8 MEINUNG & DEBATTE Montag, 9. März 2020
Die gestanzte Sprache
ist steril
Das Buch «ZeitderZauberer»überdas biografisch-denkerische Feld vonHeideggerund
Cassirer, Benjamin und Wittgenstein ist nicht zufällig zum philosophischen Bestseller geworden.
WoOriginalit ät seinsollte, breitet sich an den Universitäten zunehmend
intellektuelle Uniformität aus. Gastkommentar von Peter Strasser
Heute hätte Heidegger
wegen seines authentischen
Schreibstils und seiner
abweichenden Begrifflichkeit
keine Chance mehr,
akademisch zu reüssieren.
Seit ich an der Universität lehre, bin ich in sprach-
sensiblen Bereichen tätig. Das sind Bereiche – ob
Philosophie, Germanistik, Jurisprudenz oderTheo-
logie –, deren Blick auf dieTatsachen tiefgreifend
von derRolle abhängt, die man demVerhältnis von
Sp rache undWelt beimisst.
Ich möchte diesen Punktan einem handfes-
ten Beispiel demonstrieren, das schon eine Zeit-
lan g zurückliegt.Von der Ethikkommission war
darüber zu befinden, ob dieVerwendung mensch-
licher Leichen bei Crashtests zulässig sei. Man
könnte nun mit einigemRecht behaupten, dass
die Streitparteien gar nicht dieselbenTatsachen
vor Augen hatten.War für die eine Seite die Lei-
che ein lebloser Organismus, nicht mehr, so war
sie für die andere SeiteTeil einerWeltsicht, worin
die Würde des Menschen, ob lebendig oder tot, als
«unantastbar» galt.
Begriffe prägen dasWeltbild
Welcher Seite ein Philosoph wie Martin Heidegger
recht gegeben hätte, braucht hier nicht geklärt zu
werden.Von ihm stammt jedenfalls das eindring-
liche Bild, gemäss dem die Sprache das «Haus des
Seins» sei, worin der Mensch «wohne». Demnach
tritt uns dieWirklichkeit niemalsgleichsam als eine
Ansammlung nackterTatsachen – «Fakten» – ent-
gegen, es sei denn, wir richten sie uns sprachlich
entsprechend zurecht.Darin liegt zweifellos einTeil
des Erfolgs der Naturwissenschaften, egal, ob der
Beobachter in dieTheoriebildung mit einbezogen
wird – auch er ist im quantenphysikalischen Kal-
kül ein «Faktum».
In den Geisteswissenschaften gab es seit je die
Auffassung, dass die Begriffe, mit de nen wir uns der
Welt zuwenden, dieTatsachen entscheidend mit-
prägen. Deshalb wohl behauptete Heidegger 1949
in einem seiner umstrittenen BremerVorträge, die
moderne Ernährungsindustrie sei «imWesen das
Selbe» wie die «Produktion von Leichen in Gas-
kammern». Warum?Weil in beidenFällen, so der
Philosoph, dieselbe Sprache weltbildend sei. Es sei
jedes Mal der technische Blick auf alle Dinge aus-
schlaggebend, diePerspektive des «Gestells», die
den Menschen zur Sache erniedrige.
Manbraucht mit Heidegger nicht einer Meinung
zu sein, im Gegenteil!Trotzdem ist festzuhalten:
Für diemodernen Geisteswissenschaften wurde
Heideggers Bild von der Sprache als dem «Haus
des Seins» ebenso bedeutsam wieWittgensteins
Gedanke, gemäss demWissenschaft,Religion oder
Geschichte jeweils eigene «Sprachspiele» seien, die
eine jeweilsandere Wirklichkeit sichtbar machten.
Hier eröffnete sich ein riesiges akademischesAuf-
gabengebiet, und zwar in mehreren Dimensionen.
Der subversive Blick
Es gab die Dimension der Ideologiekritik. Dabei galt
es zu analysieren, wie aus Begriffen Weltbilder her-
vorgehen, die ihrerseits wieder für die sogenannte
Wirklichkeitkonstitutiv sind. Eine wirkmächtige
Stimme war MichelFoucault. Er untersuchte die
verschiedenenFormen der«Wissensproduktion»
als begriffliche Orte der Macht,vom Nachdenken
über Abweichung, Kriminalität,Wahnsinn bis hin
zur Sexualität. Mit dem«Wissen» entstehen laut
Foucault jene «Fakten», die dann zurRechtfertigung
von Ungleichheit, Repression undVerfolgung die-
nen – eine Doktrin, die in der neulinken Kritischen
Theorie (Max Horkheimer, TheodorW. Adorno,
Herbert Marcuse, Jürgen Habermas) unter demTi-
tel «instrumentelleVernunft» bereits kursierte und
später, im Feminismus, eine Hauptwaffe beim An-
griff auf dasPatriarchat darstellte.
Neben dem ideologiekritischen Ansatz, in des-
sen Mittelpunkt die interessengeleitete Begriffs-
produktion vonWeltbildern stand, gab es die
unterschiedlichenVersuche, durch den originel-
len Umgang mit eingeschliffenen Sprachmustern
einen tiefen, oft subversiven Blick auf dieTat-
sachen zu eröffnen, ja dieWelt und den Menschen
sprachlich neu zu erfinden.Aus dem Humanis-
mus, der den Menschen gottgleich in den Mittel-
punkt rückte, entwickelte sich derPosthumanis-
mus. Darin werden wir, im Anschluss an die Psy-
choanalyseJacquesLacans, nicht mehr als ich-
zentrierte, willensfreie, rationaleWesen begriffen.
Gilles Deleuze undFélix Guattari, dieAutoren des
«Anti-Ödipus» (1972), verglichen unseren Lebens-
trieb mit einemWurzelgeflecht, dem «Rhizom».
Ihm entsprechend sollten sich unsere Sprachspiele
entlang einer humanen Zentralachseradikalplural
und relativistisch verzweigen.
In derFolge wird dieses Sprachdickicht vom
spekulativen Transhumanismus abgelöst, der
die Idee des Cyborgs, der Menschmaschine, be-
nützt, um Leben und Bewusstsein als «Simulatio-
nen» eines unterliegenden Computerprogramms–
einer digitalen Matrix –, «auf den Begriff» zu brin-
gen... Man mag es für wünschenswert halten, dass
die spekulativen Ansätze, von denen hier schlag-
wortartig dieRede ist, im Orchideenfächerkanon
der Hohen Schulen langsam verblassen. Denn es
lässt sich nicht leugnen,dass mit der denkerischen
«Wildheit» ein ständiger Hang zum Obskurantis-
mus einhergeht.
Nivellierung des Denkens
Gleichzeitig jedoch muss festgehalten werden,
dass, trotz der zeitgenössischenVielfalt an geistes-
wissenschaftlichen «Paradigmen», heute eine kaum
wünschbare Nivellierung des Denkens undRedens
im höchsten Bildungssektor stattfindet. Diese Ent-
wicklung hat mit einer allseits begrüssten Entwick-
lung zu tun, nämlich der Internationalisierung
des Hochschulbetriebs unter derLeitbegrifflich-
keit eines Akademikerenglisch.Auf solcheWeise
werdenKulturen, die sich einst fremd gegenüber-
standen,im Diskurseinander nähergebracht. Und
derart wird auch das Ideal der Menschheitals
«Solidarsubjekt» von der Scientific Community
ansatzweise vorgelebt.
Aber die geistigenKosten dieser Entwicklung
sollten ebenfalls nicht verschwiegen werden. Heute
hätte Heidegger – trotz allerFragwürdigkeit einer
der Epochenphilosophen des 20.Jahrhunderts –
wegen seines authentischen Schreibstils und seiner
abweichenden Begrifflichkeitkeine Chance mehr,
akademisch zureüssieren. Selbst Wittgenstein
fände bei den verpflichtenden Bestellungsmodi an
den Universitäten wohl kaum jemanden, der unter
Verweis aufeine unorthodoxe Abhandlung namens
«Tractatus logico-philosophicus» eine Professur be-
für worten würde. Gen erell ist zu bezweifeln, dass
originelle Geister, welche in derSprache das eigent-
liche Substrat des Denkens erblicken wie seinerzeit
der «Vater des Dekonstruktivismus», Jacques Der-
rida – er verstarb 2004 – , an den gutachterlichen
Stellungnahmen vorbeikämen,die mittlerweileam
Fliessband produziert werden.
LänderübergreifendeDurchlässigkeit, wie sie
für den universitären Lern-, Lehr- undForschungs-
betrieb gefordert wird, ist ohne intellektuelle Uni-
formierung nicht zu haben. Die jungen Menschen
im Westen sind es gewohnt, dass ihnen mit Bezug
auf die örtliche Mobilität in Bildungsangelegenhei-
ten wenig an Hindernissen in denWeg gelegt wird.
Aber wie steht es um die geistige Mobilität, um die
Anerkennung eines sprachlichen Sensoriums, das
von der Originalität seines Schöpfers zeugte?
Die Vielfalt geisteswissenschaftlicher For-
schungsthemen kann nicht darüber hinweg-
täuschen, dass gerade überall dort, wo dieDurch-
lässigkeit am grösstenist, zus ehends durch den
Druck der Organisationsnotwendigkeiten (Verglei-
chung des Niveaus, Evaluierungen und Punktever-
gaben) ein sprachkulturelles Esperanto erzwungen
wird – und die damit einhergehende «Monotoni-
sierung» der Projekte und ihrerAusführung:Aus
dem Haus des Seins ist ein übernormiertesReihen-
haus geworden. Ich habe als Gutachter bei Diplom-
arbeiten davon hinreichend mitbekommen: vom
gu ten Willen der Studierenden ebenso wie von
ihrer antrainierten Neigung zu einer sterilen, ge-
stanztenWissenschaftssprache.
Die Sprache alsreines Vehikel derKommunika-
tion mit professionellenDuftmarken zur internatio-
nalenWiedererkennung von forscherischer«Exzel-
lenz» – das alles führt in eine geistigeVerflachung,
die durch ihre Schablonenhaftigkeit schliesslich auf
die kulturelleVielfalt übergreift. Nichts ist öder,
gleichförmiger und weniger wirklichkeitstief als
die genormteForschungsmaschinerie. Nicht nur am
Tummelplatz des politischen Massenniveaus treten
schliesslichaggressiveRückbesinnungen auf, kurz:
Renaissancen aus- und abgrenzender Nationalis-
men – auch im Denken.
Dem zu wehren, ist heute vielleicht nicht weni-
ger schwierig als einst, da die Begriffsmarker noch
durch und durch «national» waren.Wie kann man
der Vieldeutigkeit unserer Humanität gerecht wer-
den? Gewiss nicht durch einen hemmungslosen
Wahrheits- und Erkenntnisrelativismus, an des-
sen Ende ein verwildertes «anything goes» stünde.
Doch das ist nur eine negative Antwort. Die posi-
tive muss abstrakt bleiben: Unsere höchste Bil-
dungsaufgabe wäre es, dafür Sorge zu tragen, dass
Heideggers «Haus des Seins» weiterhin vitale
Sprachräume hat, in denen der Geist frei gedeihen
kann – wie Orchideen in einem geräumigen Biotop,
ohne erstickende Normierungen, ob es sich um das
bürokratische Prozedere wissenschaftlichen Schrei-
bens, um die Engführung vonThemen und Begrif-
fen oder die Zwangsjacke gendergerechtenFormu-
li erens handelt.
Peter Strasserist Universitätsprofessor i. R. Er lehrt an der
Karl-Franzens-Universität Graz weiterhin Philosophie. Sein
letztes Buch: «D ie ganze Wahrheit. Aufkläru ng über ein
Paradoxon.» Schwabe-Verlag, Basel 2019.