Handelsblatt - 06.03.2020 - 08.03.2020

(Greg DeLong) #1

Angst und Wirtschaft


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WOCHENENDE 6./7./8. MÄRZ 2020, NR. 47
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ur wenige Ökonomen genießen in
der Finanzbranche mehr Anerken-
nung als Mohamed El-Erian. Geht
es um aktuelle Entwicklungen an
den Märkten, gilt seine Stimme als
äußerst gewichtig – gerade in schlechten Zeiten,
wenn Anleger verunsichert sind und besonders
großen Wert auf verlässliche Prognosen legen. El-
Erian ist auch einer der produktivsten Marktbe-
obachter. Er schreibt Analysen und Kolumnen
und nutzt den Kurznachrichtendienst Twitter in
wichtigen Zeiten im Minutentakt, um aktuelle
Entwicklungen an den Märkten zu kommentie-
ren. Der Sohn aus einer ägyptischen Diplomaten-
familie war bis 2014 zusammen mit Starinvestor
Bill Gross Aushängeschild des legendären Fonds-
hauses Pimco im kalifornischen Newport Beach.
Als es zum Streit zwischen den beiden Topmana-
gern kam, verkündete El-Erian überraschend sei-
nen Rückzug – was seinem Ruf nicht geschadet
hat. Als ökonomischer Chefberater der Allianz ist
der Anleihe-Guru weiterhin gern gesehener Gast
auf Konferenzen oder im TV-Interview.

Herr El-Erian, das Coronavirus und vor allem die
Angst davor hat die Märkte in den vergangenen
Wochen dominiert. Was für eine Rolle spielt
Angst beim Investieren?
Angst wirkt immer als Verstärker. Sie kann den
potenziellen Schaden für die Wirtschaft vergrö-
ßern, genauso wie das Risiko von finanziellen
Verwerfungen.

Was schürt die Angst?
Aus meiner Sicht sind es drei Dinge: die Unsi-
cherheit, die mit dem Virus verbunden ist. Es
gibt schließlich viele Dinge, die wir nicht wissen.
Hinzu kommt das Gefühl, dass Regierungen
nicht Herr der Lage sind und nun Nachholbedarf
haben. Und: Die Schutzmaßnahmen, die die
Menschen treffen, sind sehr sichtbar, was zusätz-
lich die Angst vor der Ansteckung schürt.

Haben wir überreagiert?
Die Menschen in ihrem Verhalten: ja, aber das ist
sehr verständlich. Die Flughäfen sind leer. Die Stor-
nierungen haben in den vergangenen Tagen deut-
lich zugenommen. Konferenzen bis in den Mai fal-
len aus. In den USA, mehr noch als in Europa,
steigt die Angst vor juristischen Folgen: Wenn Rei-
sen und Veranstaltungen nicht abgesagt werden,
sind Arbeitgeber und Veranstalter dann haftbar?

Dabei könnte man auch argumentieren, dass
das Virus mit den 3000 Toten weltweit bislang
noch eines der weniger aggressiven ist.
Es gibt viele Beispiele für die Überreaktion. In
Los Angeles gibt es sechs Fälle, und die Verwal-
tung hat am Mittwoch einen Notfall ausgerufen.
Dabei weiß niemand genau, was das eigentlich
heißt. Ich war in der Drogerie und wollte Hand-
desinfektionsmittel kaufen. Die Verkäuferin hat
mich ausgelacht, weil die seit sechs Tagen ausver-
kauft sind. Die Sorge um die eigene Gesundheit
und Sicherheit führt zu plötzlichen Stillständen
in der Wirtschaft. Ich nenne das Phänomen:
„Sudden Stops“.

Was meinen Sie damit genau?
Egal, wie hoch der Preis ist: Die Verbraucher hö-
ren auf, an bestimmten wirtschaftlichen Aktivitä-
ten teilzunehmen. Man kann den Leitzins zum
Beispiel so tief absenken und die Leute mit Geld
versorgen, wie man will, sie werden nicht reisen,
wenn sie Angst vor Ansteckung haben. Das kennt
man vor allem von Konflikten aus Entwicklungs-
ländern. Wir erleben das in den westlichen Staa-
ten vor allem an den Finanzmärkten, aber nicht
in der Wirtschaft. Ich warne davor schon seit ei-
nem Monat. Es startet im Kleinen, aber dann gibt
es einen Kaskadeneffekt.

Was heißt das für die Wirtschaft?
Wenn man sich anschaut, was das Bruttoinlands-

produkt antreibt, dann gibt es im Wesentlichen
vier Faktoren: Konsum, Investment, Handel und
die Regierung. Die ersten drei sind betroffen, was
extrem ungewöhnlich ist und zu Multiplikations-
effekten führt. Wir konsumieren weniger, also in-
vestieren Unternehmen weniger und stellen des-
halb weniger Leute ein. Also konsumieren wir
noch weniger. Und so weiter.

Wie kommen wir da wieder raus?
Nach den Sudden Stops und einer Phase der Vo-
latilität, die wir jetzt an den Märkten sehen, er-
reicht man in der Regel irgendwann die Talsohle,
zuerst an den Finanzmärkten, dann folgt die Re-
alwirtschaft.

Wie wird die wirtschaftliche Erholung nach so
einer Phase aussehen – wie eine V-Kurve: ein
schneller Einbruch und eine schnelle Erholung?
Oder eher wie ein L: ein schneller Einbruch und
dann eine längere Stagnation?
Ich denke, die Erholung wird im besten Fall eher
U-förmig verlaufen. Dazu müssen die Verbrau-
cher das Gefühl haben, dass die Verbreitung des
Virus eingedämmt ist. Zudem müssen die Folgen
einer Erkrankung geringer und die Immunität ge-
steigert werden. Ein Impfstoff würde diesen Pro-
zess beschleunigen.

Und im schlimmsten Fall?
Wird es eher W-förmig sein. Das ist derzeit ja das
große Risiko in China. Das Land will der Welt un-

bedingt signalisieren, dass es zur Normalität zu-
rückkehrt, jetzt, wo die Menschen zu ihren Jobs
zurückkehren. Doch Mediziner sind besorgt,
dass sich damit auch die Infektionen wieder aus-
breiten könnten.

Der Kongress in den USA hat ein milliarden-
schweres Hilfspaket verabschiedet. Italien
schließt Schulen. Wie gut sind die Regierungen
in den USA und in Europa vorbereitet?
Alle haben noch Nachholbedarf. Und das braucht
eben Zeit. Wichtig dabei ist, dass die Gesund-
heitspolitik über die Länder hinweg koordiniert
werden muss.

Was werden die langfristigen Folgen des Virus
sein?
Der Trend zu weniger Globalisierung wird sich
beschleunigen. Unternehmen erkennen, dass
diese günstigen Lieferketten, bei denen alles
„just in time“ ankommt, vielleicht effizient sind,
aber zu riskant. Sie werden ihre Abhängigkeit
von bestimmten Lieferketten reduzieren.

Wie wird das konkret aussehen?
Unternehmen werden immer noch eine globale
Lieferkette haben, sie werden sich nur weniger
stark darauf verlassen. Vieles muss sich erst
noch zeigen. Es gibt schließlich nicht viele Alter-
nativen zu China. Vietnam ist bereits voll ausge-
lastet, das wäre die offensichtlichste Lösung.
Die Philippinen und andere Länder bauen gera-

Wer ein


sehr guter


Day-Trader ist,


der hat nun


viele gute


Chancen.


Alle anderen


sollten sich


sicher sein, dass


sie mit der


Volatilität leben


können.


„Angst als


Verstärker“


Eine schnelle Erholung von den wirtschaftlichen Folgen des


Coronavirus ist nicht zu erwarten, warnt Allianz-Chefberater


El-Erian. Zudem geht er davon aus, dass sich langfristig


der Trend zu weniger Globalisierung beschleunigen wird.


Mohamed El-Erian


Fearless-Girl-Statue
vor der New Yorker Börse:
Besucher haben ihr zum
Schutz vor dem Corona-
virus einen Mundschutz
umgehängt.

ddp images/Anthony Behar

Angst und Wirtschaft


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de noch ihre Infrastruktur auf. Die US-Regie-
rung befasst sich ja schon länger mit der Frage,
wie schnell man Produktion zurück ins Land
holen kann.

Was keine einfache Frage ist, denn schon jetzt
fehlt es ja an qualifiziertem Personal.
Deshalb wird die Erholung auch nicht wie ein V
aussehen ...

... bei der auf einen schnellen Einbruch auch ei-
ne schnelle Erholung folgt.
Jeder, der das glaubt, unterschätzt den wirt-
schaftlichen Schock, den wir gerade erleben.

Was heißt das für den Welthandel?
Immer, wenn man einen Prozess beschleunigt,
wird es schwieriger, zum alten Status quo zurück-
zugehen. So wird das auch mit dem Handel wer-
den. Ihnen ist sicher nicht entgangen: Die USA
waren nicht gerade sehr zuvorkommend darin,
die Situation für China einfacher zu machen. Die
Strafzölle sind immer noch intakt.

Heißt das, dass Produkte dadurch teurer wer-
den?
Das kommt darauf an, welche. Was das Beispiel
der Handdesinfektionsmittel angeht: Ich habe sie
dann bei Amazon bestellt, zu einem deutlich hö-
heren Preis. Dagegen werden Airlinetickets je-
doch sehr günstig werden. Es ist also nicht ganz
so eindeutig, weil die Nachfrage nach einigen
Produkten und Dienstleistungen auch eingebro-
chen ist.

Wie besorgt sind Sie nach den Kursschwankun-
gen der vergangenen Tage über die Finanzmärk-
te?
Nach einem Schock muss man sich fragen, wo
die strukturellen Schwachstellen sind. Und im
Markt für Unternehmensanleihen haben sich in
bestimmten Teilen eindeutig Schwachstellen ge-
bildet, die man im Auge behalten muss. Unter-
nehmen haben im großen Stil Anleihen begeben,
was die Bonität immer weiter nach unten gezo-

gen hat. Deshalb gibt es eine so große Menge an
Anleihen, die mit BBB- bewertet sind.

... Jene Bonitätsnote, die gerade noch im soge-
nannten investierbaren Bereich liegt ...
Und wenn sich das Virus weiter auf die Wirt-
schaft auswirkt, werden die Gewinne der Unter-
nehmen sinken. Dann gerät die Qualität der Kre-
dite unter Druck, es kommt zu Abstufungen in
der Bonität.

Die Anleihen würden sich dann im Hochzinsbe-
reich befinden und hätten eine höhere Ausfall-
wahrscheinlichkeit.
Das muss der Markt jedoch erst einmal absorbie-
ren. Er ist deutlich kleiner als der für investierba-
re Anleihen. Und sollte der einfrieren, dann wür-
den auch Neuemissionen Probleme bekommen.
Das heißt: Airlines, Hotels und Energieunterneh-
men zum Beispiel werden es schwer haben, neue
Kredite zu bekommen.

Gleichzeitig haben Banken auch strengere Vor-
gaben als früher, wenn es um ihr eigenes Risiko-
management geht.
Deshalb werden wir mehr Regierungen sehen,
die eingreifen, um die Wirtschaft zu entlasten. In
China begeben Banken und Unternehmen Nied-
rigzinsanleihen, die von staatlichen Banken ge-
kauft werden. Italien hat Steuergutschriften ein-
geführt. Der Druck auf die Europäische Zentral-
bank, Unternehmensanleihen zu kaufen, ist
enorm hoch.

Wäre das eine gute Idee?
Die EZB hat sehr wenig Spielraum nach all den
Maßnahmen, die sie bereits unternommen hat,
und sollte daher nicht eingreifen, nur um zu zei-
gen, dass sie etwas tut. Sie sollte sich darauf
konzentrieren, dass das Finanzsystem funktio-
niert – und das auch genauso kommunizieren.
Wenn die Notenbank immer mehr zu einem fis-
kalpolitischen Akteur wird, riskiert sie ihre
Glaubwürdigkeit und ihre politische Unabhän-
gigkeit.

Die amerikanische Notenbank Fed hat am
Dienstag außerplanmäßig mit einer deutlichen
Zinssenkung reagiert. Werden weitere folgen?
Vermutlich ja. Was nicht heißt, dass sie das auch
tatsächlich tun sollte. Die Fed ist in einer schwie-
rigen Lage. Sie hat mit der Zinssenkung schon
wieder die Märkte verunsichert.

Dabei sollte der Schritt doch eindeutig den
Märkten und der Wirtschaft helfen.
Eine außerplanmäßige Zinssenkung und dann
noch um 0,5 Prozentpunkte signalisiert eine
Notsituation. Doch auf der Pressekonferenz ver-
suchte Fed-Chef Jay Powell, den Schritt nur als
eine Art Vorsorge darzustellen. Das wurde von
den Märkten als Fehlkommunikation eingestuft.
Nun fragen sich viele Marktteilnehmer, ob die
Fed etwas weiß, was sie nicht wissen. Wenn es
nicht die Wirtschaft ist, dann vielleicht etwas
über das Finanzsystem? Solche Dinge haben
Konsequenzen.

Wie lassen sich die Märkte beruhigen?
Ich würde mir um die Märkte nicht zu große Sor-
gen machen. Dort geht es nur um die kurzfristi-
gen Forderungen. Daher sind sie nie zufriedenzu-
stellen. Sie wollen stets mehr. Die Investoren ha-
ben sofort nach der Zinssenkung am Dienstag
weitere Zinssenkungen eingepreist. Es ist er-
staunlich, wie wenig die Fed von der Marktpsy-
chologie versteht.

Was sollen Privatanleger in diesen turbulenten
Zeiten beachten?
Im vergangenen Jahr hatten wir eine Reihe von
Schocks, die darauf schließen ließen, dass unse-
re Welt unsicherer wird. Es gab den Handels-
krieg, ein geringeres globales Wachstum, einen
unerwarteten Angriff, der die Ölproduktion in
Saudi-Arabien, um die Hälfte reduziert hat. Den-
noch haben Investoren traumhafte Zustände er-
lebt. Der breit gefasste Aktienindex S&P 500 hat
rund 30 Prozent zugelegt. Auch sichere Papiere
wie Anleihen stiegen im Preis, dabei gab es
praktisch keine Volatilität. Das alles hat die heu-
tige Lage noch volatiler gemacht. Man muss also
verstehen, was für eine Art Anleger man ist:
Wer ein sehr guter Day-Trader ist, der hat nun
viele gute Chancen, Gleiches gilt für Leute, die
sich mit Arbitrage auskennen. Alle anderen soll-
ten sich sicher sein, dass sie mit ungewöhnlich
hohen Kursschwankungen leben können.

Sie waren in der Finanzkrise 2008 Chef des
größten Anleiheinvestors Pimco und haben die
Entwicklungen sehr eng verfolgt. Wie besorgt
sind Sie persönlich über die derzeitige Lage an
den Märkten?
An dem Mittwoch im September, nachdem Leh-
man Brothers Insolvenz angemeldet hat, rief ich
meine Frau von der Arbeit aus an und bat sie,
zum Geldautomaten zu gehen und 400 Dollar
abzuheben, das war das Tageslimit. Als sie mich
fragte, warum, habe ich ihr geantwortet: Ich
weiß nicht, ob die Banken morgen aufmachen.
Das klang damals vielleicht verrückt, aber wie
wir aus den Memoiren des damaligen Finanz-
chefs Tim Geithner und des damaligen Noten-
bankchefs Ben Bernanke wissen, haben sie ernst-
haft überlegt, die Banken zuzumachen, um einen
Ansturm auf die Banken zu vermeiden. Damals
ging es jedoch um die Zahlungs- und Abwick-
lungssysteme der Finanzinstitute. Es war also ei-
ne ganz andere Situation.

Haben Sie Ihre Frau letzte Woche angerufen
und zum Geldautomaten geschickt?
Nein! Ich reise auch weiter, ändere mein Verhal-
ten also nicht. Und: Das Bankensystem ist heute
deutlich besser aufgestellt.

Herr El-Erian, vielen Dank für das Gespräch.

Die Fragen stellte Astrid Dörner.

Der Pimco-Chef Bis
2014 war der US-Öko-
nom Vorstandschef des
Anleihehauses Pimco.
An der Seite von Starin-
vestor Bill Gross arbei-
tete er zudem als
Co-Investmentchef für
die Allianz-Tochter, die
zu Spitzenzeiten mehr
als zwei Billionen Dollar
an Vermögenswerten
verwaltete.

Der Berater Nachdem
es zum Streit zwischen
El-Erian und Gross
gekommen war, verließ
er Pimco und arbeitet
seitdem als ökonomi-
scher Chefberater der
Allianz. Geht es um
Märkte und Geldpolitik,
zählt der 61-Jährige zu
den weltweit gefragtes-
ten Experten.

Vita
Mohamed El-Erian

Mohamed El-Erian:
Der US-Ökonom ist vor
allem in Krisen zeiten
gefragt. Anleger wollen
ver stehen, wie die
Märkte reagieren
werden.

Bloomberg
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