Neue Zürcher Zeitung - 09.03.2020

(Steven Felgate) #1

4 INTERNATIONAL Montag, 9. März 2020


Feuer auf Lesbos,


Tränengas


an der Grenze


Griechische Übergriffe
gege n Flüchtlinge

VOLKERPABST, ISTANBUL

Zum zweiten Mal in einerWoche ist auf
der griechischen Insel Lesbos eine Ein-
richtung für Migranten und Flüchtlinge
abgebrannt.In der Nachtauf Sonntag
wurden in einem Gemeinschaftszentrum
der Schweizer Organisation One Happy
Family Büroräumlichkeiten und Klas-
senzimmer durchFeuer zerstört.Wie
NicolasPerrenoud, der für dieKommu-
nikation der Organisation verantwort-
lich ist, der NZZ sagte, ist die Brandursa-
che noch unklar. Schon am Montag war
ein Empfangszentrum des Uno-Flücht-
lingswerks in Flammen aufgegangen.
One HappyFamily stellt für die Be-
wohner des grossenLagers von Moria
Aufenthaltsräume zurVerfügung und
bietet Aktivitäten an, darunter auch ein
Schulprogramm für Kinder. Wegen des
überlasteten griechischen Asylsystems
verbringen diemeisten Antragsteller
mehrereJahre auf der Insel.Das Lager
ist auf etwa 3 000 Personen ausgerichtet,
beherbergt zurzeitaber fast 20000.
Wegen der Flüchtlingsfragekommt
es auf Lesbos seit mehrerenWochen
zu heftigen Protesten undAuseinander-
setzungen.Durch die türkische Grenz-
öffnung vor zehnTagen haben sich diese
nochmals verschärft. Nach tätlichen
Übergriffen auf NGO-Mitarbeiter An-
fang letzterWoche haben viele Organi-
sationen ihre Aktivitätenreduziert und
einenTeil der Belegschaft abgezogen.

Weniger Ankünfte


Die Überfahrten auf dieInsel nahmen
amWochenende nach der Zunahme
der letztenTage starkab. Der türkische
PräsidentRecepTayyip Erdogan ver-
kündete amFreitag, er habe dieKüs-
tenwache angewiesen, dieMigranten
zu deren Schutz von der gefährlichen
Überfahrt abzuhalten. DieLandgrenze
bleibe aber weiter offen.
Einige Beobachter brachten die An-
kündigung mit derWaffenruhe in Zu-
sammenhang, die Erdogan am Donners-
tag mit seinem russischen Amtskollegen
WladimirPutin für die syrischeRebel-
lenhochburg Idlib ausgehandelt hatte.
Die Situation in Idlib war derAuslöser
für den Entscheid derTürkei gewesen,
die Grenzen zu öffnen.
Die etwa 10 00 Personen, die in der
vergangenenWocheauf Lesbos ange-
kommensind,wurden bereits mehr-
heitlich aufsFestland transferiert.Von
dort sollen sie zurück in ihre Herkunfts-
länder geschafft werden. Griechenland
hatte am Montag in einem von Kriti-
kern als illegal bezeichneten Schrittent-
sc hieden, für einen Monatkeine Asyl-
verfahren mehr zuzulassen. AmFrei-
tag stimmte dasParlament zudem da-
für, dass anerkannte Flüchtlinge nur
noch 30Tage langFinanzhilfen erhalten.
Dadurch soll Griechenland für Asyl-
suchende unattraktiver werden.

Lager aufgelöst


An derLandgrenze zwischen derTürkei
und Griechenland bleibt die Situation
derweil angespannt. AmWochenende
wurde auf beiden Seiten der Grenze
wiederholtTr änengas eingesetzt. Nach
griechischen Angaben versuchten türki-
sche Sicherheitskräfte in der Nacht zum
Samstag, einenTeil des Grenzzauns ein-
zureissen. Noch immer befindetsich
eine grosse GruppeAusreisewilliger am
geschlossenen Grenzübergang vonPa-
zarkule. In Edirne, der grösstenStadt in
der Nähe, wurden die provisorischenLa-
ger aber weitgehend aufgelöst.
Es gibt Berichte, wonach Busse zur
Verfügung gestellt werden, um die
Migranten zurück nach Istanbul zu brin-
gen.Laut anderen Quellen hindern die
türkischen Sicherheitskräfte die Migran-
tenaber an derRückfahrt und transpor-
tierten sie an Grenzabschnitte weiter im
Süden.Am Montagreist Präsident Erdo-
gan für einen eintägigen Arbeitsbesuch
nach Brüssel. Zumindest bis dahin dürfte
Ankarakein Interesse an einer Klärung
der Situation an der Grenze haben.

Streit in Kabul gefährdet Friedensprozess


Präsident Ghani und sein Rivale Abdullah beanspruchen beide die Führung


ULRIKE PUTZ,TOKIO


Ein innenpolitischer Streit droht den ge-
rade erst angebahntenFriedensprozess
in Afghanistan zum Entgleisen zu brin-
gen. Nur eineWoche nach der Unter-
zeichnung eines «Abkommens zumFrie-
den» durch die USA und dieTaliban und
nur zweiTage vor dem Start innerafgha-
nischerFriedensgespräche zwischen den
Islamisten und derRegierung spitzte sich
die Situation am Sonntag zu. Sowohl der
unter fragwürdigen Bedingungenwie-
dergewählte Präsident Ashraf Ghani als
auch sein Erzrivale Abdullah Abdullah
wollten sich diesen Montag zum Präsi-
denten vereidigen lassen.
Im Februar hatte die afghanische
Wahlkommission Ghani zum Sieger der
Präsidentschaftswahl im September er-
klärt. Abdullah beharrt jedoch darauf,
dass inWahrheit er und seineVerbün-
deten gewonnen hätten. Schon bei den
vorherigenWahlen hatte es zwischen
Ghani und Abdullah Streit um das Er-
gebnis gegeben. Der ehemaligeAussen-
minister Abdullah hatte daraufhin den
eigens geschaffenenPosten des «Amtie-
rendenRegierungschefs» erhalten.


Sollte es nun so weitkommen, dass
zwei Parallelregierungen ausgerufen
werden, wäre der angestosseneFrie-
densprozess in dem 35 Millionen Ein-
wohner zählendenLand ernsthaft ge-
fährdet. Schon jetzt ist klar, dass die erste
Runde derFriedensgespräche in Oslo
nicht wie geplant am Dienstag beginnen
kann: Mangels einer funktionstüchtigen
Regierung gibt eskeine Delegation, die
deren Belange vertretenkönnte.

Umstrittene Freilassungen


Unter Diplomaten in Kabul herrschte
amWochenende Unsicherheit darüber,
wie mit der vertrackten Situation um-
zugehensei. «Dies isteinschlechtes
Omen für denFriedensprozess», sagte
ein Diplomat, dessen Botschaft zu bei-
denVereidigungszeremonien eingela-
den worden war, der Nachrichtenagen-
turReuters. Diplomaten verschiedener
Nationalitäten stimmten ihrVorgehen
perTelefon undTextnachrichten ab. Der
amerikanische Sonderbeauftragte Zal-
may Khalilzad führe Gespräche mitVer-
tretern Ghanis und Abdullahs, um eine
Lösung zu finden.

Kurz nach der Unterzeichnung des
Abkommens durch die USA und dieTali-
ban am 29.Februar in Doha hatten sich
bereits erste Probleme gezeigt. Dievage
formulierteVereinbarung, die den voll-
ständigen Abzug ausländischer Streit-
kräfte einläuten und den Anfang vom
Ende des Krieges markieren soll,sieht
vor, dass 5 000 gefangeneTaliban vor Be-
ginn derVerhandlungen in Oslo freige-
lassen werden. GhanisRegierung, die an
den 18 Monate langenVerhandlungen
nicht beteiligt war, weigert sich aber, die-
sen Punkt zu erfüllen. Die USAkönnten
keineVersprechungen im Namen Kabuls
machen, kritisierte Ghani.

Trump gehtauf Distanz


Präsident DonaldTr ump scheint die
USA 18 Jahre nach dem Einmarsch in
Afghanistan nicht länger in derVerant-
wortung dort zu sehen. Es sei nicht aus-
zuschliessen, dass dieTaliban nach dem
Abzug ausländischer Streitkräfte wieder
die Macht übernähmen,räumte er am
Freitag ein. «Länder müssen letztlich auf
sich selbst aufpassen. Man kann nieman-
dem ewig die Hand halten.»

Zuvor hatteTr ump einTelefonat mit
einem führendenTalib, MullahBara-
dar, geführt.Während sichWashington
in einer historischenKehrtwende den
Taliban anzunähern scheint, hat die Ge-
duld mit GhanisRegierung nachgelas-
sen. Die USA gratulierten Ghani nicht


  • wie üblich – zu seinemWahlsieg.
    Offenbar um den Druck auf die USA
    und dieRegierung in Kabul aufrechtzu-
    erhalten, unternahmen dieTaliban in
    den vergangenenTagen rund 80 An-
    griffe vor allem aufRegierungstruppen.
    Am Mittwoch stürmten Kämpfer der
    Red Unit, der Elitetruppe derTaliban,
    einen Stützpunkt inKunduz und töte-
    ten mindestens 15 Soldaten. Am Sams-
    tag veröffentlichten die Islamisten eine
    Erklärung, wonach ihr «bewaffneter
    Jihad» fortgesetzt werde, «biseine isla-
    mischeRegierung gebildet ist».
    AmFreitag hatte die Jihadistenmi-
    liz Islamischer Staat, die ebenfalls in
    Afghanistan aktiv ist und dort mit den
    Taliban rivalisiert, in Kabul ein Blutbad
    angerichtet. Der Angriff zielte auf eine
    Zeremonie, an der Abdullah teilnahm.
    Wie ein Sprechersagte, verliess er den
    Anschlagsort aber unverletzt.


Kronprinz geht gegen Rivalen vor


In Saudiarabien lässt Mohammed bin Salman se inen Onkel und einen früheren Thronfolger festnehmen


CHRISTIAN WEISFLOG, BEIRUT


Saudiarabiens junger Kronprinz Moham-
med bin Salmanhat sich in den vergange-
nenJahren im eigenenLand und in seiner
Familie einigeFeinde gemacht. Spätes-
tens seit der Ermordung des in der sau-
dischen Elite gut vernetztenJournalisten
JamalKhashoggi im Oktober 20 18 stand
dieFrage imRaum, wie fest der ehrgei-
zige bin Salman noch im Sattel sitzt. Um
keine Zweifeldaran aufkommen zu las-
sen, wer der nächsteKönig wird,scheint
der 34-jährige Kronprinz nun seine
engsten Rivalen aus demWeg räumen
zu wollen. AmFreitagliesser insgesamt
20 Prinzen sowieDutzende von Armee-
offizieren und Beamten des Innenminis-
teriums verhaften, wie Medien überein-
stimmend berichteten. Unter ihnen sind
Ahmed bin Abdulaziz, der jüngere Bru-
der vonKönig Salman, und der ehema-
lige Kronprinz Mohammed bin Nayef.


Plänefür einePalastrevolte?


Bin Salman wirft den verhafteten Prin-
zen vor,Kontakte zu den USA und
anderen ausländischen Staaten gepflegt
zu haben, um einen Putsch gegen ihn zu
organisieren, wie die Nachrichtenagen-
turReuters berichtete. Dass es tatsäch-
lich Pläne für einePalastrevolte gab,
scheint jedoch fraglich. Seit er vor drei
Jahren als Kronprinz abgesetzt wurde,
soll bin Nayef praktisch unter Haus-
arrestgestanden sein.Aufgrunddes
Vorwurfs des Hochverratskönnte den
inhaftierten Mitgliedern derKönigs-
familie eine lebenslange Gefängnis-
strafe oder gar die Exekution drohen.
Am Sonntagabend wurden jedoch erste
Prinzen wieder freigelassen.
Ganz überraschend kommen die
Verhaftungen nicht. Mohammed bin
Salman – nach seinen Initialen auch
MBS genannt – ist die treibende Kraft
hinter der gesellschaftlichen Öffnung
und wirtschaftlichen Diversifizierung
seinesLandes.
Um seine Ziele durchzusetzen,
schreckt MBS in der Innen- undAus-
senpolitik nichtvorGewalt zurück, die
teilweise äusserstwillkürlich anmutet.
Sowohl für die wenig erfolgreiche Mili-
tärintervention inJemen als auch für die
kontraproduktiveWirtschaftsblockade
gegen Katar steht bin Salman in derVer-
antwortung.Im Inland hat er nicht nur
Hassprediger, sondern auch populärege-
mässigte Geistliche undFrauenrechtle-
rinnen verhaften lassen. Im Herbst 20 17
setzte MBS in Riad unter demVor-


wurf derKorruption bis zu 500 Prinzen
und schwerreiche Geschäftsmänner im
Luxushotel Ritz-Carlton fest. Sie muss-
ten dem Staat angeblichVermögens-
werte von insgesamt 100 Milliarden Dol-
lar abtreten, um ihreFreiheit zu erkaufen.
Mit denjüngstenVerhaftungen geht
MBS jedoch noch einen Schritt weiter.
Mohammed bin Nayef ist nicht irgend-
wer. Er war Kronprinz und Innenminis-
ter und galt nach dem 11. September
2001 als Architekt der saudischen Anti-
terrorstrategie. In dieserRolle gewann er
vielVertrauen inWashington. Diploma-
ten und Militärs dort hätten wohl lieber
den erfahrenen bin Nayef alsThronfol-
ger gesehen als denrisikofreudigen bin
Salman. Doch MBS ist es mithilfe von
DonaldTr umps SchwiegersohnJared
Kushner und dem Lobbying derVe r-
einigten Arabischen Emirate gelungen,
dasWeisse Haus für sich zu gewinnen.
Prinz Ahmed bin Abdulaziz ist der
jüngere Bruder vonKönig Salman und
der jüngste von sieben Söhnen des
Staatsgründers Abdulaziz ibn Saud und
seiner Lieblingsfrau Hasa bint Sudairi.
Nach der bisherigenTr adition ging der

saudischeKönigstitel von einem Sudai-
ri-Sohn zum nächsten. Nach Salmans
Tod hätte demnach Prinz Ahmed den
Thron besteigen sollen.
Ahmed stand König Salman und
Kronprinz Mohammed bekannterweise
kritisch gegenüber. Nachdem er Sicher-
heitsgarantien erhalten hatte, entschied
er sich 20 18 wenigeWochen nach dem
Khashoggi-Mord trotzdem dafür, aus
London nach Saudiarabien zurück-
zukehren.Angeblich verliess sich der
77-Jährige dabei auch darauf, dass sein
Bruder Salman ihn vor dem Zorn seines
Neffen MBS beschützen werde.
Gemäss einem Bericht der Internet-
zeitung «Middle East Eye» will MBS
mit denVerhaftungen seine Inthroni-
sierung beschleunigen, um seinen an-
geblich dementenVater noch vor des-
senTod im Amt zu beerben. Demnach
sorgt sich der Kronprinz vor allem auch
darum, dass Amerikas PräsidentTr ump
im November nicht wiedergewählt wird.
Gemäss Medienberichten soll der
König nun aber AhmedsVerhaftung zu-
gestimmt haben. Gerüchte, wonach Sal-
man tot sei oder imKoma liege, bestätig-

ten sich nicht.Am Sonntag veröffentlichte
die staatliche Nachrichtenagentur SPA
Bilder, dieden Monarchen bei der Ernen-
nung neuersaudischer Botschafter zei-
gen sollen. Eine offizielle Stellungnahme
zu denVerhaftungen gab es noch nicht.

Erdölpreise im Sinkflug


Die neusteVerhaftungswellekommt zu
einem kritischen Zeitpunkt.Während
einige vom Kronprinzen angestossene
Reformen erste positiveResultate zei-
gen, benötigt die angestrebte Diversifi-
zierung der stark vom Erdöl abhängigen
Wirtschaft mehr Zeit. Die zentraleFrage
ist, ob MBS so viel Zeit wirklich hat. Die
Erdölpreise sanken in denvergangenen
Wochen in Richtung der 40-Dollar-Marke.
Weil Moskau einer Drosselung derFör-
dermengen nicht zustimmte, will Riad die
Russen nun mit Billigpreisen und einer ge-
steigerten Produktion unter Druck setzen.
Es ist derzeit viel in Bewegung in
Riad.Vermutlich auch, weil der auch
selbst zu verantwortende Druck auf den
König und seinen ambitionierten Sohn
beträchtlich ist.

Der saudische Thronfolger Mohammed bin Salman gilt alsimpulsiv undrisikofreudig. LEON NEAL/GETTY
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