Neue Zürcher Zeitung - 09.03.2020

(Steven Felgate) #1

12 RECHT UND GESELLSCHAFT Montag, 9. März 2020


Aus der Lehre


und aus der Praxis


zz.· An dieser Stelle erhaltenJuris-
ten jeweils die Gelegenheit,einen Gast-
beitrag zu verfassen. Mit derRubrik
«Recht und Gesellschaft» will die NZZ
Themen desRechts mehrRaum geben
und Juristen aus der Praxis, aber auch
aus der Lehre eine Plattform bieten.Be-
leuchtet werden aktuelleRechtsfragen,
ein juristisches Problem, einrechtlicher
Missstand oder schlichtThemen,die sich
an der Schnittstelle zwischenRecht und
Gesellschaft bewegen.Auch Nichtjuris-
ten sollen sich von den Beiträgen ange-
sp rochen fühlen. DieRubrik erscheint
zweimal im Monat. Sie finden die Bei-
träge auch im Internet.


Wer anderen hilft, soll keine Nachteile erleiden

Eine erbetene Hilfeleistung ist als Geschäftsführung ohne Auftrag zu qualifizie ren.Von Jean-Marc Sc haller


Fälle im Graubereich von


Auftrag , Gefälligkeit und


Geschäftsführung ohneAuftrag


haben ihreTücken.Das erfordert


eine gesetzesnaheRechtspraxis.


Ein Kunde suchtRat beimBankbera-
ter, Kinder werden von der Nachbarin
gehütet, einPassant hilft einerPerson
in Not.Was haben dieseFälle gemein-
sam? Sie alle spielen sich in einem Grau-
bereich des Privatrechts ab – im juris-
tischen Bermuda-Dreieck vonAuftrag ,
Gefälligkeit und Geschäftsführung ohne
Auftrag (GoA).
Die Kriterien für die Beurteilung,
ob einAuftrag vorliegt, sindrelativ
unstreitig. Entscheidend ist der soge-
nannteRechtsbindungswille und damit
die Frage, ob etwa Interesse an fach-
kundiger Unterstützung, rechtliches
und/oder wirtschaftliches Interesse an
einer Leistungserbringung undkein
verwandt- oder freundschaftlichesVer-
hältnis vorliege. Die Abgrenzung der
GoA von der Gefälligkeit hingegen ist
umstritten. Eine jener Lehrmeinun-
gen besagt, dass eine Hilfeleistung auf
Wunsch,Frage oder Bitte hin die An-
wendung der GoA-Regeln a priori
ausschliesse («Jusletter»-Beitrag vom



  1. September 2013).Daraus wurde eine
    Ar t Formelkonstruiert, wonach «ohne
    Eigenmachtkeine GoA», sondern eine
    blosse «Gefälligkeit» vorliegen soll.
    Damit würden indes die konkreten
    Umstände des Einzelfalls, vor allem die
    Interessenlage, auf der die gesetzlichen


GoA-Regeln beruhen, aussen vor blei-
ben. Doch derReihe nach.
GoA ist Geschäftsführung «ohne
beauftragt zu sein», so die Definition
in Artikel 419 des Obligationenrechts.
Im Gesetz ist jedochkeine Rede davon,
dass es auch an einer unterschwelligen
Bitte zu fehlen hat.Fehlen muss nur der
Rechtsgrund.Auch historisch betrachtet
war die GoA des römischenRechts, die
negotiorum gestio, nicht nur beschränkt
auf Handeln auf eigeneFaust.

Eindeutige Urteile


Ebenso kann aus der bisherigenRecht-
sprechung nicht abgeleitet werden, dass
die GoA bei erbetener Hilfeleistung
automatisch wegfallen soll, im Gegen-
teil: die GoA bejaht hat etwa bereits
das ZivilgerichtBasel-Stadt für eine
ersuchte Hilfeleistung beiTeileinsturz
eines Hauses (Urteil 13. August1969).
Und auch das Bundesgericht lässt bis
jetzt keine Tendenz erkennen, GoA nur

bei «Eigenmacht» zu bejahen, sondern
orientiert sich ebenfalls an der Interes-
senlage (4A_326/2008).
Die gesetzlichenRegeln der GoA
bezwecken denn auch, dass jemand, der
einem anderen in einer Notlage hilft,
keine ungerechtfertigten Nachteile er-
leiden soll.Konkret sehen die GoA-Vor-
schriften einerseitsKosten-,andererseits
Schadenersatz vor, wenn die Geschäfts-
führung geboten(und nicht verboten)
sowie risikobehaftet ist.Das ist nament-
lich derFall bei der erbetenen «Ad-hoc-
Nothilfe»: EinePerson,ein «Rettungs-
Laie», hilft spontan einer anderenPerson
auf deren Bitte hin, wobei sich die Hilfe
auf diePerson in Not (z.B. See-/Berg-
not oder bei Unfällen im Strassenver-
kehr, auf Baustellen usw.) und/oder auf
ihre Güter (z.B. Haus in Brand) bezie-
hen kann. MangelsRechtsbindungswille
(kein professioneller Rettungsdienst)
entsteht in derRegel kein Vertrag. Es
wäre jedoch ebenso unbillig, wenn die
Retterin, wegen einer Qualifikation als

«Gefälligkeit» statt einer GoA,auf ihren
Kosten sitzen und auch sonst entschädi-
gungslos bleiben würde, wenn sie sich
womöglich bei derRettung verletzt. Die
Unbilligkeit in dieseFrage gepackt:Wes-
halb soll diejenige, die auf Bitte hin hilft,
schlechter gestellt sein als derjenige, der
auf eigeneFaust handelt?
Dass ausserdem bei einer gesetz-
lichen Interventionspflicht dennoch
eine GoA vorliegen kann, wird ge-
meinhin bejaht: So ist etwa die Not-
hilfepflicht im Strafgesetzbuch abhän-
gig davon, ob unmittelbare Lebens-
gefahr besteht und eine Hilfe auch zu-
mutbar ist. Der Helfer müsste indessen,
um rechtlich auf der sicheren Seite zu
sein, all dies in Erwägung ziehen, allen-
falls innert Sekunden – Sekunden, die
fehlen, um Leben zurett en.
Ebenso problembeladen wäre es,
würde man die GoA entlang der be-
sagten Lehrmeinung vomFehlen einer
Bitte, eines Hilferufs oder Ähnlichem
abhängig machen.Das führte etwa

dazu, dass bei einem (Hilfe-)Schrei
kein Kostenersatzgeschuldet wäre. Und
au ch der Ersatz eines bei der Hilfeleis-
tung erlittenen Schadens des Helfers ist
nicht sicher. Zwar wendete das Bundes-
gericht in einemFall die Schadenersatz-
regel der GoA auch auf eine Gefällig-
keit an (129 III181). Ein heutiger Hel-
fer muss aber darauf bauen, dass das
Bundesgericht auch in seinemFall die
GoA-Regeln erneut analog anwendet,
obwohl, nach eingangs erwähnter Lehr-
meinung, keine GoA, sondern eine Ge-
fälligkeit vorliegt.

Ersatzdes Schadens geschuldet


Das erscheint nicht nur angesichts einer
solch aussergesetzlichenRechtsanwen-
dung riskant,sondern auch wegen einer
teilweise inkonstant gewordenenRecht-
sprechung. Das höchste Gericht vollzog
in jüngerer Zeit bisweilen beachtliche
180-Grad-Kehrtwenden, etwa in den
Fällen «Madoff», «Teilklagen», «mer-
kantiler Minderwert» oder «Kündi-
gungFamilienwohnung». Das ist zu be-
grüssen,sofern sich imRahmen einer
begründetenWiederbefassung heraus-
stellt, dass ein früheres Urteil nicht
(mehr) haltbar ist. Ohnehin betrifft die
GoA-Gefälligkeits-Analogie aber nur
den Schadenersatz. SeineKosten rück-
erstattet bekommt der Helfer selbst in
diesemFall nicht.
Notfalleinsätzekönnen aber ins Geld
gehen.Es entsteht ein monetärer An-
reiz, nur noch dann jemandem zu Hilfe
zu eilen,wenn dieser nicht um Hilfe ruft.
Schreit aber jemand um sein Leben und
würde man besagter Lehrmeinung fol-
gen, wäre esrechtlich und ökonomisch
vorteilhafter, nicht zu helfen.
All das ist nicht im Sinn des Ge-
setzes. Ein apodiktischer Ausschluss
der GoA bei «fehlender Eigenmacht»
weicht vomKurs des Gesetzgebers ab.
Für einrechtssicheres Navigieren im
Bermuda-Dreieck Auftrag , Gefällig-
keit und GoA dient stattdessen diese
Formel: Die fremdnützige GoA ist ein
interessenorientiertes, risikobehaftetes
Handeln in eigener oder fremder Initia-
tive, ohne Rechtsbindungswillen. Die er-
beteneAd-hoc-Nothilfe ist dasParade-
beispiel hierfür.

Dr. Jean-Marc Schallerist Anwalt im Privat-,
Bank- und Prozessrecht und Partner bei Holen-
stein Rechts anwält e AG. Als Titularprofessor
der Universität Züric h setzt er sich für eine pra-
xisnah e Rechts lehre ein.

Was ist noch eine Gefälligkeit,wo liegt einAuftrag vor? DieRechtslagebei Hilfeleistungen scheint nicht immer klar. CHRISTIANBEUTLER /KEYSTONE

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