Montag, 9. März 2020 ∙ Nr.57 ∙ 241. Jg. AZ 8021Zürich∙ Fr .4. 90 ∙ €4.
Gestanzte Sprache: Die Hochschulen fördern intellektuelle Uniformität statt Originalität Seite 8
16 Millio nen Italiener unter Hausarrest
Mailand und die Lombardei abgeriegelt zur Eindämmung des Coronavirus – Italiens wirtschaftlicher Motor steht still
Ministerpräsident Conte ordnet
strenge Sofortmassnahmen
für den Industriegürtel in
Norditalien an. Die Zahl der
Corona-Opfer schnellt innert
24 Stunden um 133 in die Höhe.
ANDRESWYSLING,ROM
Die italienischeRegierung hat ganz Mai-
land und die Lombardei und noch wei-
tere Gebiete Norditaliens zur Sperrzone
erklärt. Ministerpräsident Giuseppe
Conte erklärte in der Nacht auf Sonntag
an einer Pressekonferenz: «Diese Mass-
nahmen werden Unannehmlichkeiten
bringen, aber dies istderMoment der
Selbstverantwortlichkeit.» Es gehe vor
allem darum, die Gesundheit der Gene-
ration der Grosseltern zu schützen. Bis-
her ist es Italien nicht gelungen, die
Corona-Epidemie einzudämmen.Viel-
mehr stieg die Zahl der Neuansteckun-
gen in den vergangenenTagen immer
stärker an. Am Sonntagabend meldete
das Gesundheitsministerium 6387 be-
stätigte Infizierte und 366 Opfer des
Coronavirus, 133 mehr als amVortag.
Die neuen Massnahmen betreffen
ein ausgedehntes Gebiet südlich der
Schweizer Grenze,nämlich die ganze
Lombardei und 14 weitere Provinzen–
von Asti imWesten bisVenedig im Os-
ten und auch das Gebiet um Rimini wei-
ter im Süden. Das Betreten undVerlas-
sen dieser Zone ist im Prinzip verbo-
ten.Ausgenommen sindPersonen, die
an ihrenWohnsitz gelangen wollen.Das
gilt auch für SchweizerTouristen oder
Geschäftsreisende auf der Heimfahrt.
Es besteht laut Contekein absolutes
Ausgehverbot, aber ein Gebot «redu-
zierter Mobilität». Innerhalb der Sperr-
gebiete sollen die Leute nur noch im
zwingendenFall auf die Strasse gehen.
Zur Arbeit zu gehen, ist erlaubt, aber den
Betrieben wird empfohlen,auf Smart
Working umzustellen oderFerien anzu-
ordnen. DiePolizei kannPassanten an-
halten und nach Hause schicken, falls
diese unbegründet unterwegs sind.
Patienten in Quarantäne dürfenkei-
nesfalls aus dem Haus. Kranke mitFie-
ber über 37,5 Grad und Atembeschwer-
den sollen daheim bleiben und den
Hausarzt anrufen. Die neuen Anordnun-
gen sollen zunächst bis zum 3.Aprilgel-
ten. Bei Zuwiderhandlung drohen bis zu
drei Monate Haft oder 206 Euro Busse.
Reisewelle nach Südendroht
In den Sperrgebietenkönnen dieLaden-
geschäfte geöffnet bleiben,ebenso die
Gaststätten, diese aber nur von 6 bis 18
Uhr. Die Betreiber müssen dafür sorgen,
dass zwischen allenPersonen ein Sicher-
heitsabstand von einem Meter eingehal-
ten wird. Einkaufszentren bleiben übers
Wochenende geschlossen, an Arbeits-
tagen müssen sie ebenfalls für Sicher-
heitsabstand sorgen. Gottesdienstekön-
nen stattfinden, wennin den Kirchen der
Sicherheitsabstand eingehalten wird.
Nicht nur in den Sperrgebieten, son-
dern in ganz Italien wird allen «empfoh-
len», zu Hause zu bleiben und dieeigenen
vierWände nur im Bedarfsfall zu verlas-
sen. Dies gilt besonders für jene, die bei
einerAnsteckung mit dem Coronavirus
besonders gefährdet sind. Sämtliche
grösserenVersammlungen undVeran-
staltungen sind untersagt. Schulen und
Universitäten haben den Betrieb einge-
stellt, sie sollen aufFernunterricht um-
stellen. Kinos, Museen, Theaterbleiben
geschlossen, Sportanlagen undFitness-
zentren ebenso, alle Sportanlässe sind
abgesagt. Der öffentlicheVerkehr jedoch
funktioniert im ganzenLand weiter. Die
Fahrzeuge sollen häufiger geputzt und
desinfiziert werden.
Ministerpräsident Conte hat die
neueVerfügung in der Nacht auf Sonn-
tag unterschrieben,sie wurde sofort in
Kraft gesetzt. Zuvor schon war ein vor-
läufiger Entwurf durchgesickert und von
verschiedenen Medien sogleich alsTat-
sache dargestellt worden. Conte zeigte
sich darob verärgert; Unsicherheit und
Verwirrungkönne man jetzt nicht brau-
chen. Die bisherigen «gelben» und
«roten Zonen» werden aufgehoben.
Mehrere Regionen in Süditalien
haben in eigenerKompetenz angeord-
net, dassReisende aus den nördlichen
Sperrgebieten für zweiWochen in Qua-
rantäne müssen. Die dortigen Behörden
befürchten offenbar eine massenhafte
Rückkehr von Arbeitsmigranten,die
vor demVirus in diealteHeimat flüch-
ten wollen.Das eröffnet die Gefahr, dass
die Epidemie verstärkt in den bisher we-
nig betroffenen Süden getragen würde.
Regierung imBlindflug
Die verantwortlichen Politiker agier-
ten in den vergangenen zweiWochen
im Ungewissen und Ungefähren, wie
auf Blindflug im Nebel. Siekonnten die
Risiken des Coronavirus kaum einschät-
zen, ihnen fehlte der Überblick.Auf der
Grundlage von unzuverlässigen, unvoll-
ständigen, widersprüchlichenDatenund
Empfehlungen mussten sie unter Zeit-
druck weitreichende Entscheide treffen.
Falsche Einschätzungen und Entschei-
dungen sind unter solchen Umständen
kaum zu vermeiden. Sie zukorrigieren,
ist in einem Klima gegenseitiger Schuld-
zuweisungen jedoch schwierig.
Ministerpräsident Conte hat inder
Krise meist kühlenKopf bewahrt und in
der öffentlichenWahrnehmung an Sta-
tur gewonnen. Die innerlich wenig ge-
festigteRegierung hat sich zusammen-
gerauft, sie hat ihrePosition und ihrAn-
sehen verbessert.Was im Kampf gegen
dasVirusrichtiggemacht wurde und was
falsch, wird man ohnehin erst imRück-
blick abschliessend beurteilenkönnen.
Es beginnt jetzt zudem der Kampf gegen
die drohendeRezession. Die Europäi-
sche Union ist bereit zu einer Lockerung
der Budgetdisziplin im Hinblick auf Son-
derkosten wegen der Corona-Krise.
Eine schlechteFigur machte der An-
führer derRechtsopposition, Matteo
Salvini. Zuerst forderte er die Schlies-
sung der Grenzen, er warf derRegie-
rung vor, Italien gegen dasVirus «nicht
zu verteidigen». DreiTage später be-
schuldigte er sie, mit übertriebenen
Massnahmen die italienischeWirtschaft
zu schädigen.Dann nahm er einen An-
lauf, Conte zu stürzen, doch er fand
keineVerbündeten für seinVorhaben.
Die Züge verkehrenin Italien noch wiegewohnt,werden aber häufiger geputzt und desinfiziert. CESARE ABBATE / EPA
Corona-Krise
Grenzgänger: 68000 Pendler vom
Reiseverbot ausgenommen. Seite 2
Italien:Ökonomen warnenvor einer
Liquiditätskrise. Seite 3
Indien:Die Lungenkrankheit trifft auf
ein marodes Gesundheitssystem. Seite 3
Rohstoffe:Das Virus drückt die Preise
für Erdöl und Industriemetalle.Seite 17
Venedig:Der Untergang droht der
Lagunenstadt auch ohneVirus. Seite 25
Engadiner:Der Skimarathon findet im
privatenRahmen statt. Seite 30
Eishockey-WM:Wettbewerb im Mai in
der Schweiz ist gefährdet. Seite 32
Bern stoppt Crypto-Exporte vorläufig
Nachfolgefirma de r v om CIA gelenkten Crypto AG darf vorerst keine Produkte ausführen
st.· Die Affäreum die von der CIA und
dem BNDkontrollierte ZugerFirma
CryptoAG holt die Nachfolgefirma
Crypto InternationalAG ein. Diese
ebenfalls in Zug domizilierte Unterneh-
mung produziertVerschlüsselungstech-
nik und Produkte für die Cybersicher-
heit und würde diese gern in mehrere
Staaten exportieren.
GemässRecherchen der NZZ sind
beim Staatssekretariat für Wirtschaft
(Seco), der Exportkontrolle des Bun-
des, mehrereAusfuhrgesuche der Crypto
InternationalAGhängig. Diese Begeh-
ren waren laut demFirmenchef Andreas
Linde ursprünglich von zwei General-
ausfuhrbewilligungen abgedeckt. Doch
Wirtschaftsminister GuyParmelin (svp.)
si stierte diese Bewilligungen im Dezem-
ber, bis die offenenFragen um die Crypto
AGgeklärt sind. Derzeit untersucht die
Geschäftsprüfungsdelegation desParla-
ments die Affäre.
Die Crypto InternationalAGwehrt
sich jetzt dagegen, mit derVorgänger-
firma und derenGeschäftspraktiken
gleichgesetzt zu werden. Die Diskussio-
nen bezögen sich auf ein anderes Unter-
nehmen in einer anderen Zeit, mit ande-
ren Besitzern und unterschiedlichen
Produkten, betontFirmenchef Linde.
Nach den Enthüllungen über die Crypto
AGschätzen die Bundesbehörden die
Exportanträge jedoch offenkundig als
politisch heikel ein.
In solchenFällen entscheidet eine
Expertengruppe, an der neben dem Seco
dasAussendepartement, dasVerteidi-
gungsdepartement und der Nachrich-
tendienst beteiligt sind.Kommtkeine
Einigung zustande,kann das Seco den
Bundesrat anrufen. Dies dürfte in die-
sem heiklenFall geschehen – und das Be-
willigungsprozedere in dieLänge ziehen.
Schweiz,Seite 9
Zürcher Stadtpolizei
kontrolliert weniger
Erhöhte Präsenz einzig um das Seebecken
lpa.· Miteiner App müssen die Zürcher
Stadtpolizisten seitFebruar 20 18 erfas-
sen, wann, wo und weshalb sie jeman-
denkontrollieren und ob sich ihrVer-
dacht bestätigt hat.Dank diesenDaten
konnte erstmalseine detaillierte Statistik
derPolizeikontrollen auf Stadtgebiet er-
stellt werden. Die Zahlen für die vergan-
genen zweiJa hre zeigen, dass dieKon-
trollen insgesamt markant zurückgegan-
gen sind – ausser in den Kreisen 7 und 8.
Das Seebecken hat sich zu einerParty-
zone entwickelt, wo es an denWochen-
enden nicht selten zuPöbeleien und
Messerattackenkommt. Deshalb wurde
dort diePolizeipräsenz erhöht.
Die Zahl der Beanstandungen, die
bei der Ombudsfrau der Stadt Zürich
eingehen, hat seit der Einführung der
App aber nicht abgenommen: Der
GrossteilderBeschwerden betrifft wei-
terhin die Art undWeise derKontrolle
sowie die Hautfarbe der Betroffenen.
Zürich, Seite 13
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