Neue Zürcher Zeitung - 09.03.2020

(Steven Felgate) #1

Montag, 9. März 2020 CORONAVIRUS 3


Indien ist gegen die Epidemie


denkbar schlecht gewappnet


Das Virus könnte sich angesichts eines maroden Gesundheitssystems verheerend auswirken


ULRIKE PUTZ,TOKIO

Nach demAusbruch des Sars-CoV-2-
Virus in Indien droht in dem 1,3Mil-
liarden Einwohner zählendenLand eine
hohe Opferzahl.«Wir müssen mit einer
schrecklichen Zahl vonTotenrechnen»,
sagtThiagarajan Sundararaman, ein ehe-
maliger Direktor des staatlichen Natio-
nal HealthSystemsResource Centre.
Nicht nur die schiere Grösse desLan-
des sei ein Grund für den hohenTr ibut,
den das Coronavirus fordernkönnte.
«Das indische Gesundheitswesen istso
marode, dass es einer Epidemie nicht ge-
wachsen ist», sagt Sundararaman.Auch
ohne das derzeit zirkulierendeVirus
seien die öffentlichen Spitäler in Indien
am Limit. «Die öffentliche Gesundheits-
versorgung wurde jahrelang vernachläs-
sigt, das wird sich jetzträchen.»
Indien verwendet rund zwei Pro-
zent seines Bruttosozialprodukts für die
Volksgesundheit, in der Schweiz sind es
etwa zwölf Prozent.Wegen der desola-
tenVerhältnisse in Indiens öffentlichen
Spitälern wenden sich die meisten Inde-
rinnen und Inder im Krankheitsfall an
private Einrichtungen – auch wenn es
sie das letzteHemdkostet. Gut zwei
Drittel der indischen Gesundheitsver-
sorgung sind in privater Hand.Laut dem
Gesundheitsministerium rutschen jedes
Jahr sieben Prozent der indischen Haus-
halte wegen der hohenKosten für die
Gesundheitsversorgung in die Armut ab.

Viele Vorerkrankungen


Covid-19 bedrohe Indien auch deshalb
besonders stark, weil die indische Be-
völkerung eine hohe Rate anVor-
erkrankungen aufweise, sagtRajibDas-
gupta,Professor fürVolksgesundheit an
der Jawaharlal Nehru University in
Delhi. Etwa 77 Millionen Inder litten
an Diabetes, auch Nierenerkrankungen
seien weit verbreitet. Die extreme Luft-
verschmutzung hat in den vergangenen
Jahren zudem zu einem deutlichen An-
stieg von Lungenkrankheiten geführt.
Vor allem auf demLandund in den

Slums leiden viele Kinder und auch Er-
wachsene an Mangelernährung.
Fachleute hoffen, dass sich dasVirus in
Indien langsamer ausbreitet als anderswo,
da vor allem die arme Bevölkerung weni-
gerreist. «Hoffentlich gibt uns das ein
paarWochen oder Monate, umuns auf
den Höhepunkt der Krise vorzuberei-
ten», sagt Sundararaman. Es stünden
nicht annähernd genügend Beatmungs-
maschinen oder Betten auf Intensiv-
stationen zurVerfügung,um Zehntau-
sende von Schwerkranken zu versorgen.
Weder der unterfinanzierte öffentliche

Sektor noch die privaten Spitälerkönn-
ten dem Ansturm Herr werden.
DieRegierung hat angekündigt, ein
Spital pro halbe Million Einwohner
zu einem Notfallzentrum auszubauen.
IndiensRegierungschef Narendra Modi
warnte am Dienstag aufTwitter davor, in
Panik zu verfallen.«Wir arbeiten zusam-
men, ergreifen kleine, aber wichtige Mass-
nahmen,umuns zu schützen», schrieb er.
Bis Sonntag war dasVirus bei nur 39
Personen in Indien festgestellt worden.
Experten gehen jedoch von einer hohen
Dunkelziffer aus. «Es ist sehr gut mög-
lich, dass die Zahl derFälle in Indien viel
höher ist als festgestellt», sagt Arunku-
marG., Direktor des Manipal Institute
ofVirology. Am Mittwoch sagte Modi
seineTeilnahme an denFeierlichkeiten
zum Holi-Festival kommendeWoche ab.
«Experten auf der ganzenWelt haben ge-
raten, Massenversammlungen zuredu-
zieren, um dieAusbreitungzu vermei-

den», schrieb Modi aufTwitter. Deshalb
habe er beschlossen, nicht teilzunehmen.
Obviele Inderinnen und Inder dem
Beispiel ihres Premierministers folgen
und Menschenansammlungen meiden
werden, wird sich zeigen. GemässFach-
leuten dürfte es äusserst schwierig wer-
den, dieAusbreitung desVirus in Indien
mit staatlichen Eingriffen ins öffent-
liche wie private Leben zu bremsen.
Zwangsmassnahmen wie sie in China
oderJapan getroffen wurden, seien in
Indien nicht denkbar, sagtVivekanand
Jha vom George Institute for Public
Health in Delhi.

Exportstopp für Medikamente


Das Virus war offenbar durch Tou-
risten nach Indien gebracht worden.
Unter anderem wurden sechzehn von
zwanzig Mitgliedern einer italienischen
Reisegruppe alsTr äger identifiziert.
Die Gruppe war seit MitteFebruar im
Teilstaat Rajasthan unterwegs. Dort
herrscht grosse Sorge, dass dieTo u -
risten viele Ortsansässige angesteckt
habenkönnten. Covid-19 hat eine Inku-
bationszeit von bis zu zweiWochen, so
dass viele Angesteckte nochkeineSym-
ptome habenkönnten.
An Indiens Flughäfen werden alle
aus demAusland ankommendenPassa-
giereinzwischen aufFieber und andere
Anzeichen für eine Infektion mit Co-
vid-19 untersucht. Reisewillige aus Ita-
lien, China, Südkorea,Japan und Iran
erhalten wegen der vielen Coronavirus-
Fälle inihrer Heimat derzeitkeine Ein-
reiseerlaubnis für Indien.
DerAusbruch desVirus hat Indien
dazu veranlasst, den Export von26 phar-
mazeutischen Inhaltsstoffen und den
daraus hergestelltenMedikamenten und
Vitaminen zu beschränken.Dazu ge-
hören auchParacetamol, verschiedene
Antibiotika und Stoffe, die zur Produk-
tion von Anti-Baby-Pillen benötigt wer-
den. Indien ist einerderweltweit gröss-
ten Hersteller und Exporteurevon Arz-
neimitteln. Ein Lieferstoppkönnte zu
Engpässen in Europa führen.

Den Spitälern mangelt es an Betten

In den Intensivstationen in Norditalien arbeiten Ärzte und Pfleger in 12-Stunden-Schichten


ANDRESWYSLING,ROM

Die Corona-Epidemie überfordert die
Spitäler Norditaliens und insbeson-
deredieIntensivstationen zunehmend.
Zumal in der Lombardei, wo etwa die
Hälfte aller Infektionen in Italien fest-
gestellt wurde, stehen zu wenig Betten
zurVerfügung. Es mangelt anPersonal
undAusrüstung, um die vielenPatienten
angemessen zu betreuen.
DerVerband derFachärzte für In-
tensivtherapie erklärt, dass man bei
einer weiteren Zunahme derPatienten
eine Altersgrenze für dieAufnahme in
Intensivpflege werde setzen müssen.Die
lebensrettenden Massnahmen – es geht
vor allem um Beatmung von Kranken
mit schweren Lungenentzündungen–
wären dann den jüngeren Patienten
vorbehalten, denjenigen mit den bes-
ten Heilungschancen. Die Alten müsste
man sterben lassen.
Die vorhandene medizinische Beleg-
schaft arbeitet an der Belastungsgrenze,
zumal zehn Prozent desPersonals selbst
am Coronavirus erkrankt sind und des-
halb zumTeil ausfallen.Auf allen Stufen
des medizinischen Betriebs fehlt es an
Leuten, von den Ärzten über die Pfleger
und die Ambulanzfahrer bis zum Putz-
personal – auch dieses braucht eine Spe-
zialinstruktion, damit es sich vor einer
Ansteckung schützen kann.
Besonders akut ist dieLage unter
anderem imRegionalspital von Lodi,
nahe der bisherigen «roten Zone» süd-
lich von Mailand. Hier liegen laut einem
Bericht des «Corriere della Sera» 110

Spitalangestellte alsPatienten im eige-
nen Spital.Das Personal ist soausge-
dünnt,dass auf der Intensivstation in
12-Stunden-Schichten gearbeitet wird
statt in 8-Stunden-Schichten. Physische
Erschöpfung und psychische Zermür-
bung sind fast zwangsläufig zu erwarten.
An manchen Orten fehlt es an der
einfachstenAusrüstung, besonders an
Gesichtsmasken, nicht nur in der Lom-
bardei, sondern auch andernorts in Ita-
lien. Ärzte führenRachenabstriche zum
Teil völlig ungeschützt aus, mit hohem
Ansteckungsrisiko für sich selbst. Die
Weigerung Deutschlands undFrank-
reichs, mit Gesichtsmasken auszuhel-
fen, wird in den italienischen Medien
als europäische Unfreundlichkeit ange-
prangert.
Im Süden desLandes wurden bisher
verhältnismässig geringeFallzahlen ver-
zeichnet, dort droht aber imFall einer
starken Zunahme einKollaps des Ge-
sundheitswesens. Manche Spitäler sind
schlecht eingerichtet für dieBehand-
lung vonPatienten mit hochanstecken-
den Infektionskrankheiten, es fehlt an
Isolationsabteilungen mit besonders
geschultemPersonal.Dadrohen Spital-
infektionen und derAusfall ganzer Spi-
täler – auch die Behandlung anderer
Krankheiten oderVerletzungen würde
dann schwierig.
EinenNotstand im Süden will die
Regierung unbedingt vermeiden. Offen-
bar darum entschloss sich Ministerprä-
sident Giuseppe Conte zur Schliessung
sämtlicher Schulen und Universitäten
im ganzenLand – und zwar entgegen

der Empfehlung seines technisch-wis-
senschaftlichen Beraterstabs. Die Mass-
nahme ist unterVirologen umstritten,
weil dasVirus nach bisherigemKennt-
nisstand nurselten über Kinder verbrei-
tet wird und diese in den allermeisten
Fällen nur leicht erkranken.
Die italienischeRegierung ruft jetzt
pensionierte Ärztinnen und Ärzte, Pfle-
gerinnen und Pfleger aus demRuhe-
stand zurück. Man hofft, sehr schnell
2000 0 zusätzliche Stellen zu besetzen,
laut provisorischen Angaben. Zwanzig
Prozent aller Infizierten brauchen Spi-
talpflege, dieHälfte von diesen, also

zehn Prozent aller Infizierten, braucht
Intensivpflege – und zwar alle in Iso-
lationsabteilungen. In der Lombardei
kommen täglich um die 200Patienten
neu in Intensivpflege.
Stark erörtert wird dieFrage, warum
Italien viel mehr Corona-Infizierte hat
als andere europäische Länder. Die
generelle Antwort lautet: Das Virus kam
sehr früh, man war nicht darauf vorbe-
reitet und erkannte es anfänglich nicht.
In den anderenLändern war man dann
gewarnt undkonnte sich besser vor-
sehen. Italien sei jetzt dasLabor für die
Krisenbewältigung, heisst es.

Italiens Wirtschaft


droht ein Herzinfarkt


Roms Dekret lähmt ökonom isches Zentrum des Landes


GERHARD BLÄSKE, MAILAND


Das herrlicheFrühlingswetter mitTem-
peraturen von fast 20 Grad hat viele
Mailänder übers Wochenende nach
Ligurien ans Meer getrieben. Genua ist
schliesslich nur knapp140 Kilometer
oder eineinhalb Stunden mit demAuto
von derWirtschaftsmetropole Mailand
entfernt.Viele Lombardenundauch
Piemonteser haben eineWohnung oder
ein Haus am Meer.
Wie alle Italiener wurden sie völlig
überrascht von dem neuen Dekret, das
dieRegierung inRom in der Nacht auf
Sonntag verkündet hat.
In der Lombardei, inVenetien und
in der Emilia-Romagna hatten be-
reits zuvor viele Einschränkungen ge-
golten. Doch auch in Liguriens Haupt-
stadt Genua ist das Leben paralysiert.
Im Caffè delTeatro an der Piazza De
Ferrari verliert sich ein einsamer Gast
beim Apéritif, derFriseur freut sich über
einen einzigenKunden. Der Flughafen
CristoforoColombo ist völlig verwaist.


Angst vorder Rezession


DieWirtschaft fürchtet nun einenKol-
laps.Der Handelsverband Confcom-
mercio versichert, dass dieVersorgung
mit Lebensmitteln sichergestellt ist.
Doch kann überhaupt noch produziert
und beliefert werden? Die gesperrten
Regionen stehen für etwa die Hälfte des
Bruttoinlandprodukts und für fast zwei
Drittel der Exporte Italiens. Ein Drit-
tel der Lebensmittel werden hier pro-
duziert:von Schinken über Käse, Milch
und Fleisch bis hin zuWeizen,Reis und
Wein.VincenzoBoccia, der Chef des
Industrieverbandes Confindustria, for-
dert, es sei sicherzustellen, dass die Mit-
arbeiter in der Produktion, die nicht von
zu Hause aus arbeitenkönnen, sicher
an die Arbeitsplätze gelangen und dort
auch arbeitenkönnen.
In den abgeriegeltenRegionen be-
finden sich die meistenBanken und
Versicherungen.Viele metallverarbei-
tende Betriebe, Pharma- und Logistik-


unternehmen sowieAutozulieferer pro-
duzieren hier. Sie sind eng mit Europa
verbunden.Baldkönnten deshalb auch
Bänder in der Schweiz, inFrankreich
oder in Deutschland stillstehen. «BMW
ist zu 60 Prozent italienisch», sagt Eckart
Petzold, derPräsident der deutsch-italie-
nischenWirtschaftsvereinigung.
Viele Hotels in Mailand,Venedig,
Florenz und anderswo haben in den
letztenTagen mangels Gästen geschlos-
sen. DieRegierung hatte derWirtschaft
zunächst 900 Millionen Euro zurVer-
fügung gestellt und amFreitag weitere
7, 5 Milliarden, etwa fürKurzarbeitsrege-
lungen und Hilfen für Eltern, die eine
Kinderbetreuung brauchen. Ökonomen
wie Carlo Cottarelli sehen Italien in der
Rezession.Für seinen Berufskollegen
MarcoFortis besteht das wahre Risiko
darin, «dass die Lieferketten zwischen
Unternehmen und Lieferanten, aber
auchKunden abreissen, dass Zahlun-
gen ausbleiben und eine riesige Liqui-
ditätskrise entsteht».
DerBankenverband Abi ist bereit,
Kreditzahlungen bis zu einJahr auszuset-
zen oderLaufzeiten zu verlängern. Und
Carlo Messina, der Chef der Grossbank
Intesa Sanpaolo, will den Unternehmen
Liquiditätshilfen von bis zu 5 Milliarden
Euro gewähren.«Wir habenkeine Zeit.
Wir müssen handeln», meint er. Die an
der Mailänder Börsekotierten Unter-
nehmen haben in zweiWochen 95 Mil-
liarden Euro anWert eingebüsst.

Zu lockeranderswo


AttilioFontana, der Gouverneur der
Lombardei,derselbst in einer zweiwöchi-
gen Quarantäne ist, findet, die Massnah-
men derRegierung kämen zu spät und
gingennichtweit genug. Expertenwar-
nen vor einerAusbreitung der Epidemie
nach Süditalien, das auf eine solche Her-
ausforderung nicht vorbereitet sei.
Der persönliche Eindruck bestätigt
die Unterschiede. Während in Mailand
oder Genua die Strassen abends verlas-
sen liegen, tobt imrömischenAusgeh-
viertelTr asteverenoch das Leben.

MASSIMO PERCOSSI / EPA

Die meisten Inder
wenden sich im

Krankheitsfall an
private Einrichtungen –

auch wenn es sie das
letzte Hemd kostet.
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