Montag, 9. März 2020 FEUILLETON 25
Venedig in Zeiten der Ansteckung
Noch heute weiger e ich mich, die Lagunenstadt schön zu finden. Aber ihr Untergang würde mir das Herz brechen.Von Christina Viragh
Auf demVaporetto, das uns1965 vom
Bahnhof zum Markusplatz bringt, weint
meine Mutter. Kriegsgeprüfte Ungarin,
vor fünfJahren in die Schweiz emigriert,
jetzt zum ersten Mal wieder inVenedig,
es wäre fast seltsam, wenn sie angesichts
der Palastfassaden des Canal Grande
nichtweinte.Fast.MeinVaterweintnicht,
ich glaube, er ist so betreten wie ich, die
auch nicht weint.Abwehrregt sich in mir,
gegendieTränenmeinerMutterundauch
gegenVenedig. Niemand soll mir vorwei-
nen, wie ich diese imWasser stehenden
Häuser zu finden habe.
Noch heute ist das so. Noch heute
weigere ich mich,Venedig schön zu fin-
den,und überhaupt,denke ich, als ich an
einemFebruartag hier eintreffe, lebe ich
schon zu lange in Italien,als dass ich von
alterBausubstanz umgeworfen würde,
selbst wennsie imWasser steht.
Wie war das doch im Sommer in
Otranto, beim Schwimmen im glasklaren
Meer unter der Stadtmauer, mit Blick in
Richtung der Kathedrale, deren Boden
aus einem riesigen Mosaik besteht, mit
dem auf Elefanten stehenden Lebens-
baum, der Sintflut, dem zwischen zwei
Greifen schwebenden Alexander dem
Grossen, dem auf einem Ziegenbock
reitendenKönig Artus, den Tugenden
und Lastern und vier Löwen mit einem
einzigenKopf und einer zweischwän-
zigen Meerjungfrau mit Hängebrüsten
und allenTierkreiszeichen und noch vie-
lem mehr, 12. Jahrhundert. Bin also mit
allenWassern gewaschen.
Denkeich.Abersagenwiresgleich,als
ich Ende diesesFebruars mit demVapo-
rett o auf dem Canal Grande zumBahn-
hof fahre, kämpfe ich mitTränen. Nebel
hängt um die Spitzen der Campanili,und
Vaporetto Nummer 5.2 fährt diese unge-
wöhnliche Strecke, eigentlich würde es
durch den Canale della Giudecca fahren,
aber der ist gesperrt.Wohl nicht wegen
des Nebels, so dicht ist er nicht, zwei als
Edelleute Kostümierte, es ist Karneval,
sitzenaufeinerkleinenTerrasseüberdem
Wasser beimFrühstück, man sieht auch
vom Vaporetto aus ihre Proseccogläser,
gemietete Noblesse oblige.
Die Umleitung mag also eine be-
hördliche Massnahme in irgendeinem
Zusammenhang mit der Ansteckungs-
gefahr sein, wir sind in den Zeiten des
Coronavirus, und wenn es das nicht ist
- aber warum sollte es das sein, warum
wäre der breitere, weniger frequentierte
Canale della Giudecca stärker gefähr-
det? –, so passt es doch ins Bild.
Bald wird ja der Carnevale abgebro-
chen,werdenSchulenundUniversitäten
geschlossenwerden,unddieFrau,derich
am nächstenTag zu Hause inRom beim
Hundespaziergang begegnen werde,
wird einen Schritt rückwärts machen,als
ich ihr sage, ich sei gerade ausVenedig
zurückgekehrt. Denn, wir wissen es, An-
steckendes, Pest, Cholera,Tod passen zu
Venedig wie selten irgendwohin, unab-
hängig von der tatsächlichen, vielleicht
nicht so katastrophalenLage.
Eine tote Stadt
Noch vor dem vorzeitigen Ende des
Karnevals ziehen schwarzeTeufel, eine
Totenklage spielend, durch die Gassen,
und nicht wenigeTouristen sind mit
der Schnabelmaske des «dottore della
peste» angetan, spasseshalber, gewiss,
aber wohl doch mit einem Gefühl für
den Genius loci. «Untore» nennt mich
jemand am Abend desselbenTages,
lachend zwar, aber eben doch mit dem
Wort,das die Schmierer bezeichnete, die
mit ihren Salben a bsichtlich diePest ver-
breiteten. Venedig muss es sein.
Hier ist der Untergang plausibel,
weil ja die Stadt selbst untergeht, die
Fundamente sacken in den Schlamm,
die Kirchtürme stehen schief, Fo tos
von derAcqua alta hängen in den am
- November 2019 überfluteten Ge-
schäften, «è una città morta», sagt ein
venezianischer Bekannter und meint,
dass obendrein die Stadt zum Museum
wird, nurTouristen, kaum Einwohner.
Aber, meine ich, das ist es nicht wirk-
lich. Venedig suggeriert seinen eigenen
und dann auch unser aller Untergang,
weil es nicht wirklich zu fassen ist, allen
Bemühungen zumTrotz oder, noch eher,
alle die zahllosen Bemühungen motivie-
rend,in jeglicher Sparte derKunst.Tinte
zum Beispiel ist schon soviel geflossen,
dass sie die Kanäle füllenkönnte, Ab-
handlungen, Geschichten, Phantasien,
Sehnsüchte tauchen wie die Ca’ d’Oro,
die Ca’Rezzonico, die Ca’Foscari oder
die verhexte Ca’Dario aus tintendunk-
len Wogen auf. Oder ähnlich.
Wie gesagt, Worte fassen Vene-
dig nicht, Goethes «wunderbare Insel-
stadt» und «Biberrepublik» sind nicht
das Wahre, und auch der hingerissene
Proust kann nicht anders, als von «be-
zauberndenPalästen» sprechen.Immer-
hin, er fühlt sich beim nächtlichen Um-
herstreifen wie eineFigur aus«Tau-
sendundeiner Nacht» und sagt damit
das Richtige, nämlich eben, dassVene-
dig anderswo ist. In einer Zone, die wir
nicht nur nicht fassenkönnen, sondern
auch nicht fassen wollen, denn von dort
kommen beunruhigende Signale.
Dahingehend, dass eigentlich alles
anders ist, dieRealität gesamthaft und
Venedig im Speziellen.Dass es eine
Stadt sei, in der sich gotischeFassaden
in blauenWasserstrassen spiegeln, mei-
nen wir nur. Das könnte man auch inLas
Vegas haben, Dogenpalast, Markusplatz,
Campanile, Rialto-Brücke, alles ein biss-
chen zusammengepfercht, aber doch
an einem blauen Kanal, auf dem echte
Gondeln fahren. Klar, die Patina fehlt,
aber nicht sie ist es, die das wahreVene-
dig zu dem Ort macht, der mit seiner
Unfassbarkeit den Untergang nahelegt.
Ich wohne in einer noch patinierte-
ren Stadt, zweihundert Meter von mei-
nem Schreibtisch entfernt stehen die
Ruinen der Diokletianthermen, aber
auch wenn man einigesAufheben um
die verlotterndenrömischen Zustände
macht, kämeniemand auf die Idee, dass
hier das Ende seinen Anfang nehmen
könnte. Ewigist die Stadtgarantiert
nicht, aber doch auf beruhigende Art
geerdet in ihrerLage zwischen Bergen
und Meer.
Wo nur nochWellen sind
Dort in derLagunehingegen erinnert
Venedig beunruhigend daran, dass alles
dauernd in alle Richtungen schwappt,
einiges kurz eineForm annimmt, als
schmaler Kanal etwa, auf dem ein
schwankendes Gemüseboot die letzten
Ciochi,Artischocken imVeneto-Dialekt,
feilhält, worauf sich bald alles verläuft,
Wasser und Boot und man selbst in den
ihrerseits nach unfassbaren Plänen an-
gelegten Gassen. Obwohl man doch die
Ki rche SanFrancesco erreichen wollte,
zwecks Besichtigung, gewiss, denn wenn
auch«schön»inseinerstarrenOberfläch-
lich keit keine Kategorie ist fürVenedig,
ist das alles natürlich doch schön.
Ja, auch dasWort, wie alles inVene-
dig, schwappt zwischen Sein und Nicht-
sein hin und her, einmalrasch und ober-
flächlich zuTränen rührend,dann an un-
beleuchtetenPalazzivorbeisichineinem
dunklen Kanal verlierend. Für das , was
man dort sieht, fehlen dieWorte, schön,
nicht schön, man weiss es nicht mehr,
man spürt nur, dass es an etwas erinnert,
an eineRealität, in der wir selbst auch
nicht so sind, wie wir meinen.
Wenn das an sich schon beunruhi-
gend ist,so ist noch beunruhigender die
Tatsache, dass es nicht viel braucht, bis
solchen Orten und Dingen, von denen
es ja vorläufig noch etliche gibt, Bäume,
Tempel in derWüste, die Hochebene bei
Castelluccio di Norcia, bis solchen be-
unruhigend jenseits von schön liegenden
Dingen der Untergang gewünscht wird.
Venedig, das alle schönen Städte hin-
ter sich lässt, ist nicht nur derAusgang,
sondern auch das Ziel von Untergangs-
phantasien.Auchdasmag,nureinelaien-
haft tiefenpsychologischeVermutung,
hinter der unerklärlichen Nachlässigkeit
stehen, mit der dieKulturgüter und die
Bewohner der Stadt behandelt werden.
Meinerseits kann ich von Glück sa-
gen, dass in den dreiWochen, während
deren ich inVenedig war, keines der
monströsen Kreuzfahrtschiffe in den
Canal Grande einfuhr. Es hätte mich
in derVorstellung bestärkt, dass man
Venedig zerstören will, und ich hätte
dann, dem Beispiel meiner Mutter fol-
gend, die Stadt en bloc beweint.
PauschaleTränenhättenmichaberzu
sehen gehindert, dass auchVenedig aus
verschiedenen, meerorientierten oder
nachFestland aussehenden Städten be-
steht. Und aus einem Archipelgena uso
unterschiedlicherInseln.Da istzumBei-
spiel die Insel San Servolo, bewohnt von
zukunftsfrohen, wahrscheinlich ankei-
nerlei Untergang denkenden Studenten.
Allerdings ist die Insel so klein, dass
man das Schwappen desWassers prak-
tisch an jedem Punkt hört, und so ge-
legen, dass die Stadt da in derLagune
wie eine Erscheinung ist.Du siehst zwar
die San-Zaccaria-Anlegestelle und die
Spitzbögen des Dogenpalasts, hast aber
das Gefühl, du müsstest dirsagen, dass
da nurWasser ist, nur die unruhige Be-
wegung derWellen.
Dann, nach zehn Minuten mit dem
Vaporetto, erreichst du tatsächlich San
Zaccaria, wechselst in die Nummer 5.2
und würgst auf demWeg zumBahnhof
anTränen, weil duVenedig verlässt. Und
vielleicht auch noch aus einem nicht
ganz fassbaren Grund.
Die SchriftstellerinChristina Viraghlebt i n
Rom. 2018 ist i hr Roman «Eine dieser Nächte»
im Dörlemann-Verlag erschienen.
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Als wär’s ein Wink des Schicksals, kommt inVenedig ausgerechnet mitten im Carnevale das Leben zum Stillstand. Blick hinüber aufdie InselGiudecca. FRA NCISCO SECO/AP