32 SPORT Montag, 9. März 2020
«Es ist ein Rennen gegen die Zeit»
Der Eishockey-WM-Chef Gian Gilli sagt, dass es bis Mitte A pril einen Entscheid brauche – und eine Absa ge himmeltraurig wäre
Gian Gilli, dierasanteVerbreitung des
Coronavirus gefährdet dieDurchfüh-
rung der Eishockey-WM in der Schweiz
in Mai.Wie erleben Sie dieseTage?
Wir befinden uns in einerAusnahme-
situation. Täglich hören wir neue Mel-
dungen.Es ist nichtganz einfach, das
alles einzuordnen.Wir schwanken zwi-
schenVorfreude und derAngst,dass das
Turnier abgesagt werdenkönnte. Trotz
allem versuchen wir, die Balance zu hal-
ten und weiterzuarbeiten wie bisher. Die
Situation darf uns nicht lähmen.
Wie schwierig ist es, Ihr Team konzen-
triert und motiviert zu halten?
Das ist Teil der momentanen Heraus-
forderung. Wir hatten amFreitag einen
Workshop mit den lokalen Organisa-
tionskomitees sowie Vertretern des
internationalenVerbandes und dessen
Partner Infront.Ich habekeine Resigna-
tion gespürt.Und doch ist es wichtig, die
Moralhochzuhalten.Vielevonunsarbei-
ten seit zweieinhalbJahren intensiv an
der WM. Es wäre bitter, würde sie nun
kurz vor dem Beginn abgesagt.
Wie weit sind dieVorbereitungen grund-
sätzlich fortgeschritten?
Wir sind gut unterwegs. Der Mitarbei-
terstab steht, dieTechnik ist weitgehend
installiert. Die wichtigen Dossiers wie
die Unterbringung vonTeams und An-
hängern,die ganze Perimeter-Organisa-
tion an beiden Standorten,derTransport
und die Sicherheit,das alles ist bereit.In
den letztenWochen geht es um dieFein-
planung.
Wäre es für Sie denkbar, ein Turnier
ohne Zuschauer zu spielen?
Ich denke nicht,dass dieTeams und ihre
Landesverbände zweieinhalbWochen in
leeren Hallen spielen möchten. Nein,so
etwaskommt – mit Stand per heute–
nicht infrage.
Die Nachrichten dürfteneinen Einfluss
auf denVorverkauf haben.
Natürlich hat derAusbruch des Corona-
virus denVorverkauf gebremst. Seit der
Bundesrat entschieden hat, dasskeine
Anlässe mehr mit über tausend Besu-
chern stattfinden dürfen, ist er zum Er-
liegen gekommen. Ich verstehe das. Nie-
mand will einTicket kaufen,das er mög-
licherweise nie brauchen kann.
Bringt Sie der gedrosselteVorverkauf in
finanzielle Schwierigkeiten?
Im Moment noch nicht.DerVorverkauf
ist zuvor sehr gut gelaufen.Wir haben
unser Ziel schon beinahe erreicht. Bis
jetzt sind rund 300000 Kartenreser-
viert, 260000 davon sind bezahlt.
Mit wie vielen Zuschauern haben Sie
budgetiert?
Mit 310000 Tickets erreichen wir die
Gewinnschwelle. Daneben haben wir
alle uns zustehenden Sponsorenflächen
und Partnerpakete verkauft.
Was würde es finanziell bedeuten,wenn
die Weltmeisterschaft tatsächlich abge-
sagt würde? Müssen Sie mitRegress-
forderungenrechnen?
Ich kann Ihnen dieseFrage nicht beant-
worten, ganz ehrlich. Im Moment pras-
seln so vieleFragen auf unsein. Diverse
Abklärungen sind zurzeit im Gang.
Sind Sie versichert?
Ja, wir haben eineAusfallversicherung,
die auf unser Budget ausgerichtet ist.
Doch sollte dieWM abgesagtwerden,be-
ginnen die Diskussionen zu den Details
mit denVersicherungsspezialisten.
Wie hoch ist das Gesamtbudget der
Weltmeisterschaft?
Unser Bruttobudget beträgt 50 Millio-
nen Franken.
Die NHL hat signalisiert, ihren Spielern
keineFreigabe zu erteilen,wenn trotz
dem Coronavirus gespielt wird.Was
würde das für dasTurnier bedeuten?
Es wäre ein grosser Einschnitt, da dür-
fen wir uns nichts vormachen. Die WM
lebt zu einem grossenTeil von den
NHL-Stars. Viele Zuschauerkommen,
um sie zu sehen.Das gilt auch für das
SchweizerTeam.
Russlandwäre dazu bereit, mit Sotschi
als Veranstalter einzuspringen,falls die
WM nicht in der Schweiz stattfinden
könnte. Würden Sie in diesemFall eine
Entschädigung erhalten?
Wir haben vom russischen Angebot ge-
hört. Es ist aber nicht unsereAufgabe,
uns mitFragen zu diesem Szenario zu
beschäftigen. Ich gehe immer noch da-
von aus, dass die WM wie geplant in der
Schweiz stattfinden wird.
Wäre es denkbar, dieWM beispielsweise
mit dem nächstenAustragungsort 2021
in Minsk und Riga zu tauschen?
Ich denke, das ist wenigrealistisch. Es
geht nicht nur darum,16 Teams zu dis-
lozieren.Es hängt sehr viel an einem sol-
chenTurnier.
Die Zeit läuft Ihnen davon. Biswann
müssen Sie einen definitiven Entscheid
haben, ob dasTurnier stattfindet oder
nicht?
Es ist einRennen gegen die Zeit. Mitte
April lösen wir Bestellungen aus und
beginnen mit demAufbau der speziel-
len Infrastruktur. Bis spätestens dann
müsste man aus operativen Gründen
wohl einen Entscheid haben.
Was würde es für Sie persönlich bedeu-
ten, wenn die WM abgesagt würde?
Ich komme aus dem Sport. Ich weiss,
dass man zuweilen auch Niederlagen
erleidet, auch wenn eine WM-Absage
keine eigentliche Niederlage wäre. Wi e
gesagt: Der Entscheid liegt nicht in unse-
ren Händen.Wir müssen akzeptieren,
was auchimmer herauskommt. Aber
ich kann nicht verhehlen, dass es him-
meltraurig wäre, wenn wir nun nach all
der Arbeit, all derVorfreude nicht star-
ten könnten. Es wäre für alle schlimm,
nicht nur für mich.
Interview: Daniel Germann
Der Schweizer Skirennfahrer Mauro Caviezel
gewinnt die Gesamtwertung im Super-G SEITE 29
Der Engadin Skimarathon ist abgesagt – und doch
bestreiten ihn vi ele Läufer und LäuferinnenSEITE 30
IM SCHAUFENSTER
Weshalb das Comingout von Curdin Orlik eine Reifeprüfung für das Schwingen ist
MarcoAckermann· Sehr lange war Homosexuali-
tät im Schweizer Sport einTabuthema.In d er jün-
ge ren Vergangenheit ist Dynamik in diese Sache
gekommen. In einerFernsehdokumentation im
Jahr 2018 veröff entlichteLara Dickenmann, die
Rekord fussballerin im Schweizer Nationalteam,
dass sie lesbisch ist. Und fast gleichzeitig outeten
sich ihreTeamkolleginnenRamonaBachmann und
Alisha Lehmann als Liebespaar. Im April wird in
der Schweiz ein Buch auf den Marktkommen,
es heisst«Vorbild undVorurteil» und erzählt 28
Lebensgeschichten von frauenliebenden Spitzen-
sportlerinnen. Und nun also, am Freitag, erfolgte
das aufsehenerregende Comingout eines Schwin-
gers im «Magazin». Dasjenige von Curdin Orlik.
WeshalbdiesesComingoutsobemerkenswertist,
erklärt sich durch eineAussage des homosexuellen
Schwingers Orlik im Artikel. Er sagt: «In derWelt,
aus der ichkomme, wird Schwulsein eben nicht als
das Normalste derWelt betrachtet.» Als ein Doku-
mentarfilmer vor ein paarJahren herausfinden
wollte, wie es um dieToleranz der Szene gegenüber
Schwulen steht, fand er niemanden, der ihmAus-
kunftgebenwollte.Allehättensogetan,alsexistier e
die Homosexualität in dieserWelt gar nicht,berich-
tete der Filmer. Als die Boulevardzeitung «Blick»
im vergangenenAugust rund um das Eidgenössi-
sche in Zug das Gerücht aufwarf, ob sich bald ein
SchwingerzuseinerHomosexualitätbekenne,dreh-
ten sich die Gespräche in diesem Sport wochenlang
um diese eineFrage, überall wurde getuschelt.Und
im Artikel des «Magazins» heisst es nun: «Auch im
Schwingen schien es eine stille Übereinkunft zu ge-
ben,dass für Schwulekein Platz ist.DieAblehnung
war unausgesprochen und dadurch unangreifbar.»
Curdin Orlik, 27Jahre alt, wollte dieseVer-
klemmtheit durchbrechen – mitten in der Blüte
seiner Karriere, und nicht erst nach demRücktritt,
wenn vieles unkomplizierter gewesen wäre. Die-
ser Schritt hat sehr viel Mut erfordert im Milieu
eines Sports, der ein hohes Mass ankörperlicher
Intimität zulässt.Das Schwingen ist durchsetzt
von augenfälliger Männlichkeit undTestoste-
ron. Orlik muss damitrechnen, dass er von den
aktiven Kämpfern länger als einziger geouteter
Homosexueller dasteht. Menschen, die in diesem
konservativen Umfeld allzu sehr von den alther-
gebrachten Normen abweichen, haben es manch-
mal schwer. Nur schon, wer seine Haare zu lang
trägt oder denKörper mitTattoos überzieht, kann
von manch einem Schwingerfreund schräg ange-
schaut werden.
Die Zeit muss zeigen,ob die Sportart den rich-
tigen Umgang mit dem Comingout Orliks finden
wird. In den ersten öffentlichenReaktionen erfuhr
Orlik sehr viel Zuspruch, andere Schwinger sicher-
ten ihm ihre Unterstützung zu. Doch wie wird die
Realität auf den Schwingplätzen aussehen?Wird er
Schmähungen ertragen müssen?Werden ihnFans,
Gegner und Kampfrichter gleich behandeln wie
bisher? Und werden sie ihn dereinst, wenn er wie-
der Feste gewinnt, nicht auf das Schwulseinredu-
zieren, was Orliks grosserWunsch ist?
Das Comingout Orliks ist für das Schwingen
auch eineReifeprüfung. Die Szenereklamiert
gerne für sich, dass beim Hosenlupf Menschen aller
Couleur und aller Herkunftsländer jederzeit will-
kommen seien.Doch in dieser Hinsicht sind da und
dort auch schon Zweifelaufgekeimt. Die Schwin-
gerfreunde haben nun die Chance, zu beweisen,
dass sie tolerantersind als mancherorts angenom-
men. Der zurückgetretene Schwingerkönig Mat-
thias Glarner sagt: «Sollten Anfeindungenkom-
men, wäre das einRückfall in die Steinzeit.»
Pascal Erlachner, der 2017 seine Homosexualität
öffentlichgemacht hatte, war nach seinem Coming-
out noch anderthalbJahre als Spitzenschiedsrichter
im SchweizerFussball aktiv gewesen und bewegte
sich so ebenfalls in exponierterPosition in einem
Milieu machoider Prägung. Erlachner betonte, dass
er aufgrund des Outings kaum negativeFolgen für
seine Tätigkeit im Sport gespürt habe.
Curdin Orlik hofft, sich mit dem Gang an die
Öffentlichkeit von einerLast befreit zu haben.Und
schon jetzt kann gesagt werden, was ihm dadurch
mit Bestimmtheitgelungen ist:in seinem Sport eine
wichtige Diskussion über ein gesellschaftlichrele-
vantes Thema anzustossen.
Ihn möchtendie Fans sehen: den Schweizer NHL-Spieler Nico Hischier an der WM 2019in der Slowakei. JOEL MARKLUND / IMAGO
Gian Gilli
OK-Chef der
KEYSTONE Eishockey-WM