Neue Zürcher Zeitung - 09.03.2020

(Steven Felgate) #1
Montag, 9. März 2020 ZÜRICH UND REGION 13

Die Polizei lässt sichander Frauendemonstration


weder durch Gestennochdurch Worte provozieren SEITE 13


Inder Kunstsammlung der ZKB steht das Schaffen


lokaler Künstler und Handwerker imZentrum SEITE 14


Seebecken wird zum Brennpunkt


Die Polizei hat in Zürich markant weniger Personenkontrollen durchgeführt – ausser in einem Kreis


FABIANBAUMGARTNER


Eine Stunde vor Mitternacht beginnt
am Zürcher Seebecken die brenzlige
Zeit. An denWochenenden verwandeln
jungePartygänger dieRegion um den
Utoquai, den Sechseläutenplatz und den
Bahnhof Stadelhofen zur öffentlichen
Feier-Zone. Der nächtlicheTr ubel hat
jedoch seine Schattenseiten: Immer
wiederkommt es zuPöbeleien, Schlä-
gereien und Messerattacken.Wie Ende
Januar, als einJugendlicher beim Sta-
delhoferplatz mit einem Messer einen
jungen Mann schwer verletzte. Oder im
letzten Herbst,als ein16-Jähriger an der
Seepromenade auf eine18-Jährige und
einen 21-Jährigen einstach.
Die Stadt hat das Gebiet deshalb zu
einem Brennpunkt erklärt. Im vergan-
genenFrühlinglancierte diePolizei die
«AktionLago». DiePatrouillen rund um
das Seebecken wurden verstärkt, der
Utoquai an denWochenenden während
einiger Monate mit Kameras überwacht.
Das Vorgehen schlägt sich auch in der
Statistik nieder: Die «AktionLago» ist
der Hauptgrund dafür, dass die Zahl der
Personenkontrollen im Zürcher Kreis 8
im letztenJahr sprunghaft angestiegen
ist.Waren es 20 18 noch 608Kontrollen,
so versechsfachte sich deren Zahl 20 19
beinahe auf 3394. Die deutliche Mehr-
heit davon fand in derRegion um das
Seebecken statt.


App erlaubt Statistik


Die Angaben stammen von einer App,
welche die Zürcher Stadtpolizisten seit
Februar 20 18 verwenden.Kontrollie-
ren sie einePerson, müssen sie über das
Programm den Grund dafür angeben–
und: ob die Aktion erfolgreich war oder
nicht. Nun liegt dieAuswertung zu den
Personenkontrollen der Stadtpolizei vor.
Erstmals lässt sich damit die Entwick-
lung über den Zeitraum von knapp zwei
Jahren aufzeigen.
Die Analyse zeigt markanteVerän-
derungen. Der Kreis 8 ist demnach das
einzige Stadtgebiet, in dem die Zahl
derKontrollen derPolizei im letzten
Jahr markant angestiegen ist. Einzig
nocham Zürichberg im Kreis 7 wurde
2019 ebenfalls eine leichte Zunahme
verzeichnet. Die Entwicklung im übri-


gen Stadtgebiet zeigt hingegen teil-
weise stark nach unten. Im Kreis 4 mit
derPartymeileLangstrasse etwa gab es
einen Drittel wenigerKontrollen als im
Jahr davor. Auf dem ganzen Stadtgebiet
wurden in den elf Monaten desJa hres
2018 noch insgesamt 25 830Kontrollen
durchgeführt, in den zwölf Monaten des
letztenJahres waren es lediglich noch
22 757. Als Hotspots gelten neben See-
becken undLangstrasse auch dieRegion
um den Hauptbahnhof sowie das Let-
tenareal und der MFO-Park.
Doch weshalb der markanteRück-
gang? Judith Hödl, Sprecherin der
Stadtpolizei Zürich, erklärt ihn mit der
guten Sicherheitslage im vergangenen
Jahr und natürlichen Schwankungen.
Wenn es beispielsweise eine Einbruch-
serie oder einen neuen Brennpunkt wie
am Seebecken gebe, dann schnelle in
einem Gebiet auch die Zahl derKon-
trollen hoch.
Das ist jedoch nur einTeil der Erklä-
rung. Hödl sagt, in derAuswertung habe
sich auch gezeigt, dass diePolizei die
nötige Sorgfalt walten lasse. «Es werden
nicht einfach flächendeckendKontrol-
len durchgeführt, die Einsatzkräfte hal-
ten sich an dieVorgaben, die eineKon-
trollerechtfertigen.» Die interneAus-
bildung greife also. Dies beweise auch
die hoheTr efferquote bei denKontrol-
len. Diese ging allerdings imVergleich
zu 20 18 ebenfalls leicht zurück – von 31
auf 28 Prozent.
DiePersonenkontrollen sorgten in
Zürich in denletztenJahren immer
wieder für politischeKontroversen. Es
wurde Kritik laut, diePolizei betreibe
Racial Profiling, also Personenkon-
trollen nur aufgrund einer Hautfarbe
odereiner bestimmten ethnischen Zu-
gehörigkeit. Fälle wie dieVerhaftung
des ehemaligen FCZ-CaptainsYassine
Chikhaoui sorgten für politischeAus-
einandersetzungen.
Ezgi Akyol ist mitverantwortlich da-
für, dass diePolizei dieKontrollen heute
per Apperfasst. Die Gemeinderätin der
Alternativen Liste (AL) hatte 20 15 in
einem mit ihrerParteikollegin Christina
Schiller eingereichtenVorstoss gefor-
dert, dass dieKontrollierten eine Quit-
tung von den Einsatzkräften erhalten.
Vorbild für das Anliegen waren England
undWales, woeinsolchesSystem bereits
im Einsatz ist.Das Ziel der AL-Politike-
rin:Racial Profiling verhindern. Der da-

malige Sicherheitsvorsteher, AkyolsPar-
teikollege RichardWolff, liess dieForde-
rung prüfen,setzte schliesslichaber auf
dieWeb-App anstelle von Quittungen.
Seither müssen die Ordnungshüter
angeben, wann und wo eineKontrolle
durchgeführt wird. Zudem müssen sie
einen Grund für die Aktion nennen.Am
häufigsten eingetippt wurdeim letzten
Jahr die KategorieVerhalten und Er-
scheinen. Gemeint ist damit ein auffälli-
ges Benehmen. Ein Beispiel dafür sind
Diebe oder Strassendealer, dieFahnder
aufgrund ihres Benehmens erkennen.
43 Prozent allerPersonenkontrollen im
letztenJahr begründeten diePolizisten

damit, in 21 Prozent allerFälle erzielten
die Einsatzkräfte einenTr effer.
Rund einViertel derKontrollen er-
klärten die Einsatzkräfte mit einer «kon-
kreten Situation». Hier geht es umKon-
trollen, die in Zusammenhang mit einem
Ereignis stehen. Ein Beispiel: Am ver-
gangenenWochenende schosseinMann
an derLangstrasse mehrere Male auf
einenKontrahenten. Die Polizei be-
fragte danach Involvierte, um zu klären,
was genau vorgefallen war. Hier lande-
ten die Ordnungshüter in 35 Prozent der
Fälle einenTr effer. Dierestlichen Über-
prüfungen verteilten sich auf die Kate-
gorien «PolizeilicheLage und Bedro-
hung», «Objektive Erfahrungswerte» so-
wie «Ausschreibungen undFahndungen».
Akyol hält die Erfassung derPer-
sonenkontrollen per App nicht für
schlecht. «Es ist im Sinn von uns allen,
wenn diePolizeikorrekt arbeitet.» Sie
fragt aber:«Weshalb gibt es immernoch
so viele Überprüfungen,die zu nichts
führen?» Zudem sei die Kategorie«Ver-
halten und Erscheinen» viel zu schwam-
mig. «Das kann auch einfach ein Euphe-
mismus fürRacial Profiling sein», kriti-
siert sie. Für Akyol ist deshalb klar: «Es
braucht auch eine Ermächtigung der

Kontrollierten.» Sie setzt sich deshalb
weiterhin für ein Quittungssystem ein.
Denn damit bringe man nicht nur den
Kontrollierten mehrRespekt entgegen,
sondern man stärke auch dasVertrauen
der Bevölkerung in diePolizeiarbeit.

Verunsicherungim Korps?


Beschwerden bei Personenkontrol-
lenkommen auf denTisch von Clau-
dia Kaufmann. Die Ombudsfrau der
Stadt Zürich prüft dieFälle und vermit-
telt zwischendenBetroffenen und der
Polizei. Die Zahl der Beanstandungen
habe in den letzten beidenJahren nicht
abgenommen,sagt sie auf Anfrage. Sie
könne deshalb auch nicht beurteilen, ob
die Einführung der App die erwünschte
Wirkung erzielt habe.
Kaufmann sagt, ein Grossteil der Be-
schwerden betreffe weiterhin die Art
undWeise derKontrolle sowie die Haut-
farbe der Betroffenen.Kaufmann kriti-
siert, dass sich mit dem jetzigenSystem
nicht nachvollziehen lasse, ob eineKon-
trolle auch in Ordnung war. «Doch die
Frage dererlebten Demütigung und Un-
gerechtigkeit bleibt entscheidend für die
Betroffenen.» Kaufmann schlägt des-
halb vor, dieWeb-Applikation zu erwei-
tern.Dann lasse sich in einer qualitati-
ven Analyse aufzeigen, wie eineKon-
trolle abgelaufensei.
Nichtglücklich mit der Entwicklung
bei denPersonenkontrollen ist auch der
freisinnige Gemeinderat Andreas Egli


  • allerdings aus einem anderen Grund
    als Akyol und Kaufmann. «DiePolitik
    hat denPolizisten in den letztenJah-
    ren das Gefühl gegeben, sie dürften bei
    Kontrollen nicht mehr auf ihrBauch-
    gefühl vertrauen.»Das habe zu einer
    Verunsicherung imKorps geführt. Egli
    sagt: «Es kann nicht sein, dassPolizisten
    trotzVerdacht auf eineKontrolle ver-
    zichten, einfach weil sie fürchten, da-
    nach wegenRacial Profiling angepran-
    gert zu werden.»
    Klar ist laut Egli aber auch, dass eine
    Kontrolle anständig und fair zu erfol-
    gen habe. Rassismus habe beiKontrol-
    lenkeinen Platz. Ob dieWeb-App ihre
    Funktion auch erfüllt, will der FDP-Ge-
    meinderat noch nicht abschliessend be-
    urteilen. Man müsse nun die Entwick-
    lung der nächstenJahre abwarten. «Ent-
    scheidend ist am Ende, wie sich die Kri-
    minalität entwickelt.»


Der Zürcher


Polizei «gefällt»


die Frauendemo


Mehrere hundert Teilnehmerinnen
demonstrieren für ihre Rechte

JOHANNA WEDL

«Was ist tödlicher, Kapitalismus und
Patriarchat oder dasVirus?»Für die
Frauen ist die Antwort auf die ihrer Mei-
nung nach rhetorischeFrage klar. Meh-
rerehundertFrauen, viele schätzungs-
weise unter 30, stehen an diesem sonni-
gen Samstag kurz nach 13 Uhr zusam-
men auf dem Hechtplatz, unweit des
Zürcher Bellevue.
Sie alle sind gekommen,um am
Vortag des internationalenFrauentag
es (8. März) für ihreRechte einzuste-
hen und die Öffentlichkeit darauf auf-
merksam zu machen, dass zum Bei-
spiel Lohngleichheit zwischen den Ge-
schlechtern immer noch nicht erreicht
ist. Zur Demonstration aufgerufen hat
ein anonymes Frauenstreikkollektiv.
Eigentlich gilt wegen des Coronavirus
einVersammlungsverbot, in der ganzen
Schweiz sind Anlässe mit mehr als tau-
sendTeilnehmern nicht erlaubt. Doch
davon wollen dieKundgebungsteilneh-
merinnen nichts wissen.Wennjemand
mehr Abstand wolle, während man in
der Gruppe marschiere, gelte es das zu
respektieren, heisst es lediglich.

Nichtganz so friedlich


Die Zürcher Stadtpolizei toleriere die
unbewilligteKundgebung,solange sie
friedlich verlaufe. «Wir wünschen euch
eine gute Demo und sind gespannt, was
ihr bietet», gaben die Behörden be-
kannt. Als sich der Umzug gegen 13
Uhr 30 in Bewegung setzt, ist er auf
gegen 500Teilnehmerinnen angewach-
sen. Dem Limmatquai entlang und vom
Platz beim Grossmünster herab beob-
achtetenPassanten verwundert das Ge-
schehen, einige hielten die Demonstra-
tion mit einemFoto auf dem Mobiltele-
fon fest.
DiePolizei machte viaDurchsage
klar, dass dieRoute vorgegeben sei. Die
Kundgebungsteilnehmerinnen sollten
über den Limmatquai bis zum Central
laufen,dieWalchebrücke überqueren
und beim Limmatplatz Richtung Hel-
vetiaplatz abbiegen, wo die Demonstra-
tion hätte enden sollen. BeimRathaus
stoppte der Zug abrupt. Zwei an der
Spitze laufende Anführerinnen zünde-
ten Pyros, Polizeiautos wurden mitroter
Farbe verschmiert. «Ganz Züri hasstd
Polizei», riefen die Demonstrantinnen
und streckten den Stinkefinger in die
Höhe. Ihnen gegenüber standenPoli-
zisten inVollmontur, mit Helm und
Schutzschild. Sie zeigten sich von den
Provokationen unbeeindruckt.

Stimmung kippt nur beinahe


Kurz vor 15 Uhr stoppte der Umzug
schliesslich am Central gegenüber dem
Zürcher Hauptbahnhof. Dort stand die
Polizei mit einemWasserwerfer. In der
Vergangenheitseies rund um den HB
zu Sachbeschädigungen gekommen.
«Lasst uns das System auseinander-
nehmen», skandierten dieFrauen. An
der Spitze zeigte sich fahnenschwen-
kend die bekannte Linksaktivistin
Andrea Stauffacher. Nach rund einer
Stunde, kurz vor 16 Uhr, löste sich die
Demonstration schliesslich auf.
Auch am Sonntag haben mehrere
hundertFrauen demonstriert. DieVer-
sammlung begann auf dem Sechse-
läutenplatz und war zunächst friedlich.
Später verhielten sich Demonstrantin-
nenamBellevue teilweise aggressiv, wie
diePolizei am Sonntagnachmittag auf
Twitter mitteilte. Einige hättendie Quai-
brücke blockiert. Die Einsatzkräfte for-
derten dieFrauen dazu auf, die Brücke
zuräumen.Danachrollte derVerkehr
wieder ungestört. Die Demonstrantin-
nen zogen weiter Richtung Central.

Während sich diePolizeip räsenz an der Langstrasse verringert hat, wird imKreis 8 genauer hingeschaut. DOMINIC STEINMANN / NZZ

«Es braucht
eine Ermächtigung

der Kontrollierten.»


Ezgi Akyol
Gemeinderätin der AlternativenListe
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