
sah. Während Hitler seinem Idol beflissen
den angeblich„deutschen Gruß“ entbot,
schüttelte ihm sein Gegenüber schnöde
die Hand. Mehr symbolische Distanzie-
rung innerhalb nurwenigerSekundenwar
kaum denkbar.Immerhin umspültedie
Diktatoren auf der Motorbootfahrtnach
Venedig die Begeisterung ozeanischer
Menschenmassen, die bei der Ankunftauf
festem StadtbodenvonendlosenParade-
formationen abgelöstwurde. In ihrerVor-
liebe für diese Mischung ausPopulismus,
Militarismus undFührerkult warensich
die Diktatoren schnell einig.
Der in Manchesterlehrende deutsche
HistorikerChristian Goeschel liefertmit
seineranschaulichenKulturgeschichteder
diplomatischen Beziehungen zwischen
denbeidenStaatschefseineäußerstlesens-
werteAnalysevon deren „seltsamer Mi-
schung“ aus„Ambivalenz und Bewunde-
rung“. Das Diktatorenduo begegnete sich
zwischen 1934 und 1944 insgesamt sieb-
zehnmal. Inder „vagenFreundschaft“ver-
kehrte sichdie MachtbalanceimLaufeder
Beziehungkomplett .Esbegann in den
zwanzigerJahrenmiteinemnahezuunter-
würfigenHitler,der Mussolini bis in die
dreißi gerJahrehinein alsFührungsfigur
anhimmelteund nachahmte. Die zentrale
Vorbildfunktion, die Mussolini für Hitlers
Politik hatte, istdurch die 2017 erschiene-
ne StudievonWolfgang Schieder („Adolf
Hitler –politischer Zauberlehrling Musso-
linis“) bereits konzise erfasst worden.
Schieder zeigt darin, wie die beiden Ge-
waltmenschen ihreMännerfreundschaft

in ritualisierterFormpolitisch inszenier-
ten. Dabei handelteessich, so Schieder,
umein„herrschaftspolitischinstrumentel-
les Handeln“,welches den Aufbau der
deutschenFührerdiktatur beförderte.
Mit den zunehmenden außenpoliti-
schen Erfolgen Hitlersseit der Annexion
ÖsterreichsimMärz1938und dannvoral-
lem dank der militärischenÜbermacht
Deutschlands im ZweitenWeltkriegver-
kehrte sichdas Machtverhältnis ins Ge-
genteil. Der enttäuschteHitler hattesei-
nen Respekt im Laufeder italienischen
Niederlagen 1940/41verloren und musste
Mussolini, der auf Befehl des italieni-
schenKönigs in Gefangenschaftgesetzt
worden war, schließlichimSeptember
1943 sogar aus denAbruzzen ausfliegen
lassen. Als er diefaschistischeRepublik

vonSalòamGardaseeübernahm,herrsch-
te der erschöpfte und erkrankte Mussolini
nur nochüber einenvollkommen von
Deutschland abhängigenVasallenstaat.
Im Propagandagerassel der deutsch-ita-
lienischen Bündnispolitik entwickeltesich,
so Goeschel,einneuer ,„unbürokratischer
undunfachmännischer“Diplomatiestilmit-
samteiner faschistischen Symbolsprache,
die sichvon he rkömmlichenGaladiners,
Kommuniqués, Geheimverhandlungen
undhöflicherDiplomatensprachezudistan-
zierensuchte.DassMilitarismusundVolks-
verbundenheit bei den Aufmärschen und
Führerreden miteinanderverkoppeltwur-
den, erin nerteandie monarchistischeFor-
mensprache,aberdieModernitätderInsze-
nier ungen mitsamt ihrertechnis chen Auf-
rüstun gsowiedie ritualisierteZur schaus tel-

lung einergeschlossenen Männerfreund-
scha ftwarenneu.JenseitsderbeidenDikta-
torenverwoben sichzudemauchdie Füh-
rungseliten beider Länderineiner ArtNe-
bendiplomatie.Wiedie fas tzeitgleicher-
schieneneStudie vonNils Fehlhaber über
die „Netzwerke der ,Achse Berlin–Rom‘“
(BöhlauVerlag)verdeutlicht, warein poly-
kratischerUnterbaudurchmehralseinhun-
dert BesuchsreisenvonfaschistischenKa-
dern ents tanden, in denensichdie Propa-
gandaministerien, die Jugendorganisatio-
nen,dieErziehungsministerienunddieJus-
tiz –jenseits deroffiziell en Außenpolitik –
miteinanderverzahnten.Inundiplomati-
scher Artund Weise stellten dieseihreent-
schlo sseneUnbedingtheit zur Schauund
„arbei teten derAchse entgegen“.
Bei derFrage,welcheBedeutungdie
Ideologie fürdas Bündnisvon Italien und
Deutschland spielte, will sich Goeschel
nichtsorecht zu einer Antwortdurchrin-
gen. Ei nstrategisches„Zweckbündnis“ sei
es gewesen, so heißtesamEndedes Bu-
ches,mit einem„gemeinsamen ideologi-
sche nNenner“. ImmerhinwaresMussoli-
ni und Hitler beimMünchnerAbkommen
Ende September 1938gelungen,die west-
europäischeSpitzendiplomatieumdenbri-
tischen PremierministerNeville Chamber-
lain undden französischenPremierminis-
terÉdouardDaladierüberdenTischzuzie-
hen. Gemeinsame Machtpoliti k, Expansi-
onsdrang undder Wille zur Revisionder
Versailler Nachkriegsordnungspielten
zweif ellosdie entscheidendeRoll efür den
Aufbaueiner„NeuenOrdnung“inEuropa.
„HochtrabendeAchsenrhetorik“ nennt
Goeschel denTonder antikommunisti-
schen und antidemokratischen Propagan-
da der beidenFaschis ten. Mit solchen und
ähnlichenFormulierungen zur „vorder-
gründigenHarmonie“konter kariertersei-
nen eigenen Ansatz. Denn im Grunde

geht derAutorganz überzeugendvonder
eminentenundeinereigenenDynamikge-
horchenden Bedeutung der politischen
Symbolikaus, die die zahlreichenstrategi-
schen Divergenzen und nationalen Egois-
men imAchsenbündnis überbrückte.So
manövrierten sichdie faschistischen Bru-
derländer durch ihreRhetorikund das
Imagevonmit einanderunverbrüchlichbe-
freundetenFührernaturen in ein immer
engeres Bündnis.Die politischeinszenier-
te Freundschaftder Diktatorenwarsoet-
waswie eine sichselbsterfüllende Pro-
phezeiung, da der prahlerischen Rhetorik
und dengroßspurigen Ankündigungen
schlichtwegTatenfolgenmussten.ImAch-
senbündnis,welches in der italienischen
Bevölkerungnahezudurchgängigunpopu-
lär gewesen war, radikalisiertensichbeide
Regime immerweiter.
Am Ende aberwarder Faschismus
mehr als nur die bloße Ästhetisierung
vonPolitik,mehr als instrumentalisierte
Verbrüderungsszenen oder undiploma-
tischvorgeführte Machtgesten. Die trans-
nationalverwobene Selbstdarstellung der
Faschis tenführer erfasstzwareine zentra-
le Dimension der Diktaturen, aber nicht
die ganze Praxis ihres mörderischen
Handwerks.Vielleicht sollteein Buch
über dieKulturgeschichteder Diplomatie
Mussolinis und Hitlersauchdas berück-
sichtigen,wasdie Faschis tenambesten
konnten:töte n. SVEN REICHARDT

L


ässt sichdie Geschichteeiner
Epoche anhand ihrer Düfte
schreiben?Wie roch zum Bei-
spiel das Wirtschaftswunder?
Nach Zigar renund Cognac oder doch
eher nachKörben frischer Bügelwäsche?
Werinden achtziger Jahren mit demZug
vomWesteninden Os tenfuhr,spürte am
Kribbeln in derNase den Systemunter-
schiedgleichhinter der Grenze.Aber
konnte man aus demWofasept-Schwefel-
Gemischder DDR wirklichRückschlüsse
ziehen auf das Lebensgefühl der Ostdeut-
schen? Düfte bilden immer auchsoziale
Wirklichkeiten ab–Geruc hvon Kohlsup-
pe imTreppenhaus istnun einmalkein
Ausweis herrschaftlichenWohnens.Aber
da der Geruchssinnflüchtig istund sich
ein Dufterlebnis in der Erinnerung nur
durch eine mehr oderweniger identische
Reizungzurückholen lässt,darfderHis to-
rikerden Gerüchen nur bedingtvertrau-
en. Die olfaktorischen Dimensionen der
Geschichtebleiben hochspekulativ.
Karl Schlögel liebteesschon immer,
sicheinem Phänomenflanierend zu nä-
hern. Mitteder achtziger Jahreentwar fer
anhandvonalten StadtplänenundHäuser-
fassaden eine Archäologie Moskaus,we-
nigspäterpräsentierte erdas vorrevolutio-
näreSankt Petersburgals „Laboratorium
der Moderne“. Dieser Autorwarfrüh da-
vonüberzeugt, dassessoe twas wie ein
spezifischesAromaderrussischenRevolu-
tio ngegebenhaben muss,vondem die
Menschen taumeligwurdenvorBegeiste-
rung für alles,wasmit demNeuen zusam-
menhing.Voreinigen Jahrenstieß er auf
eine Formel, die ihm dasWunder des Auf-
bruchs zuverkörper nschien. Eswardie
Formel einesParfüms, das in der Sowjet-
union unter demNamen „Rotes Moskau“
vertrieben wurde–und in derwestlichen
Welt vorknapp hundertJahren als „Cha-
nel Nº 5“ seinen Siegeszug antrat.
Die Geschichtebeider Parfüms arran-
giertSchlögel als unterhaltsameParallel-
aktion, in deren Mittelpunkt zweibemer-
kenswer te Frauenstehen –Gabrielle
„Coco“ Chanel undPolina Shemtschushi-
na.NachdemsieinjungenJahrenden ein-
flussreichenParteifunktionär und späte-
renAußenministerder Sowjetunion Wja-
tscheslawMolotowgeheiratet hatte,
macht edie wieCocoChanelaus einfachs-
tenVerhältnissenstammende Ukrainerin
eine steile Karriereinder Kosmetik-und
Ernährungsindustrie.1939fieldie Kandi-
datinfür dasZentralkomiteederKommu-
nistischenPartei beiStalin inUngnade
und wurde an der Spitze desVolkskom-
missariatsfürFischverarbeitungabgelöst;
zehn Jahrespäter verhaftete man siewe-
genangeblicher zionistischerUmtriebe
und schicktesie in dieVerbannung. Als
der Chef des GeheimdienstesLawrenti
Berijasie am 10. März1953, einenTag
nachStalins Begräbnis, aufsuchte, um ihr
mitzuteilen, dasssie frei sei, soll sie ohn-
mächtiggeworden sein–die Nach richt
vonStalins Ablebenwarzuviel für sie.
Bis zu ihremTod1970 blieb die Shem-
tschushina die „eiserneFrau“ und „eine
entschiedene, jafanatischeStalinistin“.
Auch Coco Chanel, vierzehn Jahreälter
als ihr erussische Mitbewerberin,geriet in
die Strudel derPolitik. Während der deut-
schen Besatzung vonParis pflegte sie

nicht nur provozierend engeBeziehungen
zu Repräsentanten des NS-Regimes; sie
dientesich auchdem Auslandsnachrich-
tendienstderSSanundversucht emitdeut-
scher Hilfe, ihrejüdischen Geschäftspart-
nerloszuwerden,die„ChanelNº5“zumin-
ternationalen Durchbruchverholfen hat-
ten. Nach Kriegsende erschien es ihrrat-
sam, erst einmal für einigeZeit in die
Schweiz zugehen. 1954kehrte die über
70-jährigenachParis zurückund betrieb
ebenso eigenwillig wie energischden Wie-
deraufbau ihres Modeimperiums.
Schlögelvermutet die gemeinsameWur-
zelvon„ChanelNº5“und„Krasnaja Mosk-
wa“ineinem Parfüm, das1913zum drei-
hundertjährigenJubiläum derRomanows
auf den Marktkam und denNamen „Bou-
quet del’Imperatrice Catherine II“trug. Es
handeltesichumeine Kreation französi-
scher Parfümeure,die ihr eKunst in der
zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhun-
dert svon ParisnachMoskauexportiert
und inRussland eineprosperierendeKos-
metikindustrie aufgebauthatten .Nachder
Revolution triebesdie mei sten Duftexper-
tennachFrankreic hzurück,soauchErnest
Beaux,den Chefparfümeur desHofliefe-
ranten Rallet, der das„Bouquetder Zarin
Katha rina“ verschlankt eund klarerkontu-
rierte.Unterden zehnDuftproben,die er
im Spätsommer1920 Coco Chanelan der
Côte d’Azu rpräsentie rte, trug dieser Duft
der Le gende nach dieNummerfünf.
Nichtweniger minimalistischals der
NamedesneuenParfüms warsein Flakon.
Auch hierfürgabeseinrussischesVorbild:
den Flakon für „RalletNº1“, den Ernest
Beaux 1914vorgestellt hatte und derver-
mutlich zurückging auf einflaches Gefäß,
das Offiziereder Zarenarmee zurAufbe-
wahrungvonWodkanutzten. Obwohl Po-
lina Shemtschushinadem „Roten Mos-
kau“ später als Krönung einen Kremlturm
verpassen ließ,konntesein Flakon nicht
mithalten mit dem berühmtesten aller
Fläs chchen ,das Kasimir Malewitsch 1911
für einParfüm namens „Sewerny“ (Nord-
licht) entworfenhatteund dessen massi-
verVerschlusseinen Polarbären auf der
Spitze eines Eisbergs darstellte.
Die Karriere, die der „Lieblingsduft der
Zarin “inder Sowjetunion machte,stand
dem Chanel-Erfolg im Westen um nichts
nach. DerZeitgeis tspielteauf der glei-
chenDuftorgel,nurmiteineranderenKla-
viatur.Die Russen wollten sichvom „Ge-
ruch dersterbenden Klassen“ befreien
und nannten ihreParfüms, die jetztvon
staatlichen Seifensiedereien hergestellt
wurden und über deren Komposition
Volkskommissarewachten, „Neue Mor-
genröte“, „GoldeneÄhre“ oder einfach
nur „Freiheit“. „Krasnaja Moskwa“ zählte
zu den begehrtesten vonallen und hielt
sichbis Ende der siebziger Jahre. Den spe-
zifischen DuftsowjetischerParfüms gibt
es heutenicht mehr;inden Duty-Free-Zo-
nen der Flughäfen wurde unser Geruchs-
sinn längstinternationalisiert.
Karl Schlögel erzählt eine ihremWesen
nachasymmetrische Geschichte, bei der
dierussischeSeiteüber beste Au sgangsbe-
dingungenverfügt, am Ende aber schlech-
terabschneide talsderkapitalistischeWes-
ten. Hättedie Revolutionweniger nach
den Ledermänteln derKommissaregero-
chen, hätte „Krasnaja Moskwa“ durchaus
zum Duftdes Jahrhundertswerden kön-
nen. Leiderlässt bei allererzählerischen
Brillanz,die der LeservondiesemAutor
gewohnt ist, diekompositorische Strin-
genz mitunter zu wünschen übrig,was
eine Reihe unnötiger Brüche und ärgerli-
cher Redundanzen zurFolgehat.Aber das
kann kein wirklicher Einwand seingegen
ein Buch, das derKunstder Leichtigkeit
huldigt undstetsaufsNeue die Ästhetik
über dieWeltanschauung triumphieren
lässt. THOMAS KARLAUF

ThomasVašek:
„Schein und Zeit“.
Martin Heidegger und
Carlo Michelstaedter.
Aufden Spuren einer
Enteignung.
Matthes&Seitz Verlag,
Berlin 2019.
320 S.,geb., 28,– €.

Christian Goeschel:
„Mussoliniund Hitler“.
Die Inszenierung einer
faschistischen Allianz.
Ausdem Englischenvon
Ulrik eBischoff.
Suhrkamp Verlag,
Berlin 2019.476 S.,
Abb., geb., 28,– €.

Karl Schlögel: „Der Duft
der Imperien“. Chanel Nº 5
undRotesMoskau.
CarlHanser Verlag,
München 2020.
221 S.,Abb., geb., 23,– €.

Den großen Worten musstenTaten folgen


Achsenrhetorik:ChristianGoescheluntersuchtdieGeschichtederAllianzzwischenBenitoMussoliniundAdolfHitler


Diktatoren amTeetisch: Mussolini und Hitler bei einemTreffen1937 Foto PictureAlliance

Geschichteaus

dem Zerstäuber

Das berühmteste aller Fläschchen:Kasimir Malewitschs Flakondes Eau de Cologne „Sewerny“ FotoKarlSchlögel /CarlHanser Verlag

Begriffe in


Bewegung


ThomasVašek hat


HeideggerinVerdacht


Olfaktorische Internationale:


Karl Schlögelfahndet


nachdem Aroma


der russischen


Revolution.

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