Neue Zürcher Zeitung - 09.03.2020

(Steven Felgate) #1

26 FEUILLETON Montag, 9. März 2020


Ein demütiger Gigant beflügelt seine Zeit

McCoy Tyner hat den Jazz an der Seite vo n Joh n Coltrane in eine n eue Epoche geführt. Nun ist der Pianist 81-jährig gestorben


UELI BERNAYS


Es waren heroische Zeiten. DieJazz-
musiker gaben sich nicht zufrieden mit
dem Erreichten, dieTr adition war nicht
abgeschlossen, vielmehr sollte sie in die
Zukunft weisen. Wer aber nach neuen
Freiheiten forschte, musste aufRoutine
und Sicherheit verzichtenkönnen. Sti-
listische Klischees blieben ebensoauf
der Strecke wie expressive Gewohnhei-
ten. Und leicht geriet man in einen um-
stürzlerischen Strudel, in dem die Inno-
vation allesrelativierte oder entwertete.
War die künstlerischeFreiheit nicht
auch ein Abgrund?
Und war die Gefahr, sich im Mahl-
strom der Abstraktion zu verlieren, für
einen jungen Musiker wie McCoyTyner
nicht doppelt gross? Als der Pianist An-
fang der sechzigerJahre eingebunden
wurde in verschiedene Projekte derJazz-
Vorhut, da hatte er kaum Zeit gefunden,
in derTr adition zureifen, um allmählich
ein eigenes Profil zu prägen. Als ein vom
Himmel gefallenes Genie musste er in
kürzester Zeit die Geschichte desJazz-
pianos aufsaugen, um selber gleich ein
neues Kapitel zu öffnen.


OrchestralesPianospiel


Am 11. Dezember1938 in Philadelphia
geboren, wurde Alfred McCoyTyner
dreizehnjährig von seiner Mutter zum
Klavierspiel ermuntert.Mitfünfzehn
soll er bereits in verschiedenenBands
mitgewirkt haben.Dabeikonnte er da-
von profitieren, dass sich in seiner Nach-
barschaft bereits eine lebendigeJazz-
szene entwickelt hatte. So lernte er bald
bedeutende Musiker wie denTr ompeter
Lee Morgan oder den zwölfJahre älte-
ren SaxofonistenJohn Coltranekennen.
Prägend für seine frühe Stilistik jedoch
war zunächst der tonangebende Bebop-
Pianist BudPowell.
«Inception» (1962), McCoyTyners
erstes Album unter eigenem Namen,
zeigt die Dringlichkeit derrechten Hand,
die sich in furiosen Bebop-Linien aus-
lebt. Allerdingserweiterte der jungePia-
nist diese Spielart bald durch einen ganz
eigenen, quasi orchestralen Approach.
1960 warTyner für einige Monate
Mitglied im Hardbop-Sextett desTr om-
peters ArtFarmer und des Saxofonisten
Benny Golson.Noch im gleichenJahr


aber berief ihnJohn Coltrane in sein
neues Quartett (mit Jimmy Garrison am
Bass und ElvinJones am Schlagzeug),
das derJazzimprovisation neue Hori-
zonte eröffnen sollte. DerWeg führte
aus der bewährtenFunktionsharmonik
und linearen Melodien in den modalen
Jazz,der weniger auf Akkordstrukturen
denn aufTimbres undFarben von Moti-
ven und Skalen basiert.

Hitzige Dramatik


Aus harmonischerPerspektive war ent-
scheidend, dass McCoyTyner die Be-
gleitakkorde aus den Klammern der
Terzstruktur löste, umsie in die Sprei-
zung von Quarten überzuführen. Die
harmonische Logik von Spannung und
Auflösung wich einer schwebenden,
ausladenden Bewegung. Und der plät-

schernde Fluss der Kadenzen ging auf
in einem mächtigen, brodelnden Strom.
Coltrane liess sich davon in die epi-
schenFormen seiner flammendenKür
tragen. Immer weiter wurden die Span-
nungsbögen, immer hitziger dieDra-
matik seiner Steigerungsläufe, die auf
epochalen Alben wie «Crescent» oder
«A Love Supreme» (beide1964) fest-
gehalten sind.
Coltrane hat auch seinem Pianis-
ten vielRaum für die eigene solisti-
sche Entfaltung überlassen.Und die-
ser brillierte durch seine mitreissende
Ausdruckskraft, die er selber auf die
Verbundenheit mit dem Instrument
zurückführte: «On acoustic piano you
can sound like water, likemountains,
like so many different things.» Mit der
rechten Handkonnte er ColtranesVo r-
liebe für sogenannte «sheets of sounds»

nachvollziehen. Die linke aber nutzte
dieTr adition des Stride-Pianos, um
imWechseln von mittleren und tiefen
Registern eine orchestraleFülle und
Tiefe zu erzeugen.

Spirituelle Klänge


Tyners Expressivität nahm sich fast
immer wie ein spirituelles Gebet aus–
mehr noch: wie einereligiöse Ekstase.
Für den Afroamerikaner, der sich be-
reits im Alter von siebzehnJahren zum
Islam der Ahmadiyya-Sekte hatte be-
kehren lassen, warJazz eine sakrale
Kunst. Obwohl er am Klavier bisweilen
auch als lockerer Entertainer überzeu-
genkonnte (etwa auf «John Coltrane
andJohnny Hartmann», 1963), fühlte
er sich doch eigentlich als mönchischer
Diener einer vergeistigten Mission.

Dabei blieb er aber nicht nur geerdet
durch die Bindung ans Instrument, son-
dern gleichsam demütig in seinem Sinn
für Schönheit und Harmonie. Als sich
John Coltrane immer mehr in atonale
Zonen desFreeJazz hineinsteigerte,
mochte er ihm nicht folgen: «I didn’t
see myself making any contribution to
that music. All I could hear was a lot
of noise.»
Diese ästhetische Haltung verband
denstilbildenden Pianisten mit zwei
anderen Saxofon-Giganten, mit denen
er in den sechzigerJahren zusammen-
spielte. Joe Henderson, der die Bebop-
Tr adition durch originelleVerfremdung
und Abstraktion belebte,holte McCoy
Tyner insStudio für wichtige Alben wie
«Page One» (1963).
Umgekehrt spielte der Saxofonist
aufTylers wohl berühmtestem Album
unter eigenem Namen: «The Real
McCoy» (1967). Bedeutender noch ist
Tyners Zusammenarbeit mitWayne
Shorter – etwa auf «JuJu» (1964). Statt
einer unbedingten musikalischen Be-
freiung suchten Shorter wie Tyner
in derKombination ungewöhnlicher
Akkordfolgen und Motive stets neue,
elektrisierende Spannungsverhältnisse
zu erzeugen.

DerWeg istdas Ziel


DiesenWeg, der nicht an ein Ziel führte,
sondern ins Hochamt vonPassion und
Virtuosität, ging McCoyTyner weiter
in densiebzigerJahren. ZwischenFree
Jazz undFusion-Jazz pflegte er seine
eigene Musik, in der er – solo, imTr io
oder in grösserenFormationen – seine
Erfahrungenaus den sechzigerJahren
in RichtungWorld-Music und New Age
ausweitete. Überdies machte er einen
Abstecher in diePop-Musik, wo er Ike
undTinaTurner begleitete.
Als Idol undVorbild hat McCoy
Tyner fastalle jüngeren Jazzpianis-
ten beeinflusst, namentlich auch einen
Herbie Hancock oder Chick Corea. Er
blieb aber selber aktiv – auf der Bühne
wie im Studio –, so dass er dieJazzszene
bis in die Gegenwart hinein als inspi-
rierter und inspirierender Altstar beflü-
gelnkonnte.
Am vergangenen Freitag ist der
grosseJazzpianist im Alter von 81Jah-
ren in NewJersey gestorben.

McCoyTyner zelebrierte am Piano das Hochamt derPassion und Virtuosität. DOMINICFAVRE / EPA

Die Drogen haben die Welt fest im Griff


Schmerzmittel solltenein Segen sein. Jetzt werden sie zu einem Albtraum – auch in Christoph Höhtkers phänomenalem Roman


PAULJANDL


Es ist eine Apokalypse der anderen
Art. An die hunderttausend Menschen
sterben jedesJa hr in Amerika an einer
Überdosis. Landesweit sinkt seit 20 15
aus diesem Grund die Lebenserwar-
tung. Sie sinkt vor allem dort, wo es bis-
her stabileVerhältnisse gab und Dro-
genwenig Chancen hatten: in der Mittel-
schicht ländlicher Gebiete. Angetrieben
wurde die Opioid-Krise von Pharma-
unternehmen, die hochwirksame und
schnell abhängig machende Schmerz-
mittel mit aggressivem Marketing an
eine breite Schicht vonPatienten brach-
ten. Die Ärzte halfen mit.Aus Rheuma-
tikern wurdenJunkies.
Man muss das wissen, wenn man
Christoph Höhtkers neuen Roman
«Schlachthof und Ordnung» liest. Und
man darf es zugleich auch wieder ver-
gessen. Dieses grossartige, intelligente
Buch macht aus der Kriseeine Gro-
teske und aus apokalyptischen Über-
treibungen eine absurd wahr wirkende
Zukunft. DerRoman spieltin den Jah-
ren 2022 und 2023. Er spielt inFrank-
reich, Deutschland und Amerika.Vor
allemaber: Er spielt in unserenKöpfen.
Es ist ein krachend intensives Schwe-
ben, als hätte man wirklich eine der für
denRoman erfundenenWunderpillen
namens Marom R500 genommen. Diese
Pillen befreien nichtnur von allem


Schmerz, sondernsie lernenauch selbst.
Sie lernen dieWünsche der Menschen
kennen, und solange sie wirken, sind
dieseWünscheWirklichkeit. Der che-
mische Stoff Marazepam aus der Klasse
der Benzodiazepine fährt uns ins Hirn.
In Lungenlappen, MilzgrubeundKehl-
senke. Er macht uns zu Bürgern einer
utopischenParallelwelt, aber natürlich
haben wir es hier mit einer ganzen ande-
ren Parallelwelt zu tun. Mit Literatur.
Mit Dystopie.

AtemberaubendesTempo


Winston Pharmaceutics heisst der ame-
rikanischeKonzern, der im hessischen
Ebratal seine Europazentrale hat und
mit seinen Marom-Präparaten dieWelt
in nur wenigenJa hren durchseucht hat.
Patrick Esnèr, ein Manager des gröss-
ten französischen Fleischproduzenten,
steckt ebenso in der Abhängigkeitwie
der Investigativjournalist MarcToirsier,
der beimPariser «Miroir» arbeitet.
Die Winston-Belegschaft ist selbst
abhängig und führt ein Leben zwischen
furioserFreizügigkeit und Drogenend-
stadium.Daneben gibt es politische Akti-
visten und ganz normaleWirrköpfe, aber
alle sind irgendwie miteinander verbun-
den, wenn nicht gar verwandt. Nichts läuft
ohne Marom, mit ihm aber dreht sich die
Welt in einem atemberaubendenTempo.
Der Fleischmanager leiht demJournalis-

ten sein Strandhäuschen für einen Ent-
zugund lernt ganz zufällig auch Eric Le-
Forbes, den schillerndenWinston-CEO
Deutschland,kennen. Der wiederum
findet ein grausames Ende, als eine linke
frauenrechtlerischeTerroristin plötzlich
die Pistole auf ihn und zwei bayrische
Polizisten richtet.Aus Amerikakommt
ein Privatdetektiv angereist, der feststel-
len muss, dass sein Sohn als Ein-Mann-
TerrorzelleJagd auf Neonazis macht.
Marom hat auch eine etwas unan-
genehme Nebenwirkung: Es politisiert.
Wer von dieser Droge politisiert ist,
meint im Besitz der absolutenWahr-
heit zu sein. Aber was ist die absolute
Wahrheit? Gut möglich, dass Dr. Bun-
nemann so etwas wie dasWahrheitsora-
kel desRomans ist. Dr. Bunnemann hat
ein gottähnliches Alter und hat als prak-
tizierenderArzt mindestens vomRuss-
landfeldzug bis in die Gegenwart des
Jahres 2023 überlebt. Er weigert sich,
einem gewissen Joachim Angelique
Gerke, der schon Entzugserscheinungen
hat, einRezept auf Marom auszustellen.
Das ist ein wichtiger Punkt, weil
Gerke behauptet, allePersonen um
sich herum erfunden zu haben. Für den
Roman, den wir gerade lesen. DerRo-
mankönnte «Pharmaggedon» heissen.
Sagt Gerke, den man schon einmal «mit
quietschenden, aus dem Schädelragen-
den Gehirnfedern in Richtung Ge-
schlossene» abtransportiert hat.

Christoph HöhtkersRoman ist eine
synthetische Droge, die ähnlich wirkt wie
das von ihm erfundene Marazepam. Sie
löstWirklichkeiten auf und macht damit
Realitäten erkennbar. Es ist ein end-
losesWechselspiel, und wenn im Buch
einmal steht:«dieses Zeugverwandelt
alles in einenWitz», wissen wir, dass es
auch umgekehrt geht.Dass durchWitz
alles in Ernst verwandelt wird.Das kann
Christoph Höhtker, dessenRomantitel
«Schlachthof und Ordnung» wohl nicht
ohne Grund anMichelFoucaults«Wahn-
sinn und Gesellschaft» erinnert.

Die Politikschlägtin Wahn um


In der lakonischen Soziologie von Höht-
kers Sprache sind die Kapillargefässe
der Gesellschaft nachgebildet, und die
privaten Krisen derFiguren spiegeln
sich in globalen Bedrohungslagen. Der
linkeund derrechteTerror werden in
«Schlachthof und Ordnung» auf eine
sektenhafte und hochgefährliche Spitze
getrieben, bei der nicht zu sagen ist, wo
genauPolitik inWahn umschlägt.
Christoph Höhtker, 1967 in Biele-
feld geboren, hat seine Dystopie nicht
in eine ferne Zukunft gelegt,sondern
ganz hart an unsere Gegenwart. An
eine Gegenwart, die uns nach der Lek-
türe desRomans selbst schon dysto-
pisch vorkommen kann. Der Stoff Ma-
razepam wäre dann nur eine ArtWahr-

heitsserum, ein chemisches Vergrös-
serungsglas. Im aberwitzigen Plot des
Romans ist dasFadenscheinige der Ge-
sellschaft aufs Genaueste beschrieben.
Das höllenhaft Desinteressierte in den
Beziehungen, das Sadomasochistische
beruflicher Karrieren und all die schei-
ternden Glücksversuche.
Höhtkers drastischerWitz wirkt dort
am stärksten, wo er sich in den zartesten
Regionen des Menschlichen bewegt. Der
mephistophelische Erzähler mit dem
NamenJoachim Angelique Gerke er-
findetFiguren, die ihm in ihrer Schlech-
ti gkeit über denKopf wachsen werden,
aber vorher denunziert er sie noch mit
allerfeinsten Invektiven. Die Alkoho-
liker alias «Schnapsgräber», die ihm in
Dr. Bunnemanns Praxis gegenübersit-
zen,Ausländer, Autohändler. Alle.
Gerke ist das Epizentrum eines
Romans, der sich in viele Nebenhand-
lungen verästelt. Der die Pharmaindus-
trie und diePolitik als moderne Dro-
genbarone entlarvt. In Amerika hat
DonaldTr umpangesichts der dortigen
Drogenprobleme den nationalen Not-
stand ausgerufen. Sein eigenerRausch
ist dasWahlkampf-Rally. Das epidemi-
scheAuftreten des Menschen in Massen.
Jedem die Droge, die er braucht.

ChristophHöhtker: Schlachthofund Ordnung.
Roman. Weissbooks-Verlag, Zürich 2020.
414 S., Fr. 33.90.
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