Frankfurter Allgemeine Zeitung - 21.02.2020

(ff) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton FREITAG,21. FEBRUAR2020·NR.44·SEITE 11


Foto Estat eofCarolee Schneemann,

VG Bild-Kuns

t

A

ls die amerikanischeKünstle-
rinCarolee Schneemann 2019
im Altervon79Jahren inNew
York starb, hattesie nochdie
Anerkennungder breiteren Öffentlichkeit
erlebenkönnen,die ihrem Schaffenge-
bührt. Das Museum der Moderne in Salz-
burgrichte te der Performancekünstlerin –
die sic hselbststets als eine Malerin gese-
hen hat–2016 eineRetrospektiveunter
demTite l„KinetischeMalerei“aus,dieda-
nachins Museum für ModerneKunstin
Frankfurt ging. Bei derVenedig-Biennale
2017 erhielt Schneemannden Goldenen
Löwenfür ihr Lebenswerk. Anschlüsse an
ihrSchaffen,dasmaßgeblichdiefeministi-
sche Avantgarde mitgeprägt hat, sucht die
Ausstellung „Uptoand Including Limits
(Bis zu den und einschließlichder Gren-
zen):After CaroleeSchneemann“ im Mu-
zeum Suschims chweizerischenGraubün-
den.DieKuratorinSabineBreitwieser,die
schon die Schau für Salzburgeinrichtete,
vereint sechzig Arbeiten vondreizehn
Künstlerinnen undKünstle rn in derAus-
einandersetzungmit Schneemann, von
der zehn wichtigeArbeiten zu sehen sind.
Es beginntmit de mgemalten„Self Por-
trait “der Fünfzehnjährigenvon1954/
und führt–über dieAuseinandersetzung
mit Jackson Pollock oderWillem deKoo-
ning –zu„ Controlled Burning:Fireplace“
von1963/64, einer symbolisch aufgelade-
nen verbrannten Holzkistemit scharfkan-
tigen Glas-und Spiegelscherben, diean
die Kästen vonJosephCornel lerinnert.
Der Schwerpunkt liegt auffotografischen
und filmischen Dokumentenvon Schnee-
mannsPerformancesvorPublikum. Eine
SonderstellungnimmtderSechzehn-Milli-
meter-Film „Fuses“ (Zündschnüre)von
1964/67 ein, für den eineKameraaus
wechselnden Blickwinkeln sie und ihren
Mann beim Sexaufnimmt, mitunteraus
der Perspektiveihrer Katze „Kitch“.Was
heuteals ein Hauptstückdes feministi-
schen Experimentalfilms gilt, isteine da-
mals auchunter Frauen umstrittene Mate-

rialcollage, vielfachüberarbeitet mit Feu-
er,Säureund Farbe. Wilder, mit mehr
Witz wardie Ambivalenz der–erkämpf-
ten, genießenden,erwünschten –Ge-
schlechterbefreiung kaum zu markieren.
Die Ausstellung sucht ihreAnschlüsse
dort, wo esinderNachfolgeSchneemanns
um den physischen Einsatzgeht.Der Titel
beziehtsichauf eine SerievonPerfor-
mances in den Siebzigern, bei denen sie in
einem Gurthängend ihrenKörper zum
Werkzeug fürStricheund andereSpuren
im Raum machte, einstundenlangerZei-
chenvorgang: Sie agierte, so sagt sie es, als
„direk teNachfolgerin vonPollocksverkör-
perlichtem Malprozess“. Den direktesten
Bezug darauf nimmtder noc hjungeMat-
thewBarne ymit seinen zwei Jahrzehnte
später ,EndederachtzigerJahre,begonne-
nen „Drawing Restraints“. DieVideoszei-
genihninseinemAtelier,woersichoffen-
sic htlichabsurde Hindernisse in denWeg
legt, etwa beimVersuch, eineWand hoch-
zuklettern.Dasist,wohlvonBarneybeab-
sichtigt, nicht ohneKomik,zugleic h„Ac-
tion Painting“ der speziellenArt.
Mitph ysischerwiepsychischerAnstren-
gungverbundenist,gutzwanzigJahrespä-
ter, eine derPerformancesaus derReihe
„21 Pornographies“von Mette Ingvartsen.
Der mehr als eineStunde dauerndeFilm
aus dem Jahr 2017, in dem die dänische
Tänzerin und Choreographin, nackt allein
aufderBühnevorPublikum,pornographi-
sche Gesten andeutet,erzwingtnichtsteu-
erbareEmotionen. An die Museumsbesu-
cher delegiertist jetzt derKonnexvon
Schneemanns Aktionskunstund Ingvart-
sensAufführung. Das Problemist weniger
die zeitliche Distanz vonvier Jahrzehnten
als derUmgang mit dem eigenen sexuali-
siertenKörper,der bei Ingvartsenetwas
Zwanghaftesbekommt.
In den ProvokationenCarolee Schnee-
manns nistetnicht selten eine intelligente
Ironie.Undsie warbesten sinformiert
über die herrschenden Theorien, zumal
zur weiblichen Sexualität.Letzteres gilt
auch fürdieamerikanischeKünstlerinAn-
drea Fraser,deren Markenzeichen die In-
stitutionskritik ist. In ihrem Sechs-Minu-
ten-Video „LittleFrank and His Carp“
(Der kleineFrankund seinKarpfen) von
2001befolgtsiedieoffenbargrotesken An-
weisungendesAudioguidesimGuggen-
heim-Museum in Bilbao zuFrank O. Geh-
rysBau. Die Aufforderung schließlich, die
Museumswände zustreicheln, nimmt sie
wörtlich, entsprechend der Anstößigkeit
der Sprache des Geräts. Mit Standbildern
dokumentiertist Frasers„Untitled“ -Ar-
beitvon2003,fürdiesiegegenVorauszah-
lung in einem Hotelzimmer den Beischl af
mit einem Sammlervollzog, der dann die
erste(vonfünf) Kopie des Videomit-
schnitts erhielt.Den Vertrag dazuhatte
FrasersGaleris tausgehandelt.Derartige

analogisierende Strategien überholen sich
dann docheinfac hzuschnellselbst.
Eine Traditionspflegeganz individuel-
lerNaturbetreibtdieÖsterreicherinKatri-
na Daschner,mit ihremverwirrend ästhe-
tischenRückgriffauf desWiener Arztes
Arthu rSchnitzler„Traumnovelle“ von


  1. In ihremVideo „Pferdebusen“von
    2017 verschmilzt sie erotischaufgeladene
    Bildervon Frauenleibernund Pferdekör-
    pernmit Phantasien aus Lederzeugzum
    surrealenLipizzaner-(Alb-)Traum–und
    zum schamloskultivier tenSehvergnügen.
    Vondortführtdurchaus einroter Faden
    zurückzuCarolee Schneemann, die, jen-
    seitsallgemeinerAufmerksamkeitsökono-
    mie, längstdem Kanon einerKunstge-
    schichte der–zumal feministischen–Per-
    formanceeingeschriebenwar. Dabeihatte
    sieeinengravierendenVorteil;ihr eAnfän-
    ge fallen ineineinzigartiganregendesUm-
    feld: vonden Ausläuferndes Surrealismus
    über dieAbstraktenExpressionisten, hin
    zuRobertRauschenberg und der amerika-
    nischenPop-Ar t–Anreizegenug, zumal
    für kühnen Widerstand.
    Hinzukommt,was sic hmit „NachCaro-
    lee Sc hneemann“ imTitelder Ausstellung
    andeu tet, die eben nicht die üblichen Ver-
    dächtigenwie Valie Exportoder Cindy
    Shermanaufruft,sondernsichauf die
    schwierigeren Nebenwege macht:Wie
    starknämlic hgeprägt SchneemannsWerk
    vonihrer Persönlich keit, vonihrer physi-
    schenPräsenzwar;siewarnichtzuüberse-
    hen, wasihr zu weilen alsnarzisstische
    Selbstdarstellungangekreidetwurde. Esist
    schwierig für dieNach geborenen, diesen
    doppeltenVorsprung–des his torischen
    MomentumsundderAusstrahlung–einzu-
    holen .Die Ge fahr des schnellenAlterns
    einigerder neueren Ansätze liegt aufder
    Hand;wasnicht zuletzt dengrundle gend
    veränder tenmediale nBedingungenge-
    schuldetist.Undgeradedieseinner eSpan-
    nung macht dieAusstellung im Muzeum
    Suschsoanspruchsvoll und anregend.
    Vorgut einem Jahr eröffnete die polni-
    sche Unternehmerinund Kunstsammle-
    rinGrazynaKulczykdasHausindemklei-
    nen OrtimUnterengadin(F.A.Z. vom16.
    Januar 2019).Neben denständigenWer-
    kenaus dervonihr gegründetenStiftung
    isteszugleic hKunsthallefür wechselnde
    Ausstellungen, deren Schwerpunkt auffe-
    ministischen Positionenliegt.Esent-
    spricht demKonzept,Fragen zustellen,
    Diskussionenherauszufordern.Dieaktuel-
    leSchaubelohntihr Publikummit sattsam
    Stoff zur vertieftenReflexion–indieser
    kühlen Höhenluft.


Uptoand IncludingLimits:After Carolee
Schneemann.Im Muzeum Susch,Unter-
engadin;bis zum 28. Juni. Es gibtein
kostenloses Begleitheftund eine App,
die durchdie Ausstellungführt.

AusCarolee Schneemanns Serie „EyeBody:36TransformativeActionsforCamera“von1963, Silbergelatineabzugvon

In de rEntschließung des Europäischen
Parlaments„ZurBedeutung deseuropäi-
schenGeschichtsbewusstseinsfürdieZu-
kunftEuropas“2019 is tvon Verfehlun-
gendiverse rLände rbei de rAufarbei-
tungder Vergangenheitdie Rede, aber
nur Russlandwirdnamentlich genann t.
Es sol lsichschuldigbekennen, dass der
sowjetische Totalitarismus gemeinsam
mit de mNS-Totalita rismus den Zweiten
Weltkrieg anzettelteund daher füralle
seine Greuelverantwortlichist,ein-
schließlichdes Holocaust.
Die Erklärung de rEU-Kommissions-
präsidentinvonderLe yen,des Ratspräsi-
dentenMiche lund de sPräsidenten des
Europäischen Parlaments Sassolivom


  1. Januaranlässlichdes 75. Jahrestags
    der BefreiungvonAuschwitz-Birkenau
    beginnt mitden Worten:„Vor75Jahren
    haben die Alliiertendas Konzentrati-
    ons-und VernichtungslagerAuschwitz-
    Birkenau befreit.Damitbeende tensie
    das schrecklichste Verbrechenind er eu-
    ropäischenGeschichte,diegeplanteVer-
    nichtung der Juden.“
    In de rErklärun gwirdnicht erwähnt,
    dass dieRote Armee, die man natürlich
    als Teil der Alliierten Streitkräfte be-
    zeichnenkann,diesesschrecklichsteVer-
    brechenbeende te.Der „Spiegel“ und die
    AmerikanischeBotscha ft in Dänemark
    schriebengar, die Amerikaner hätten
    Auschwit zbefreit .Und die offiziellen
    VertreterPolensundderukrainischePrä-
    siden tSelenskyj, die imKontextder Be-
    freiun gvon Auschwit zdie RoteArmee
    erwähnten, be tonten ,esseienKämpfer
    der 1. UkrainischenFront,der Lw ower
    Division,gewesen. Siedeutetenanoder
    behauptete noffen,esseien ukrainis che
    Truppen gewesen. Dabei wissen sie,
    dassdieFront-undDivisionsbezeichnun-
    gender RotenArmeenicht nachden Or-
    tenihrer Rekrutierungvergeben wur-
    den,sonder nnachihrer Dislokations-
    richtung. Die Lwower Divisionwurde
    aus Einwohnern derRegionen Archan-
    gelskundWologdagebildet.AuchUk rai-
    ner gehörten ihr an. Die Episoden aber
    passen insBild, wonach die Rote Armee
    nur schlechteDingeund keineguten tun
    kann. Der heutige Diskursneigtdazu,
    die OpferundHeldenzunationalisieren
    unddieTäterzu„ sowj etisieren“(oderzu
    russifizieren).
    Beider Befreiung vonAuschwitz
    spielt die (ukrainische) Nationalität
    plötzli ch eineRolle, wenn vonVerbre-
    chen desStalinismus dieRede ist, sowa-
    rendie „Sowjets“, die „Kommunisten“,
    die „Russen“ schuld. DieRussen sollen
    sichruhigärgern, sie benehmensichin
    denletztenJahrensoschlecht.Abermüs-
    sennurdieRussenüberdieInstrumenta-
    lisierung derVergangenheitinihrem
    Landbesorgt sein? Anfangder neunzi-
    gerJahre erkanntenimmer mehr EU-
    Lände rihreVerantwortungfürde nHolo-
    caust an,der einenzentralen Platz in der
    gesamteuropäischen Geschichtserzäh-
    lungeinnimmt.Voraussetzung dieser
    EinstellungzumGedächtniswarein„kri-
    tischer Patriotismus“,der die schambe-
    setzten Aspekteder nationalenVergan-
    genheit in denBlick nimmt.Das macht
    einNarrativ,dassic haufdieLeidenoder
    Siege der eigenenNation konzentriert,
    unmöglich.EinesolcheEinstellung setzt
    „Vergangenheitsbewältigung“ voraus,
    ein Streben nachDialog, derWidersprü-
    cheüberwindetodermildertund die
    Wahrheit sichtbarer macht.Leider ha-
    benwirunsvoneiner„dialogischenErin-
    nerung“, diedieLeiden des„Anderen“
    anerkennen will,weit entfernt.


SicherheitsfaktorGeschichtspolitik
Die globale Gedenkkultur mit demAk-
zentaufderPolitikderReuewurdeabge-
löst vonalten ideologischenSchablo-
nen.Ziel der Aktualisierung derVergan-
genheit istheutedie VerteilungvonOp-
fer-,Helden- undTäterrollen.Esist das
typis cheInstrumentariumzurIdentitäts-
konstruktion einesNationalstaats, nun
aberauf der Ebene Gesamteuropas.
Der Terminus „Geschichtspolitik“,
der in Deutschland in denachtzigerJah-
renaufkam, umdieeigennützigeEinmi-
schun gvon Politiker nindie Sphäreder
Geschichte undkollektiven Erinnerung
zu verurteilen, wurde2004inPolenals
„polityka historyczna“wieder geboren,
erhiel taber eine neue, positiveBedeu-
tung. Esgeht nun um dieKonfrontation
politis cher Opponenten,wobei de reine
siegenund der andereverlie rensoll. Für
Dialog,gemeinsame Interpr etatio nist
kein Platz, wieauchfür die Suche nach
geschichtlicher Wahrheit nicht. Beide
Seitenbedienen sichFakes oderwählen
aus demgroßen ,komple xenBild nur
Fakten, dieihnennützen.Obendrein gilt
die Erinnerungspolitik als sicherheitsre-
levant für Staaten, Nationen, dieDemo-
krati eund di eEuropäischeUnion.
Früher suchten beim Gesprächmit
denNachbarnDeutscheVersöhnungmit
Franzosen,Russen,Polen,aberauchRus-
sen mitPolen.Heute erwartet man Ag-
gressio nund Versuche, dieEinheitder
Gemeinschaft,der Nation, Europas, auf-
zubrec hen. Die Gedächtnisarbeit,die
Westeuropa seit den Sechzigern müh-
sam aufgebauthat, wurde durch die ost-
europäischeZugangsweise verdrängt,
diedieeigeneNationzumHauptopferer-
klärt undalleVerant wortung fürdie
dunklen Seiten der Geschichte, ein-
schließlichdes Holocaust, denanderen

zuweist. Zentral wurdedie Erzählung
vonden beidenTotalitarismen,vonde-
nenalle Übel de szwanzigsten Jahrhun-
dertsausgin gen.
Deshalb will man inPolendem Histo-
rikerJanGross,derBücherüberJedwab-
ne un düber denpolnis chen Antisemitis-
musverfassthat, seinestaatlicheAus-
zeichnungaberkennen, deswegensteht
derHistorikerJan Grabowski wegendes
Vorwurfs vorGericht, seineZahlen der
währendderOkkupationvonPolengetö-
tete nJudenseien zu hoch.Deswegen
wirdinLitauengege nRutaVanagaitege-
hetzt, dieeinBuchdarübe rschrieb,wie
Litauer1941ihrejüdischenNachbarnbe-
raubten. Deswegen wurden inallen Län-
dern Osteuropa sGesetz everabschiedet,
die Aussagen über dieVergangenheit re-
geln. ImUnterschied zu Gesetzen, die
das Leugnen des Holocaustverbie ten,
wird nun verboten, nationale Helden
„anzuschwärzen“,dasheißt,ihreBeteili-
gung am Holocaustzue rwähnen.
oder späterkameneinigeimKampf ge-
gendie Sowjetmachtum. Dochdas
machtihreBeteiligung am Holocaust
nicht ungeschehen.Inder Geschichte
desZweiten Weltkrieges istdas He-
roischeoft mit demVerbrecherischen
verflochten.Aber imFall de rRussen
liegtderAkzentjetztimmeraufdemVer-
brecherischen ,inallen anderenFällen
hingegen auf demdes He roischen.

Streit über Denkmale für Opfer

Niemandredet mehr vonden Vergehen
derautoritärenRegime derZwischen-
kriegszeit. Dabeimussten in Polenda-
mals jüdischeStudentenauf separaten
BänkenimHörsaalsitzen.DerneueBür-
germeistervon Budapestwillein Denk-
malfüralleFrauenerrichten,dieGewalt-
opfer wu rden,wobei er sagt,dasservor
allem dieSoldaten derRotenArmee
meint .EinDenkmalfürdieOpferderun-
garischen Armee im Ostengibt es nicht.
In Deutschlandgibteskein Denkmalfür
dreieinhalb Millionen sowjetische
Kriegsgefangene, die in NS-Gefangen-
schaf tstarben. Dafür wirdein Denkmal
fürdie Op ferdes Vernichtungskriegs im
Ostendiskutiert. DiePolen sindgegen
ein gemeinsamesDenkmalfür ihr eund
die sowjetischen Opfer.Dem stimmen
viele Deutschezu, ob wohl eine ähnliche
Strategie vonPolens rechtsnationalisti-
scher Regierung,die zur Liquidierung
desMuseumsdes ZweitenWeltkriegs in
Danzigführte,inDeutschlandberechtig-
te Empörunghervorrief.Das Museum,
alsPlattfor mfür die Erinnerung ver-
schiedener Länder konzipiert, wurde
nach dem Wahlsieg der PiS im Sinne ei-
nespolnisc henNarrativs umgemodelt.
Im Vorwortzui hrem Buch„Beyond
Totalita rianism“ schrieben die Histori-
kerMichael Geyerund Sheila Fitzpa-
tric k2008, es seilegitim ,Stalinismus
und Nationalsozialismuszu vergleichen,
aber falsch, beidegleichzusetzen. Würde
man jemanden, derheutesoetwas sagt,
einenPutin- Versteher nennen?Auch in
Deuts chland istesschwierigergewor-
den, überdie Vergangenheitzureden.
DiealteErzählungvomZweitenWelt-
krieg beschwieg vieles.Polen gefälltes
nicht,wenn man daran erinnert, wie
starkder AntisemitismusimZwischen-
kriegspolenwar, wiesichdas im Holo-
caustund sog ar später auswirkte.Vielen
Russen gefälltesn icht ,wenn man ihnen
sagt,dassdie Rote Armee nichtimmer
als Befreierwahrgenommen wurdeund
nicht immer Befreierwar. Vielen Deut-
schengefällt es nicht, wenn man ihnen
eine politischmotivier te,selektiveErin-
nerung vorwirft.Amerikanern gefällt
nicht,wenn si ehören, dass die Bombe
über Hiroshima abgeworfen wu rde, um
sieanMenschenauszuprobierenundSta-
lineinenSchrecken einzujagen.Die Fra-
ge,warum Dresden zerstört undandere
deutsc he Städte mit derZivilb evölke-
rungverbranntwerdenmussten,is tEng-
länder nunangenehm.Franzosenund
Norweger nfällt es schwer,zuzugeben,
dass es lange mehrNS-Kollaborateure
gabals Widerständler.
UnserGedenkenandenZweitenWelt-
krieg bleibt unvermeidlic hunvolls tän-
dig, nichtnur unternationalenVorzei-
chen.Die Kommunisten, die zum Bild
derTäter geworden sind,warenauch
eine Hauptopfergruppedes Nationalso-
zialismus undspielten imWiderstand
eine wichtigeRolle. Es darfbezweifelt
werden, ob wirdurch denErinnerungs-
krieg einerganzheitlichen Wahrhei tnä-
herkommen, die sowohl da sberücksich-
tigt, auf daswir gern stolz sind, als auch
das, wofürwir uns schämen sollten.Im
Krieggelten Kriegsregeln, es gibt nur
Freundund Feind,kein Einerseits/Ande-
rerseits.Wir sin dnur Opfer,die anderen
nurTäter .Wennwir in diesen Krieg ein-
treten, können wirVerzerrungen nicht
mehr erkennen. DenKrieg wir dkeiner
gewinnen. Dafür haben wir dasVertrau-
en verloren, das über Jahrzehnte aufge-
baut wurde, und die Möglichkeit eines
selbstkritischen Blicks aufdie Vergan-
genheit .Aber werleistetsichSelbstkri-
tik, wenn derFeind vorden Torensteht!

Ausdem Russischen vonKerstin Holm.

AlexeyMilleristGeschichtsprofessorander
EuropäischenUniversität in SanktPetersburg
und leitet dortdas Forschungszentrum für
Kulturelle Erinnerung und Symbolpolitik.

Jetzt istder Stein in sRollen gekom-
men,nachdemam23.JanuardieBerli-
nerBeuth-Hochschule fürTechnik be-
schlo ssen hat, ihrenNamen zu än-
dern.Die Initiativedazuwar au sder
Hochschule selbst gekommen. Der
preußischeBeamte PeterChristian
Wilhelm Beuth,seit 1819Direk torder
Technische nDeputation fürGewerbe
undInitia torder Ge werbeausbildung,
gilt aufgrund vonForschungendes
GermanistenPeterN ienhauszurDeut-
schen Tischgesellschaftals Antisemit.
Erst jetzt entdecktman of fenbar, dass
sehr vielinBerli nanBeuth erinnert.
Beuth besitzteinEhren grab des
LandesBerlinaufdemDorotheenstäd-
tischenFriedhof .1861 wurde ihm ein
Standbil dauf de mPlatz vorder Bau-
akademie errichtet, da serst2008 wie-
dererricht et wurde. Ein zweites Denk-
mal in Überlebensgröße wu rde
vordemGebäudedesDeutschenInsti-
tuts fürNormunginder Bu rggrafen-
straße aufges tellt.1981 erschien eine
Sondermarke derLandespostdirek-
tion Berlin.Esgibt zwei Beuthstraßen
in Berlin,die im BezirkPankow soll
jetzt umbenanntwerden, beider in
Mittewirdes„nichtausgeschlossen“.
Vornicht allzulangerZeitwäre dies
kaum vorstellbar gewesen. In zwei der
wichtigs tenAusstellungenWest-Ber-
lins im Martin-Gropius-Bau,der Preu-
ßenausstellun g1981 und derSchau
zumStadtjubiläum 1987,erinner ten
mehrereObjekt eanBeuth, in einem
zurPreußenausstellun gvon Peter
Brand tediertenQuellenbandzurSozi-
alges chicht ePreußenswareineRede
vonBeuth zur „ Förderung des Gewer-
befleißes“wiedergeben. ImOstteil der
Stadtwar Beuth,erstrecht in den
durchauspreußenaffinenspätenHone-
cker-Jahren,nicht minderpräsent;die
1987 vonder Akademieder Wissen-
schaf tender DDR herausgegebene
Stadtgeschichte„Werte unserer Hei-
mat“ sprachBeuth Verdienste bei der
Verbindung von„Wissenschaft und
Produktion“ zu. ZweifelhafteLobred-
nerimNationalsozialismus besaß
Beuth offenbar nicht.
Ironische rweise gingder Name der
Berliner Beuth-Hochschulegarnicht
aufeine offizielle Ehrung zurück; zu
denVorläu fereinrichtungen der Hoch-
schul egehörte aucheine1909 gegrün-
deteprivate Technische Mittelschule,
die denNamenals Synonym für an-
wendungsbezogeneStudiengewählt
hatte.Nach demZweiten Weltkrieg
wurdeninWest-Berlinmehreretec hni-
sche Lehranstalten zu denStaatlichen
Ingenieurschulen „Gauss“ und
„Beuth“zusammengefasst;die Namen
fielen in densiebzigerJahren mit der
Gründung derTechnischen Fachhoch-
schul e1971 mehr zufällig unterden
Tisch, zwischenzeitiggabesauchPlä-
ne,alleWest-Be rlinerHochs chulenzu
zwei Gesamthochschulen mit den
phantasievollen Namen„Nord“und
„Süd“ zusammenzufassen.Erst
erinnerte sichdie TechnischeFach-
hochschule wieder an Beuth. Die anti-
semitischen oder antijudaistischen
Tischredenvon Beuthwarendamals
nicht näherbekannt.
Jetzt istmit Selbstverständlichkeit
vom„Antisemiten Beuth“dieRede;
fast könnteman denken, Beuth seiim
HauptberufpolitischerAgitatorgewe-
senoder al ssolchergeehrt word en.
Dabeigehörte Beuth überhauptnicht
zudenPersonen,andenensichdasna-
tionale odergarvölkis chewilhelmini-
sche Bürgertum aufrichtete,auch
wenn ihn die „Gebildeten“ sicheralle
kannten. Beuthgehörteetwazuden
„Helden“ derborussophilenNeigun-
genabholden „DeutschenGeschichte
im 19. Jahrhundert“des katholischen
His torikers Franz Schnabel.
Dieser würdigte den Rheinländer
Beuth 1934als Vertreterder westli-
chen Provinzen PreußensundKon-
trastfigurzuden russophilenReaktio-
närenimpreußischenStaatsapparat;
Beuthwurde1781inK leve amNieder-
rhein geboren,wo 2018eine Gedenk-
tafelfür Beuth aufgrund der Berliner
Diskussion abgehängt wurde.Die Be-
liebtheitvonBeuthin denNach kriegs-
jahren hat ihren Grund auch darin,
dass in ihmeinVert reterdes „anderen
Preußen“gesehenwurde,einZivilinge-
nieurohneVerbindung zumMilitäri-
schen .Auchsein Plädoyer fü ranwen-
dungsbezogeneWissenschafterschien
manchen als eine früheVoltegegen
denakademischen El fenbeinturmund
denuniversitären Standesdünkel.
Dassbislang auch diesensibl en „Ge-
schichtswerkstätten“nie di eEhrun-
genBeuths imVisierhatten ,über-
rascht da nicht.
IstBeuth erst ein Anfang? Zu den
MitgliedernderDeutschenTischgesell-
schaf tgehörtenauc hSchinkelundCle-
mensBrentano, an den in Berlin eine
Grundschule erinnert.Nach Brenta-
nos SchwesterBettinawurde 1991 das
bisherige Schlieffenufer benannt,das
wareineZeit,indermannochglaubte,
ein „gutes“ und ein „böses“ Preußen
trenns charfunterscheidenzukönnen.
Der Ehemannder Dichterin, Achim
vonArnim, wareinerder Gründer der
Deutschen Tischgesellschaft.Vieles,
wasindiesem Milieugedacht oderge-
redetwurde, erscheint heutenicht
mehr als angemessen. MARTINOTTO


Die wilde Logik des Leibs


In Prag haben die Arbeitenzum Wieder-
aufbau der Mariensäule auf dem Altstäd-
terRing begonnen.Der Platz imZentrum
der tschechischen Hauptstadt is tinsbeson-
derebei ausländischen Touris tenbeliebt.
Die Säulewurde 1650vomrömisch-deut-

sche nKaiser Friedrich III.gestiftetund er-
inner tandie Befreiung Prags vonden
Schweden nachdem Dreißigjährigen
Krieg. Im November 1918 wurde die Säule
entfernt.Sie galt nac hdem Zusammen-
bruc hder Habsburgermonarchieund der
Gründung derTschechosl owakei als Sym-
bolderhabsburgischenHerrschaftundder
katholischenKir che.DerdieWiedererrich-
tung ausführende Bildhauer Petr Váňa
zeigte sich gegenüber demTschechis chen
Rundfunkoptimistisch,imZuge derersten

Grabungen den historischen Grundstein
von1650 zufinden.Váňahat zwei Jahr-
zehnte an dem Imitat der Säulegearbeit et.
Im Maivergangenen Jahres unterband die
Polizei seinenVersuc hder Neuinstallation
auf de mAltstädter Ring (F.A.Z.vom 29.
Juni2019).ImJanuarrevidierte dasP rager
Stadtparlamentjedoch seine zuvor a bleh-
nendePositionund stimmt edem Wieder-
aufbauderSäulezu,diefü rKritiker weiter-
hinSymboldergewaltsamenRekatholisie-
rung is t. niz.

Ihrseidnur Opfer,


wir sind nurTäter?


Folgenreich:EuropasneueGedenkkultur siehtdas


Leidder Anderen nichtmehr/VonAlexey Miller


Beuth,


abmontiert


Berlin trenntsichvon


seinem Bürgerhelden


Über die Grenzender


Körper:Die Ausstellung


„Uptoand Including


Limits :After Ca rolee


Schneemann“liefert


Nahrung für den Geist.


VonRose-Maria Gropp,


Susch


Prag errichtet


Mariensäule neu

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