Handelsblatt - 06.03.2020 - 08.03.2020

(Greg DeLong) #1
Peter Köhler, Anke Rezmer Frankfurt

S


elten war der Begriff einer „Achterbahn-
fahrt“ an den Finanzmärkten so zutref-
fend wie in diesen Tagen. Erst erlebten
die Aktienmärkte angesichts der zuneh-
menden Verbreitung des Coronavirus
die schlimmste Woche seit dem Höhepunkt der Fi-
nanzkrise 2008. So brach der S&P 500 um mehr
als elf Prozent ein, der Euro Stoxx 50 um über
zwölf Prozent. Auslöser war ein „Trommelfeuer“
aus Gewinnwarnungen infolge der Epidemie, ge-
kürzten Wachstumsprognosen für die Wirtschaft,
geschlossenen Schulen und hilflos aussehenden
Politikern, analysieren die Strategen des Fondsan-
bieters DWS. Anfang der Woche legten wichtige In-
dizes wieder zu, doch nur kurz. Viele Anleger sind
verunsichert durch immer neue Nachrichten über
die Ausbreitung des Virus. Sie fragen sich, ob die
erneute Zinssenkung der US-Notenbank sowie die
breite Diskussion über politische Hilfen die Wirt-
schaft wirklich stützen. Das Handelsblatt sucht
nach Antworten auf wichtige Fragen von Anlegern.

nWie verliefen frühere Schockwellen an den
Aktienmärkten?
Neben Epidemien wie Corona und Sars gehören
Kriege zu den größten Heimsuchungen der Mensch-
heit – mit entsprechend heftigen Reaktionen an den
Aktienmärkten. Allerdings zeigt eine Analyse des
Handelsblatts, dass in der Regel – nach zunächst tie-
fen Rückschlägen – sich die Börsenindizes am Ende
meist in positive Verläufe retten konnten. Betrachtet
wurden jeweils die Zeiträume eine Woche vor Be-
ginn einer Krise bis eine Woche danach. Beispiels-
weise verzeichneten die Kurse im Dow-Jones-Index
nach dem Korea-Krieg ein Plus von 24 Prozent, bei
der Kuba-Krise waren es plus fünf Prozent. Auch im
dritten Golfkrieg schossen die Kurse nach oben – im
Dax sogar stärker als im Dow. Hier gab es einen rela-
tiv langen Vorlauf – die Märkte konnten sich also da-
rauf einstellen, die Medien berichteten zeitnah.
Dagegen kam der zweite Golfkrieg mit dem Über-
fall des Iraks auf Kuwait überraschend, in der acht
Monate andauernden Auseinandersetzung blieb am
Ende ein Minus von fast 19 Prozent im Dax. Die
Wendepunkte bei den Epidemien hängen dagegen
eng mit fallenden Infektionszahlen zusammen. Die
Sars-Epidemie begann im November 2002, der Dax-
Tiefpunkt folgte im März 2003, Ende Mai 2004 wur-
de dann von der WHO das Ende der Krankheit aus-
gerufen, und der deutsche Leitindex stand rund 27
Prozent höher als bei Ausbruch der Gesundheitskri-
se. Bei kriegerischen Auseinandersetzungen gibt es
kein einheitliches Muster, auch nicht bei Terror-An-
schlägen wie dem auf das World Trade Center. In
diesem Fall war auch nach einem Monat der Schock
noch nicht überwunden, und der Dax notierte fast
zehn Prozent im Minus (siehe Grafiken).

nWelchen Verlauf nimmt die Coronakrise?
Niemand weiß, wie stark sich das Virus in der Welt
ausbreitet und welchen Schaden dies bei Menschen
und in der Wirtschaft anrichtet, bringt es Stefan
Schießer, Honorar-Anlageberater beim Vermögens-
verwalter GSAM + Spee in Frankfurt, auf den Punkt.
Wesentlicher Punkt für ihn ist, wie stark sich das Vi-
rus in die Wirtschaft hineinfrisst und Investitionen
hemmt. „Aktuell sind Investoren im Blindflug.“ Un-
ter Anlagestrategen und Investoren werden drei Sze-
narien diskutiert: Das pessimistische – und zugleich
unwahrscheinlichste – Szenario wäre eine Beschleu-
nigung der Kontamination mit drastischen Maßnah-
men zur Bekämpfung bis hin zu Grenzschließungen,
wie etwa Strategen des französischen Fondshauses
La Financière de l’Échiquier (LFDE) skizzieren. Am
anderen Ende des Spektrums steht ein optimisti-
sches Bild, bei dem sich die Ausbreitung des Virus in
den nächsten Wochen stark verlangsamen würde.
Viele Investoren vermuten die Realität dazwischen:
„Bisher lassen alle Informationen den Schluss zu,
dass es sich bei Corona um ein vorübergehendes Phä-
nomen handelt“, meint Christian von Engelbrechten,
Fondsmanager bei Fidelity International. Beruhigend
wirkten die Aussagen etwa führender Virologen, dass
mehr als 80 Prozent der Menschen, die sich infizie-
ren, einen milden Verlauf erlebten, sich mehr als die

Hälfte der weltweit bisher Angesteckten schon erholt
habe und die Sterblichkeitsrate wohl bei 0,3 bis 0,7
Prozent liege. Zwar rechnet der Fondsmanager da-
mit, dass Chinas Wirtschaft im ersten Quartal
schrumpft, was auch der Weltwirtschaft einen Dämp-
fer von vielleicht einem Prozentpunkt bescheren
könnte. Dennoch dürfte Corona in den nächsten 12
bis 18 Monaten überwunden sein, schätzt er.

nWie kann eine Kurserholung aussehen?
Spätestens wenn sich der Scheitelpunkt bei den In-
fektionszahlen in Europa und den USA abzeichnet
und Effekte auf Konsum und Lieferketten begrenzt
bleiben, werden sich die Aktienkurse erholen, er-
wartet Michael Herzum, leitender Stratege beim
Fondshaus Union Investment – er rechnet damit in
den kommenden sechs bis zwölf Monaten. Stabili-
sieren dürften zuvor geld- und fiskalpolitische Maß-
nahmen. Der Anlagenotstand werde als Thema zu-
rückkehren, ergänzt Joachim Schallmayer, Chefan-
lagestratege beim Fondsanbieter Deka. Er erwartet
eine „U-Erholung“ an den Aktienmärkten.

nWas können Einstiegssignale sein?
„Greife nie in ein fallendes Messer“ gilt als eine der

gern zitierten Weisheiten der Wall Street. „Es ist
noch zu früh, um wieder in den Kaufmodus zu
schalten“, bestätigt Schießer von GSAM + Spee. Der
Kurssturz der letzten Woche sei bereits eine erste
Rückwärtsbewegung gewesen, sagt Schallmayer von
der Deka. Spitze sich die Nachrichtenlage nicht
nochmals erheblich zu, sollte keine weitere folgen.
Allerdings werde der Markt in den nächsten Wo-
chen nur unter sehr hohen Schwankungen einen
Boden finden. „Kurze, aber scharfe Kursrücksetzer“
gehörten dann zum Tagesgeschäft. Bei vergangenen
Epidemien seien die Kaufsignale zwischen einer
Woche und einem Monat nach dem Gipfel der In-
fektionszahlen erfolgt, stellen die Strategen der Cre-
dit Suisse fest. Dann folgte eine rasche Kurserho-
lung.

nWas sollten Anleger jetzt tun?
Die jüngsten Kursverwerfungen sind eine „Art Pra-
xistest“, sagt Arne Sand, Chef des Stuttgarter Ver-
mögensverwalters Sand und Schott. Investoren
„können nun überprüfen, ob das, was man sich bei
Sonnenschein am grünen Tisch überlegt hat, Be-
stand hat“ – ob sie etwa 15 Prozent Kursverlust ver-
tragen: „Jetzt kann man nachspüren, wie es sich

Aus Krisen lernen


Die Unsicherheit der Investoren über die Folgen der Corona-Epidemie


hat die Aktienmärkte erzittern lassen. Ein Blick auf überstandene


Krisen zeigt, dass es bis zu einer Erholung dauern kann.


Kubakrise
Dow-Jones-Index in Punkten

Kubakrise


  1. bis 28. Okt. 1962


+5 %

HANDELSBLATT


  1. Okt. 1962 5. Nov. 1962
    Quelle: Thomson Reuters Datastream


620

605

590

575

560

545


  1. Golfkrieg
    Deutscher Aktienindex Dax in Punkten
    2. Golfkrieg
    2. Aug. 1990 bis 5. März 1991


HANDELSBLATT


  1. Juli 1990 12. März 1991
    Quelle: Thomson Reuters Datastream


2 000

1 800

1 600

1 400

1 200

1 000

-19 %

The LIFE Picture Collection/Getty Images REUTERS

Private


Geldanlage
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WOCHENENDE 6./7./8. MÄRZ 2020, NR. 47
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anfühlt, wenn etwa von einer Million Aktienvermö-
gen nun 55 000 Euro weniger im Depot stehen.“
Mancher Anleger lerne sich nun selbst besser ken-
nen, sagt er: „Wer mit dieser Volatilität doch nicht
ruhig schlafen kann, sollte etwas Gas rausnehmen“


  • das Depot stabiler aufstellen, etwa über Anleihe-
    oder Immobilienfonds mit geringeren Wertschwan-
    kungen oder höhere Liquidität.


nIst es Zeit, die Anlagestrategie jetzt auf den
Prüfstand zu stellen?
Nein. Wer mit den Kursschwankungen leben kann,
braucht nichts zu ändern. „Man sollte langfristige

Pläne nicht wegen kurzfristiger Panik aufgeben“,
mahnt Sand: 80 Prozent der Wertschöpfung einer
Strategie entstehe ab dem fünften Jahr, also mittel-
bis langfristig – das heißt: „Corona ändert auf län-
gere Sicht nichts.“ Wer aber auf absehbare Zeit
Geld braucht, etwa weil er in den Ruhestand geht
oder eine größere Anschaffung plant, muss anders
kalkulieren. „Solche Anleger sollten handeln und
ihr Risiko reduzieren“, rät GSAM-Mann Schießer –
also sein Depot absichern oder umschichten. Wer
aber einen langen Anlagehorizont hat – wie Spar-
plansparer – sollte „unbedingt weiter sparen“,
mahnt er: sie kauften in unterschiedlichen Markt-

phasen teurer und billiger ein – aktuell eben billi-
ger: „Corona braucht sie nicht zu interessieren.“

nIst es schon Zeit für Aktien-Schnäppchen?
Das kommt auf den Anlagehorizont und das Nerven-
kostüm eines Anlegers an. Schocks wie Corona böten
oft Gelegenheiten, gezielt Positionen aufzustocken,
sagt Anlagestratege Felix Herrmann vom US-Fonds-
haus Blackrock. Denn in panikähnlichen Ausverkäu-
fen werden oft Firmen zu Unrecht über einen Kamm
geschoren. Sand von Sand und Schott pflichtet bei:
„Wer jetzt nachkaufen will, sollte nicht warten, bis die
Kurse weiter fallen – allerdings nicht das ganze Heu
aus der Scheune fahren.“ Ein Viertel oder ein Drittel
ihrer zu investierenden Summe könnten Anleger ein-
setzen: „Denn man kann jetzt 15 Prozent billiger ein-
kaufen.“ Langfristig orientierte Anleger können „mit
ruhiger Hand etwas investieren“, ergänzt Schießer.

nAuf was lohnt es sich jetzt zu setzen?
Anleger sollten je nach Geschmack und Interesse an
Aktien Einzelwerte kaufen oder mit Fonds oder ETFs
auf ganze Märkte setzen. Fondsmanager Von Engel-
brechten von Fidelity schaut aktuell, wo es Firmen
mit Innovations- und Wachstumskraft gibt, deren Ak-
tienkurs „durch Panikreaktion an den Märkten über-
trieben im Kurs gedrückt wurden“. Allerdings bedeu-
tet das für einen Privatanleger einen nicht zu unter-
schätzenden Einsatz. Es sei aufwendig, jetzt
Branchen zu identifizieren, meint Sand. Daher emp-
fiehlt er, auf den breiten Markt zu setzen.

nWelche Branchen sind denn spannend?
Wer tiefer einsteigen möchte, könne „darüber
nachdenken, ob die Belastung von Corona für alle
Unternehmen gleich stark ist“, sagt Schießer von
GSAM + Spee. Denn es seien alle Aktien unter die
Räder gekommen, aber es gebe Branchen, die mit
Corona und den Folgen nichts zu tun hätten – wie
Immobilienkonzerne. Besonders betroffen seien
Sparten des Tourismus wie Hotels, Fluggesellschaf-
ten sowie Branchen oder Firmen, die von Unter-
brechungen in der Lieferkette betroffen sind, wie
Logistiker, sagt Herzum von Union. Und wenn sich
die Lage wieder beruhige, dürften sich diese Bran-
chen rasch wieder erholen. Grundsätzlich sieht er
vor allem Chancen bei Wachstums- und Qualitäts-
unternehmen, insbesondere im IT-Sektor und der
Gesundheitsbranche wie in der Medizintechnik.

nGelten Börsenweisheiten wie „Kaufen und
liegen lassen“ noch?
Generell schon, finden Strategen. „Aber man muss
den Magen dafür haben“, sagt Vermögensverwalter
Sand. Wer also damit nicht ruhig schläft, sollte eine
aktivere Strategie fahren. Das heißt, sich vielleicht
regelmäßig Kursgewinne sichern und so auch sei-
nen gewünschten Depotmix aus verschiedenen An-
lagearten beibehalten.

Terroranschläge in den USA
Dow-Jones-Index und Dax in Punkten

Anschläge World Trade Center


  1. Sept. 2001


Dow Jones-8 %

Dax

HANDELSBLATT


  1. Sept. 2001 18. Okt. 2001
    Quelle: Thomson Reuters Datastream


10 200

9 800

9 400

9 000

8 600

8 200

6 000

5 400

4 800

4 200

3 600

3 000

-10 %

Coronavirus
Deutscher Aktienindex Dax in Punkten

Coronavirus
Seit 2. Dez. 2019

HANDELSBLATT


  1. Dez. 2019 6. März 2020
    Quelle: Thomson Reuters Datastream


14 000

13 400

12 800

12 200

11 600

11 000

-9 %

AFP UPI/laif

 
    
 
 



  

 


 



 

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Private Geldanlage
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