Handelsblatt - 06.03.2020 - 08.03.2020

(Greg DeLong) #1
„Wir sind im Verkehrsbereich noch nicht an
dem Ziel, was wir erreichen müssen. Da muss
noch mehr getan werden, da wird das Klimakabinett
jetzt wieder zusammenkommen müssen.“
Svenja Schulze (SPD), Bundesumweltministerin, zur Kritik am derzeitigen
Umsetzungsstand des Klimaschutzpakets der Großen Koalition. Sie fordert
deswegen mehr Anstrengungen im Klimaschutz.

Worte des Tages


Flüchtlinge


Herz statt


Muskeln


L


uxemburg macht es vor. Das
kleine Land, das gemessen
an der Einwohnerzahl mehr
Asylbewerber aufgenommen hat als
Deutschland, will Flüchtlingskin-
dern Schutz bieten. Auch Finnland
und Frankreich haben sich zu einer
humanitären Geste bereit erklärt.
Es ist eine kleine „Koalition der
Willigen“, der Deutschland sich
rasch anschließen sollte. Denn hier-
zulande gibt es eine solche Koaliti-
on längst. Einige Bundesländer und
Kommunen haben Platz für Flücht-
linge von den griechischen Inseln
oder aus dem türkisch-griechischen
Grenzgebiet und dies auch kundge-
tan. Die SPD hat im Bundestag nur
deshalb gegen einen Grünen-Antrag
zur Aufnahme von 5 000 Flüchtlin-
gen gestimmt, weil eine Neuauflage
des Asylstreits wohl endgültig zum
Scheitern der Großen Koalition füh-
ren würde.
Innenminister Horst Seehofer,
der tief im Herzen immer auch Sozi-
alpolitiker geblieben ist, und die
Union sollten rasch den Weg für die
Aufnahme eines Flüchtlingskontin-
gents frei machen. Mit knapp
147 000 registrierten Asylsuchen-
den im vergangenen Jahr ist noch
Luft bis zur „Obergrenze“ von
200 000, die sich die Große Koaliti-
on selbst gesetzt hat.
Natürlich wird es eine Sogwir-
kung geben, wenn Deutschland
jetzt ein Kontingent aufnimmt;
noch mehr Flüchtlinge werden sich
dann ins türkisch-griechische
Grenzgebiet aufmachen oder von
Ankara dort hingetrieben werden.
Aber zumindest den Schutzbedürf-
tigsten zu helfen gebietet die
Menschlichkeit. Kinder können
nichts dafür, dass in Syrien Krieg
geführt wird oder dass ihre Eltern
versuchen, Armut und Perspektiv-
losigkeit zu entfliehen. Sie sind nur
die, die am stärksten leiden.
Auf eine gesamteuropäische Lö-
sung zu hoffen dürfte vergeblich
sein. Europa zeigt lieber Muskeln
statt Herz; EU-Kommissionschefin
Ursula von der Leyen spricht ganz
ungeniert von Griechenland als
„Schild Europas“. Ausbaden müs-
sen es die Menschen, die zu
Schachfiguren im Machtspiel zwi-
schen Brüssel und Ankara gewor-
den sind. Ein Trauerspiel.


Deutschland sollte die „Koalition
der Willigen“ im Inland nutzen und
Kommunen Flüchtlinge aufnehmen
lassen, meint Frank Specht.

Der Autor ist Korrespondent in
Berlin. Sie erreichen ihn unter:
[email protected]


C


orona kostet. Im Kampf gegen die Epide-
mie werden die betroffenen Staaten
mehr Geld ausgeben müssen, als sie in
ihren Haushalten 2020 für Gesundheit
eingeplant hatten. In Deutschland und
für Deutschland wird dieser banalen Feststellung
niemand widersprechen. Mit Blick auf Italien be-
ginnt jedoch leider schon jetzt das Messen mit zwei-
erlei Maß. Italien hat angekündigt, dass es für die zu-
sätzlichen Mittel, die es zur Corona-Bekämpfung ein-
setzt, zusätzliche Kredite aufnehmen muss. „Italien
will den Stabilitätspakt aufweichen“, lauten bereits
die ersten Schlagzeilen in Deutschland.
Es mag südlich der Alpen zahlreiche Politiker ge-
ben, die generell die EU-Schuldenregeln lockern wol-
len. Nur hat das mit dem, was die italienische Regie-
rung jetzt anstrebt, nichts zu tun: Sie will aus Brüssel
die Genehmigung bekommen, jene Ausnahmeklau-
sel in den europäischen Schuldenregeln zu aktivie-
ren, die für plötzlich auftretende Naturkatastrophen
vorgesehen ist. Es sollte selbstverständlich sein, dass
die EU-Kommission diese zusätzliche Schuldenauf-
nahme genehmigen wird.
Italien ist das europäische Land, das bisher am
härtesten vom Coronavirus getroffen wurde. Es ver-
zeichnet die meisten Krankheitsfälle und die meis-
ten Toten auf dem Kontinent. Das Land befand sich –
mit Deutschland übrigens – vor dem Eintreffen des
Virus wirtschaftlich in der Stagnation. Die erhoffte
konjunkturelle Erholung dürfte ausbleiben, weil das
Virus just im industriellen Norden ausgebrochen ist
und somit die Wirtschaft des ganzen Landes lähmt.
Eine Rezession ist höchstwahrscheinlich.
Und nebenbei bemerkt: Wenn Italien fünf Milliar-
den Euro mehr Schulden aufnimmt, hilft das auch
anderen EU-Staaten im gemeinsamen Epidemie-Ab-
wehrkampf.
Das Beispiel zeigt einmal mehr, wie sehr in der Co-
rona-Debatte Vorschläge für mittelfristig sinnvolle
Reformen mit Notfallplänen für die akute Ausnah-
mesituation vermischt werden. Auch in Deutschland
flammt derzeit die Diskussion über Sinn und Unsinn
der Schuldenbremse wieder auf.
Natürlich kann man diese Debatte mit Blick auf
höhere Investitionen und Steuersenkungen führen.
Nur: Wie die EU-Schuldenregeln enthält auch die
deutsche Schuldenbremse eine Ausnahmeklausel für
Notlagen. In akuten Krisen sind deutsche wie euro-
päische Schuldenregeln flexibel genug.
Ebenso wenig ist die deutsche Schuldenbremse
generell ein Hindernis für staatliche Kreditaufnah-
me: Die schwarze Null ist nicht Bestandteil des
Grundgesetzes, sondern eine freiwillige politische

Selbstverpflichtung der Regierungskoalition. Neue
Schulden von 0,35 Prozent des Bruttoinlandspro-
dukts darf der Bund in konjunkturellen Normalzei-
ten aufnehmen, im Rezessionsfall auch mehr.
Deutschland ist allerdings in der komfortablen La-
ge, große finanzielle Spielräume zu haben – trotz der
seit anderthalb Jahren schwächelnden Industrie. Die
langjährige Hochkonjunktur wirkt nach und hat die
hiesigen öffentlichen Kassen so gut gefüllt, dass über
Notfallklauseln niemand nachdenken muss.
Italien leidet dagegen noch immer unter den Fol-
gen der Finanz- und Euro-Krise. Man kann die letz-
ten Regierungen in Rom für ihre Wirtschaftspolitik
kritisieren – in Notlagen wie dieser wäre das aber äu-
ßerst unfair. Gegen das Virus würde es gar nichts
ausrichten, hastig mittelfristig angelegte Strukturre-
formen zu beschließen. Genauso wenig würden in
Deutschland Steuersenkungen oder die Auflage ei-
nes Investitionsfonds als Notfallmedizin gegen Coro-
na helfen. Wenn die Lieferketten aus China reißen
und Zulieferungen ausfallen, hilft beides nicht gegen
die zwangsläufigen Produktionsausfälle.
Sobald Europa aus der Corona-Epidemie heraus-
gekommen ist, haben die mittelfristigen Reformde-
batten wieder ihre Berechtigung. In Deutschland et-
wa wäre es sinnvoll, die hiesige Schuldenbremse an
den EU-Fiskalpakt anzupassen. Die europäischen Re-
geln sind im normalen Auf und Ab von Konjunktur-
zyklen klüger als die deutschen, weil sie mehr Spiel-
raum für Investitionen lassen.
Wenn Deutschland etwa den von Wirtschaft und
Gewerkschaften vorgeschlagenen 450-Milliarden-
Euro-Investitionsfonds auflegen wollte, wäre dies –
vor dem Hintergrund der soliden Staatsfinanzen –
nach EU-Regeln möglich. Ländern, deren Schulden-
stand unter 60 Prozent gesunken ist, ist ein Prozent
Neuverschuldung gestattet.
Die Neuschulden-Grenze von 0,35 Prozent der
Schuldenbremse ist zwar enger. Sie kann aber leicht
umgangen werden, wenn die Regierung Sonder-
fonds einrichtet. Eine rigide Regel, die umgehbar ist,
untergräbt aber generell das Vertrauen in staatliches
Handeln. Das spricht gegen den ansonsten sinnvol-
len Investitionsfonds.
Aktuell jedoch, im Zusammenhang mit Corona-
Notfallplänen, steht auch diese Diskussion nicht an.
Was hilft, sind staatliche Überbrückungskredite für
in Not geratene Firmen und Kurzarbeit, um Entlas-
sungen zu verhindern.

Schuldenregeln


Der Stabilitätspakt


ist klug genug


Das Coronavirus
befeuert die
Debatte über
Europas
Schuldenregeln.
Dabei ist der Pakt
in Notlagen
flexibel, sagt
Donata Riedel.

Man kann die


letzten Regie-


rungen in Rom


für ihre Wirt-


schaftspolitik


kritisieren – in


Notlagen wie


dieser wäre das


aber äußerst


unfair.


Die Autorin ist Hauptstadtkorrespondentin in
Berlin. Sie erreichen sie unter:
[email protected]

Meinung


& Analyse


WOCHENENDE 6./7./8. MÄRZ 2020, NR. 47
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„ Je länger so eine Situation
andauert, desto weniger
können wir uns ihren
Folgen entziehen.“
Peter Altmaier (CDU),
Bundeswirtschaftsminister, erwartet
Auswirkungen der Corona-Epidemie auf
die Volkswirtschaft.

„Wir nehmen den Kampf
gegen diese Bedrohung auf.“
Christine Lambrecht, die
Bundesjustizministerin will nach dem
rassistisch motivierten Anschlag von Hanau
gegen den Rechtsextremismus hart durchgreifen.

Stimmen weltweit


Zu den Migranten an der türkisch-griechischen
Grenze schreibt die italienische Zeitung „La
Repubblica“:

W


ährend Trupps von Neonazis Migran-
ten auf Lesbos verprügeln, die grie-
chische Küstenwache sie auf
Schlauchbooten attackiert und die Polizei scham-
los auf sie schießt, kommen die EU-Führer mit
großem Pomp in Griechenland an, um mittels ih-
rer Kommissionspräsidentin Ursula von der Ley-
en zu verkünden: „Diese Grenze ist nicht nur
griechisch, sie ist die Grenze Europas.“ Leider er-
lebt Europa an diesem blutigen Stacheldraht sein
größtes Versagen. Kommentatoren aus allen Län-
dern fragen sich, ob der Kontinent vor einer Neu-
auflage der Flüchtlingskrise von 2015 steht. Sie
wägen die Gemeinsamkeiten zahlenmäßig ab,
schätzen die Auswirkungen auf die Sozialsysteme
ab, versuchen, den Druck der verzweifelten Men-
schen zu messen, die aus der Türkei vor die Tore
Europas drängen. Niemand fragt sich ernsthaft,
was sich seit dem Flüchtlingsherbst vor fünf Jah-
ren geändert hat und welche Konsequenzen
Europa aus diesem zerstörerischen Kapitel gezo-
gen hat.

Die liberale schwedische Tageszeitung „Dagens
Nyheter“ kommentiert die wirtschaftlichen
Folgen des neuartigen Coronavirus:

M


illiarden Menschen sind dank der Glo-
balisierung aus der Armut geholt wor-
den. Covid-19 zeigt gleichzeitig, dass die
Wirtschaft eine neue Verwundbarkeit bekommen
hat, nicht zuletzt in einem kleinen, vom Export
abhängigen Land wie Schweden. Der Handels-
krieg hat das Vertrauen in der Welt beschädigt.
Aber genau wie es eine globale Zusammenarbeit
gegen die Krankheitsausbreitung braucht, ist sie
auch im wirtschaftlichen Bereich vonnöten. Die
Weltwirtschaft muss politische Hilfe gegen das
Virus bekommen. Das Virus ist ansteckend – und
das gilt auch für die wirtschaftlichen Nachwir-
dpa, REUTERS, APkungen.

Zur Nominierung des Kandidaten der
US-Demokraten für die Präsidentschafts-
wahlen heißt es im Züricher „Tages-Anzeiger“:

D


er Aufstieg Trumps sollte eigentlich da-
zu führen, dass sich moderate und linke
Kräfte vereinen, obwohl sie zuweilen
unterschiedlicher Meinung sind. Während San-
ders Dinge verspricht, die er als Präsident
kaum je halten könnte, da ihn der Kongress
ausbremsen würde, hat sich Joe Biden von An-
fang an auf Donald Trump eingeschossen. Nicht
zu Unrecht: Fast doppelt so viele Demokraten
sagen, dass es wichtiger sei, den Präsidenten
abzuwählen, als einen Kandidaten zu haben,
mit dem sie in allen Fragen übereinstimmen.
(...) Vor allem jedoch muss er als Kandidat der
Einheit auftreten, zuerst der Demokratischen
Partei und dann des ganzen Landes. Denn da
kann Trump nicht mithalten, er kann nicht den
Versöhner einer Nation geben, die er weiter ge-
spalten hat.

E


s wird sehr teuer, und es wird ein echter Kraft-
akt. Trotzdem ist es richtig, dass die Bundesre-
gierung bis 2025 einen Rechtsanspruch auf Ganz-
tagsbetreuung von Grundschülern schaffen will. Wer
wie die Große Koalition die Vereinbarkeit von Familie
und Beruf verspricht und einen wirksamen Schutz vor
Altersarmut gelobt, der muss auch dafür sorgen, dass
Eltern arbeiten gehen können.
Zur Realität in Deutschland gehört es aber, dass in
manchen Gegenden die Grundschüler mittags um zwölf
schon wieder vor der Tür stehen. In Baden-Württem-
berg oder Bayern werden nur wenige Kinder nach dem
Unterricht in der Schule oder im Hort betreut. Dieser
Umstand trifft noch immer vorwiegend Frauen, die da-
durch kaum einer geregelten Tätigkeit nachgehen kön-
nen. Auch die Teilhabechancen von Kindern aus bil-
dungsfernen Schichten oder mit Migrationshintergrund
sprechen deutlich für eine Ganztagsbetreuung.
Nun ist es natürlich pikant, dass der Bund Maßnah-
men beschließt, die die Länder dann umsetzen und be-
zahlen sollen. Schließlich geht es beim neuen Rechtsan-

spruch nach Schätzungen um 7,5 Milliarden Euro allein
für Investitionen in nötige Räumlichkeiten an den bun-
desweit 15 000 Grundschulen. Der laufende Betrieb
würde jährlich weitere 4,5 Milliarden Euro kosten. Die
vom Bund in Aussicht gestellten zwei Milliarden Euro,
über die am Donnerstag im Bundestag debattiert wur-
den, sind offenkundig nur eine Anschubfinanzierung.
Doch die Länder müssen ihren Beitrag leisten. Tat-
sächlich haben Länder und Kommunen in den vergan-
genen zehn Jahren immer mehr Geld über die Umsatz-
steuerverteilung für immer weniger Aufgaben bekom-
men. Die Länder waren zuletzt sogar in der Lage, hohe
Überschüsse anzuhäufen. Warum sie dann nicht für das
Bildungswesen und damit ihre Kulturhoheit aufkom-
men sollen und wollen, leuchtet nicht ein.
Darüber hinaus sollten sich die Länder darauf kon-
zentrieren, pädagogisch sinnvolle Konzepte für die
Ganztagsbetreuung der Grundschüler zu entwickeln.
Denn es muss um mehr gehen, als nur um eine bloße
Verwahrung der Kinder. Dringlich ist auch, die Ausbil-
dung von Erziehern und Grundschullehrern zu forcie-
ren, da hier ein gefährlicher Engpass droht. Hier wer-
den weitere Kosten auf die Länder zukommen.
Gleichzeitig sollten auch Gutverdienende etwas für
die Betreuung ihrer Kinder zahlen – zumal sie einen
Teil sogar vom Finanzamt zurückbekommen. Schon
beim „Gute-Kita-Gesetz“ war es unverständlich, dass
die Bundesmilliarden in einigen Ländern nicht in die
Qualität der frühkindlichen Bildung flossen, sondern al-
le Eltern unabhängig vom Geldbeutel von den Kita-Ge-
bühren befreit wurden.

Ganztagsbetreuung für Grundschüler


Teurer Kraftakt


Wenn es einen Rechtsanspruch
auf Ganztagsbetreuung geben
soll, dann können sich Länder bei
der Finanzierung nicht drücken,
meint Heike Anger.

Die Autorin ist Korrespondentin in Berlin.
Sie erreichen sie unter:
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Wirtschaft & Politik


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