Neue Zürcher Zeitung - 09.03.2020

(Steven Felgate) #1
Montag, 9. März 2020 WIRTSCHAFT 17

WIRTSCHAFT IM GESPRÄCH


Wie ein Philosoph zum obersten Hacker Estlands wurde


Das IT-Ministerium des ambitiösen balt ischen Staats wird von einem «Techie» geleitet – zur Freude d er Startup-Community


RUDOLF HERMANN,TALLINN


Kein Problem, es sei jaFreitag und da-
mit schon fastWochenende, sagt Kaimar
Karu nonchalant. Er quittiert damit das
Erstaunen des Besuchers darüber, dass
er sich ausgesprochen viel Zeit für das
Gespräch nimmt. Überhaupt gibt sich
Karu so locker und unkompliziert, wie
man es von einem Mitglied einerLan-
desregierung nicht unbedingt erwartet.
Der knappVierzigjährige sitzt erst
seit vier Monaten hinter dem ministe-
rialen Schreibtisch hoch oben in einem
supermodernen Büroturm in der estni-
schen HauptstadtTallinn.Bärtige Ge-
stalten wie ihn würde man eher imTal-
linner Hipster-ViertelTelliskivi vermu-
ten, wo einTeil der boomenden estni-
schen IT-Startups einquartiert ist. Und
tatsächlich ist es dieTech-Szene, die das


Berufsleben Karus bisher geprägt hat.
Was sich allerdings nicht zwingend aus
seinerAusbildung herleitet, denn er hat
einen Studienabschluss in Philosophie.
Ein Philosoph also, der das estnische
Ministerium fürInformationstechnologie
führt – wie passt das zusammen? «Sehr gut
eigentlich», sagt Karu. «Denndie Grund-
frage derPhilosophie lautet ‹warum?›,
und das ist ein Ansatz, der im Prinzip für
alle Lebensbereiche nützlich ist.»
In Karus Ministeralltag sind es aller-
dings weniger die grossen philosophi-
schen Linien, die seine Arbeit prägen,
als diekonkreten Probleme, die es im
IT-Bereich zu lösen gilt.E-Estonia (das
digitale Staatswesen) sowie die für ein
Land mit1,3Mio. Einwohnern über-
proportional erfolgreicheTech-Branche
sind Estlands ganzer Stolz. So extensiv
ist dieITmittlerweile, dass man hände-

ringend nach qualifiziertenFachkräften
sucht und sich dabei sowohl in einem
regionalen als auch einem globalen
Wettbewerb um«Talente» wiederfindet.
Um in diesemKonkurrenzkampf zu
bestehen, ist ein gut abgestimmtes Ge-
triebe für die IT-Maschinerie notwendig.
Kernelemente sind ein leistungsfähiges
Hochschulwesen, ein attraktiverWirt-
schaftsstandort, der ausländischeFach-
kräfte anzuziehen vermag, und nicht zu-

letzt eine öffentlicheVerwaltung, welche
die nötige Unterstützung bereitstellt.
«Wir wissen, was die Herausforderun-
gen sind, und wir haben auch dieeinzel-
nen Elemente», sagt Karu. «Aber sie sind
noch nicht gut genug miteinander ver-
bunden.» Estland hat sich laut Karu im
internationalenVergleich ins obere Mit-
telfeld hochgearbeitet. Man liege punkto
Lohnniveau unter den nordischen Nach-
barn, aber höher alsLänder wie Indien
oder die Ukraine. Estlandsei darum
keine Outsourcing-Destination mehr,
auch wennes als solche begonnen habe.
Dafür stehe inzwischen deutlich mehr
als früher die eigeneWertschöpfung im
Vordergrund. Und das wiederum ma-
che Estland attraktiv als Destination
für Arbeitsmigranten aus ärmerenLän-
dern. «Die entsprechenden adminis-
trativen Prozeduren für Interessen-

ten von ausserhalb der EU sind gerad-
linig und nehmen imDurchschnitt rund
zweiWochen in Anspruch», sagt Karu.
Gegenüber Schweden undFinnland, wo
dies deutlichkomplizierter ist, hat Est-
land damit einenkomparativenVorteil.
Das Thema Arbeitsmigration ist je-
doch insofern pikant, als Karu von einer
sehr migrationskritischenPartei für sein
Ministeramt nominiert wurde, auch
wenn er nicht deren Mitglied ist. Man
kann sich deshalb fragen, ob er ohne
politische Hausmacht seineForderun-
gen wird durchsetzenkönnen, sollte es
einmal hart auf hart gehen. Bisher ist
eine solche Kraftprobe noch ausgeblie-
ben. DieTech-Community ist derweil
entzückt, dass dasRessort von einerPer-
son geleitet wird, welche die Probleme
der Branche versteht, und nichtvon
einem strammenParteisoldaten.

Rohstoffmärkte hoffen auf Nachholeffekt


Die Coronavirus-Krise schlägt sich vor allem im gesunkenen Erdölpreis nieder


GERALDHOSP


An den Rohstoffmärkten haben es
derzeit nicht nur die Preise wegen der
Angst vor dem Coronavirus schwer, son-
dern auch deren Beobachter. So wies die
Preisagentur S&P Global Platts, die In-
formationen und Referenzwerte für
Rohstoffe anbietet, in der vergangenen
Woche ihre 1200 Angestellten in Lon-
don an, sie sollten von zu Hause aus
arbeiten. Dies nachdem bei einem Be-
sucher des Bürogebäudes imFinanz-
zentrum CanaryWharf die Lungen-
krankheit diagnostiziert worden war.
Platts meinte zuversichtlich, der Strom
an Nachrichten und Preisinformationen
werde dennoch ungebrochen fliessen.


VerwundbarerTransportsektor


Und die Preise an denTerminmärkten
kennen seitJahresbeginn vor allem eine
Richtung: jene nach unten. Drastisch
führt dies vor allem der Erdölmarkt vor,


der sich nach dem Abbruch der Gesprä-
che zwischen Saudiarabien undRuss-
land aufTauchgang befindet. Unterbro-
chene Lieferketten, derRückgang der
gesamtwirtschaftlichen Nachfrage und
die eingeschränkteReise- undTr ans-
porttätigkeit lasten auf den Märkten.
China, wo die Covid-19-Epidemie
ihren Ursprung nahm, ist zudem für
rund die Hälfte der weltweiten Nach-
frage nach Industriemetallen wieKup-
fer, Nickel oder Zink verantwortlich.
China ist auch der grössteKonsument
von Eisenerz, der die Grundlage für
Stahl bildet, und verbraucht mehr als
10% des globalen Erdöls.
Die Coronavirus-Krise trifft aber die
verschiedenen Rohstoffe trotz allem
unterschiedlich. So ist der Preis für Gold
in den vergangenenWochen gegenüber
demJahresbeginn gestiegen, weil das
Edelmetall als sicherer Hafen in un-
sicheren Zeiten wahrgenommen wird.
Bei den anderenRohstoffen ist es auch
zu einerVerschiebung gekommen.

«In der ersten Phase der Krise haben
vor allem die drastischen Massnahmen
in China, die getroffen wurden, um die
Ausbreitung desVirus zu verhindern,
zu wirtschaftlichen Einbussen geführt»,
sagt NorbertRücker, Rohstoffexperte
beimFinanzinstitutJuliusBär. Die wirt-
schaftliche Aktivität imReich der Mitte
kam ins Schleudern, die Preise für Ener-
giegüter und Metalle gaben wegen der
geringeren Nachfrage nach, wobei der
Januar wegen des chinesischen Neu-
jahrsfests ohnehin üblicherweise ein
schwacher Monat ist.
China bekam dieAusbreitung des
Virus jedoch imFebruar besser in den
Griff. Seit einiger Zeit fahren auch chi-
nesische Unternehmen die Produktion
wieder hoch, wobei es immer noch meh-
rereWochen brauchen wird, bis das frü-
here «normale» Niveau erreicht ist.
Diese Entwicklung zeigt sich auch
darin, dass beispielsweise der Preis für
Kupfer seitFebruar nicht mehr fiel, son-
dern vielmehr gleich blieb. Kupfer ist ein

Industriemetall, dessenNotizalsFrüh-
warnsystem für dieWeltwirtschaft gilt.
Die chinesischen Handelszahlen für die
ersten zwei Monate fielen jedoch ver-
heerend aus. Wenn die allgemeine Nach-
frage nicht anspringt, dürfte sich dies
wieder negativ auf dieRohstoffmärkte
auswirken.
«Die zweite Phase begann mit den
erhöhtenFallzahlen ausserhalb Chi-
nas wiein Europa oderdenVereinigten
Staaten», sagtRücker. Die Gegenmass-
nahmen fielen zunächst nicht so dras-
tisch aus wie in China. In der Schweiz
und in Europa werden Grossveran-
staltungen abgesagt, Fluggesellschaf-
ten streichen Flüge, und derTourismus-
sektor spürt die geringeReiselust. Ita-
lienriegeltejedochamWochenende
grosseTeile des Nordens ab – mit noch
unklaren wirtschaftlichenFolgen.
Die bisherigen Massnahmen spürte
vor allem die Erdölbranche, was sich
auch amVerlauf des Ölpreises zeigt.
Davon sind Energiegesellschaften,
aber auchPetro-Staaten betroffen, von
denen viele einen höheren Ölpreis als
den gegenwärtigen benötigen, um einen
ausgeglichenen Haushalt zu haben.Für
denTr ansportsektor hingegen ist der
sinkende Preis eine Erleichterung.
In Europa sind Produktionsstopps
noch nicht weit verbreitet, und der phy-
sische Handel mitRohstoffen war wenig
betroffen. DieAuswirkungen auf Produ-
zentenländer wieRussland sind unklar.
«Wir sehen bei unserenKunden noch
keine höherenAusfallrisiken, dafür ist
es wohl noch zu früh», sagt AnnettVieh-
weg,Chefin der SchweizerTochter der
Sberbank, des grösstenFinanzinstituts
Russlands. Der schweizerische Ableger
hat sich auf die Handelsfinanzierung
vonRohstoffgeschäften im postsowje-
tischenRaum spezialisiert. «Erste Hin-
weise dürften wohl die nächsten Quar-
talsergebnisse europäischer Unterneh-
men liefern», meintViehweg.

Seltene Erden im Fokus


Es geht aber auch andersherum: Die
Pandemiekönnte zu höherenRohstoff-
preisen führen.Bei Lieferengpässen
und sinkendenLagerbeständenkönnte
die Industrieproduktion gefährdet sein.
China ist nicht nur ein grosser Abneh-
mer, sondern auch eineRohstoffmacht
imVerborgenen: Rund die Hälfte des
Aluminiums und desRohstahls weltweit
kommt aus chinesischenWerken.

Zudem ist dasReich der Mitte bei
vielen Nischenmetallen wie den selte-
nen Erden führend – vor allem, wenn
neben derFörderung auch dieAufbe-
reitung betrachtet wird. In einer Um-
frage desWirtschaftsdachverbands Eco-
nomiesuisse wiesenFirmen bereits auf
Lieferengpässe bei seltenen Erden hin.
Bei den Metallen, die zur Herstel-
lung einerVielzahl von Gütern für die
digitaleWirtschaft und für die Ener-
giewende wichtig sind,sind bisher die
Preise fürTerbium und Dysprosium in
China und in Europa gestiegen. Dies
hänge mit einer geringen Produktions-
rate in China wegen der Epidemie und
mitRestriktionen bei Erzimporten zu-
sammen, sagt DennisBastian von der
DeutschenRohstoffagentur. Auch sind
die Notizen für Molybdän,Wolfram und
Mangan, ebenso Metalle, diebesonders
in China aufbereitet werden, zunächst
stark gestiegen, wobei es schon wieder
Erholungstendenzen gibt.
Die zentraleFrage für dieRohstoff-
märkte bleibt,wie lange dieTurbulenzen
in derWeltwirtschaft andauern werden.
Wenn die Gefährdung verebbt, dürfte
es zu wirtschaftlichen Nachholeffekten
kommen, wobeiabgesagteVeranstal-
tungen oder nicht angetreteneFahrten
weniger nachgeholt werden als die aus-
gefallene Industrieproduktion. Dadurch
könnte dieser Effekt beim Erdöl gerin-
ger als bei Industriemetallenausfallen.

Südostasien stand vor einer Welle von Börsengängen –


das Coronavirus lässt sie verebben SEITE 19


Der libanesische Staat ist bankrott – der Zahlungsausfall


hat sich seit längerem abgezeichnet SEITE 19


Kaimar Karu
Minister fürIT
PD und Aussenhandel

Das Sars-CoV-2-Virus hat denchinesischenAussenhandel deutlich geschwächt. REUTERS

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