Handelsblatt - 06.03.2020 - 08.03.2020

(Greg DeLong) #1

Z


u Beginn meiner Karriere im Finanz-
wesen habe ich mit einem Team da-
ran gearbeitet, neue Infrastruktur für
die zerstörten Gebiete des Kosovos
aufzubauen. Wie für die meisten Ban-
ker war es uns am wichtigsten, dass dabei die Fi-
nanzen stimmten. Wir haben uns nicht beson-
ders um „Frauenfragen“ gekümmert.
Wir waren zufrieden mit unseren Plänen. Nur
die einzige Gender-Expertin in unserem Team
war es nicht. „Die Straßenlaternen“, sagte sie
immer wieder, „sind zu weit auseinander.“ Wir
haben sie nicht ernst genommen, aber sie blieb
hartnäckig. Um Städte und Dörfer erfolgreich
wiederaufzubauen, muss man über die Men-
schen nachdenken, die in ihnen leben werden,
sagte sie. Die Hälfte dieser Menschen seien Frau-
en. Für sie sei es nach den Schrecken des Krie-
ges am wichtigsten, sich sicher zu fühlen. Die
düsteren Flecken zwischen den Straßenlaternen
waren für die kosovarischen Frauen Orte für
Straßendiebe und Vergewaltiger – ein Grund,
sich abends auf dem Heimweg von der Arbeit
unsicher zu fühlen.
Meine Kollegin hatte recht. Dieser Vorfall hat
bei mir einen bleibenden Eindruck hinterlassen.
Allmählich habe ich die täglichen Beispiele von
Ungleichheit zwischen den Geschlechtern be-
merkt, die mir vorher nicht aufgefallen waren.
Beim Rückblick wird mir klar, dass es früher und
besonders am Anfang meiner Karriere stets ich
war, die allen Kollegen Kaffee eingeschenkt hat.
Niemand hat mich dazu gezwungen. Ich habe
das freiwillig gemacht, ohne es zu bemerken.
Wie Millionen von Männern und Frauen welt-
weit habe ich in den letzten Jahren viel darüber
nachgedacht, wie diese geschlechterspezifischen


Erwartungen geschaffen und verstärkt werden.
Heute haben Gender-Experten im Personal -
bereich etwas zu sagen. Und wir wissen, dass
auch Männer Kaffee einschenken können. Allzu
oft bemerken wir die „Straßenlaternen“ noch
immer nicht – aber wir nehmen sie ernst, wenn
man uns darauf aufmerksam macht.
Am Internationalen Frauentag denke ich darü-
ber nach, wie weit wir als Gesellschaft gekom-
men sind – und wie weit wir noch gehen müssen.
Vor allem im Bereich der Wirtschaft müssen wir
noch viel weiter vorankommen. Nur eines der
30 größten Unternehmen in Deutschland hat ei-
ne Frau als CEO. Kein einziges Unternehmen hat
ein Drittel Frauen im Vorstand. Mehr als 30 Pro-
zent haben überhaupt keine Frauen im Vor-
stand.
Das ist kein rein deutsches Problem. Weniger
als fünf Prozent der 600 wertvollsten börsenno-
tierten Unternehmen in Europa haben weibliche
CEOs. Im Durchschnitt sind nur 16 Prozent der
Führungskräfte dieser Unternehmen Frauen.
2018 berichtete die „New York Times“, dass es
weniger Frauen gibt, die in den USA ein For-
tune-500-Unternehmen leiten, als Männer mit
dem Vornamen James.
Warum ist das so? Ein wichtiger Teil sind si-
cherlich die Überbleibsel jahrzehntealter Unter-
nehmenskulturen. Und natürlich spielen die Fol-
gen politischer Entscheidungen eine Rolle. Vor
einiger Zeit habe ich mit Ursula von der Leyen
und Melinda Gates darüber gesprochen. In ihrer
Zeit als Familienministerin hat von der Leyen
richtungsweisende Reformen angestoßen: So hat
das Elterngeld das Leben von Millionen Men-
schen in Deutschland verändert. Aber es bleibt
noch viel zu tun. Kinderbetreuung in Kitas,

Schulen und Unternehmen ist nicht flächen -
deckend verfügbar. Die Betreuungssysteme sind
oft nicht zuverlässig genug, dass Frauen Ent-
scheidungen treffen könnten, die sowohl für ihre
Familie als auch für ihre Karriere gut sind.
Von der Leyen und Gates sind weibliche Füh-
rungspersönlichkeiten und „Role Models“ für
viele. Es ist schön, dass es immer mehr neue Bei-
spiele in der ganzen Welt gibt, die Frauen Mut
machen, wie die finnische Ministerpräsidentin
Sanna Marin oder die Präsidentin von Äthiopien,
Sahle-Work Zewde. Aber die Gleichstellung der
Geschlechter erreichen wir nicht einfach so. Sie
erfordert Aktivismus von uns allen – von Frauen
und von Männern. Und echtes Engagement von
Führungskräften aus Wirtschaft und Politik, die –
gewollt oder ungewollt – einen Großteil ihres Le-
bens damit verbracht haben, alte Machtstruktu-
ren aufrechtzuerhalten.
In diesem Sommer kommen einige von ihnen
auf dem „Generation Equality Forum“ in Paris
mit der Frauenbewegung zusammen, um den


  1. Jahrestag der berühmten UN-Weltfrauen -
    konferenz in Peking zu begehen. Es ist selten,
    dass Entscheider so unterschiedlicher Bereiche
    an einen Ort kommen, um sich auszutauschen
    und zusammenzuarbeiten. Wenn Zivilgesell-
    schaft, Politik und Wirtschaft ihre Arbeit gut ma-
    chen, können wir im Juli ein gemeinsames Ar-
    beitsprogramm zur Überwindung dieser Un-
    gleichheit entwerfen. Diejenigen in den
    Chefetagen, die noch nicht an „Straßenlaternen“
    denken, sind angezählt. Für sie gibt es heut -
    zutage keine Ausreden mehr.


Keine Ausreden


mehr!


Mehr Engagement für Gleichstellung und


Frauenrechte fordert Anja Langenbucher.


Die Gleich-


stellung der


Geschlechter


erreichen


wir nicht


einfach so.


Sie erfordert


Aktivismus


von uns allen –


von Frauen


und von


Männern.


Die Autorin ist Europa-Direktorin der
Bill-&-Melinda-Gates-Stiftung.

BrauerPhotos / J.Reetz [M]

Gastkommentar
WOCHENENDE 6./7./8. MÄRZ 2020, NR. 47
64









 


 "  '# & "!" $
 '     !   "
"  " 
"    #   
 # !"  " # !
# 
"  %  !  !#"   # "  &  !! #
  "' "
"  %  

!     

   ! 

         !

  
 !

Anzeige


‹+DQGHOVEODWW0HGLD*URXS*PE+    &R.*$OOH5HFKWHYRUEHKDOWHQ=XP(UZHUEZHLWHUJHKHQGHU5HFKWHZHQGHQ6LHVLFKELWWHDQQXW]XQJVUHFKWH#KDQGHOVEODWWJURXSFRP
Free download pdf