Süddeutsche Zeitung - 03.03.2020

(Tina Sui) #1
Erfurt – Die Thüringer AfD schickt ihren
Landeschef Björn Höcke in die Ministerprä-
sidentenwahl am 4. März in Erfurt. Das teil-
te die AfD-Landtagsfraktion am Montag
mit. Höcke, Wortführer des rechtsnationa-
len „Flügels“ der AfD, tritt damit gegen
den Linken-Politiker Bodo Ramelow an,
dessen rot-rot-grünes Wunschbündnis im
Thüringer Landtag keine Mehrheit hat. Ra-
melow fehlen vier Stimmen für eine absolu-
te Mehrheit.dpa  Seiten 4 und 6

Tel Aviv –Bei der dritten Parlamentswahl
in Israel innerhalb eines Jahres ist die
rechtsnationale Likud-Partei von Benja-
min Netanjahu nach den Prognosen stärks-
te Kraft geworden. Den Nachwahlbefragun-
gen zufolge kam Likud am Montag auf 36
bis 37 Sitze. Das Mitte-Bündnis Blau-Weiß
von Herausforderer Benny Gantz erhielt
demnach 32 oder 33 Mandate. Netanjahus
rechts-religiöses Lager kann nach den Pro-
gnosen mit 60 Sitzen rechnen, das Mitte-
Links-Lager erhält etwa 52 bis 54 Manda-
te. Für eine Regierungsmehrheit sind min-
destens 61 von 120 Mandaten im Parla-
ment notwendig. Nach den Wahlen im
April und September vorigen Jahres hatte
es keines der Lager geschafft, eine Regie-
rung zu bilden. Ministerpräsident Netanja-
hu steht trotz des Erfolgs eine schwierige
Zeit bevor, denn am 17. März wird über drei
Korruptionsklagen gegen ihn verhandelt.
Die Staatsanwaltschaft in Israel wirft ihm
Bestechlichkeit, Untreue und Betrug vor.
Gantz hatte sich zwar zu einer großen Koa-
lition mit Likud bereit erklärt, aber nur oh-
ne Netanjahu. sz  Seiten 4 und 7

Frankfurt– Angesichts der globalen Aus-
breitung des neuartigen Coronavirus be-
fürchtet die Organisation für Wirtschaftli-
che Zusammenarbeit und Entwicklung
(OECD) gravierende Folgen für die Welt-
wirtschaft. Sofern sich die Situation nicht
bessere und sich das Virus in immer mehr
Ländern ausbreite, könnte das weltweite
Wachstum in diesem Jahr bis auf 1,5 Pro-
zent sinken. Das wäre nur noch halb so viel
wie noch 2019. Sollte sich die Lage bald sta-
bilisieren, rechnen die OECD-Experten
mit einem globalen Wachstum von 2,4 Pro-
zent, nach 2,9 Prozent im Vorjahr. In Chi-
na, in der Eurozone oder auch in Japan
könnte die Wirtschaft je nach Verlauf sogar
zwischenzeitlich schrumpfen.
Ökonomen rechnen in solchen Fällen
mit Szenarien, genaue Konjunkturprogno-

sen sind nicht möglich. Ein Schaden für die
wirtschaftliche Entwicklung ist allerdings
kaum noch abzuwenden. „Das Virus droht
der Weltwirtschaft, die bereits durch Han-
delsstreitigkeiten und politische Spannun-
gen geschwächt ist, einen zusätzlichen
Schlag zu versetzen“, sagte OECD-Chef-
volkswirtin Laurence Boone bei der Vorstel-
lung ihres neuen Wirtschaftsausblicks.
Besonders für die exportabhängige
deutsche Wirtschaft ist das Virus zum Risi-
ko geworden. Erstens spüren Industrieun-
ternehmen bereits eine schwächere Nach-
frage aus China, wo die wirtschaftliche Ak-
tivität seit Wochen weitgehend zum Erlie-
gen gekommen ist. Zweitens treffen unter-
brochene Lieferketten die deutschen Un-
ternehmen, wenn in diesen Tagen Schiffs-
lieferungen mit Bauteilen aus China aus-

bleiben. Klaus Michelsen, Leiter der Abtei-
lung Konjunkturpolitik beim Wirtschafts-
forschungsinstitut DIW, hält den China-Ef-
fekt für entscheidend. „Das Wachstum in
Deutschland könnte dadurch um 0,2 Pro-

zentpunkte sinken“, sagte er. Bei dieser
Prognose gebe es aber ein „erhebliches Ab-
wärtsrisiko“. Übrig bliebe dann noch ein
Wachstum von 0,9 Prozent – oder deutlich
weniger.
Die OECD sieht die Regierungen ihrer
Mitgliedstaaten in der Pflicht. Das gelte
vor allem für die öffentliche Gesundheits-
vorsorge, wobei auch konjunkturelle Hil-
fen für andere Wirtschaftszweige denkbar
seien. Insbesondere Kurzarbeit sei geeig-
net, um die Folgen abzumildern. Bundesfi-
nanzminister Olaf Scholz betonte, über die
Mittel für ein Konjunkturpaket zu verfü-
gen. Die Finanzminister der G-7-Staaten
wollen in dieser Woche über eine konzer-
tierte Aktion beraten. Mehrere Notenban-
ken signalisierten ihre Bereitschaft, geld-
politisch gegenzusteuern. bbr, jawi

Meinung


Das Beispiel Sterbehilfe zeigt:


Die Kirchen geraten in die


Rolle einer Minderheit 4


Politik


Warum Schützenvereine


sich gegen eine Reform


des Waffenrechts sperren 6


Panorama


Connie Simpson


ist die Kinderfrau


vieler Hollywood-Stars 8


Feuilleton


Schauspielerin Elisabeth Moss


spricht über weibliche Wut


und das Patriarchat 9


Wissen


Die meisten Eltern unterstützen


ihre Kinder intuitiv richtig


beim Sprechenlernen 14


Medien, TV-/Radioprogramm 27,
Forum & Leserbriefe 13
Kino · Theater im Lokalteil
Rätsel 27
Traueranzeigen 18


Berlin– Unternehmen in Bundesbesitz sol-
len bis 2025 alle Führungspositionen paritä-
tisch besetzen. Das sieht der Gesetzentwurf
von Frauenministerin Franziska Giffey und
Justizministerin Christine Lambrecht (bei-
de SPD) für mehr Frauen in Führung vor,
der sich in der Ressortabstimmung befin-
det. Geplant sind zudem Mindestvorgaben
für die Zahl von Frauen in Vorständen und
eine Ausweitung der Frauenquote für Auf-
sichtsräte.rike  Seite 4, Wirtschaft

Washington– Kurz vor den Vorwahlen am
„Super Tuesday“ haben zwei Kandidaten
ihre Bewerbungen um die Präsident-
schaftskandidatur der US-Demokraten zu-
rückgezogen: Pete Buttigieg und Amy Klo-
buchar. Buttigieg hatte die erste Vorwahl
in Iowa gewonnen, zuletzt in South Caroli-
na aber nur 8,3 Prozent der Stimmen ge-
holt. US-Senatorin Klobuchar kündigte an,
nach ihrem Rückzug den Wahlkampf von
Joe Biden zu unterstützen. dpa  Seite 7

Profil:EU-Kommissarin Stella Kyriakides
muss die Coronakrise meistern  Seite 4
China:Das rigorose Vorgehen Pekings zei-
tigt offenbar Erfolge  Seite 5
Gegen den Abschwung:Wie sich deut-
sche Firmen vorbereiten  Wirtschaft
München:BMW und ProSiebenSat.1 schi-
cken Mitarbeiter nach Hause  Lokales

TV-Programm
vom 3. bis 9. März 2020

Ein einziger Mond, das war schon immer
recht armselig. Der Mars hat zwei, Nep-
tun 14, Jupiter und Saturn je rund 80. Im
Grunde wurde es höchste Zeit, dass die
Erde da nachlegt. Und offenbar hat sie es
getan: Am frühen Morgen des 15. Februar
haben die Nasa-Astronomen Kacper
Wierzchos und Teddy Pruyne am Mount
Lemmon Observatorium in Arizona ein
winziges Objekt beobachtet, das sich auf
einer Erdumlaufbahn befindet.
Es ist ein erstaunlicher Begleiter, den
sich die Erde da geangelt hat. So groß wie
ein Auto, hieß es, oder wie ein Sofa. Oder
ein großer Schrank? 1,9 bis 3,5 Meter ge-
schätzter mittlerer Durchmesser lässt
Raum für Interpretationen, aber es deu-
tet etwa auf VW-Golf-Größe hin. Jeden-
falls so klein, dass es mit bloßem Auge
nicht zu erkennen ist. Möglich wurde der
Zufallsfund nur, weil Programme wie die
Catalina Sky Survey, für die Wierzchos
und Pruyne arbeiten, mit immer besse-

ren Teleskopen den Himmel nach womög-
lich gefährlichen Asteroiden absuchen.
Das neue Objekt namens 2020 CD
stellt allerdings keine ernsthafte Bedro-
hung dar, selbst wenn es dereinst auf Kol-
lisionskurs einschwenken sollte, dafür ist
es einfach zu klein. „Viel relevanter sind
Objekte, die mit mehr als zehn Kilome-
tern pro Sekunde auf uns zukommen,
und größer als 50 Meter Durchmesser
sind“, sagt Andreas Nathues vom Max-
Planck-Institut für Sonnensystemfor-
schung in Göttingen. „Solche Körper kön-
nen großen Schaden anrichten, wenn sie
auf die Erde treffen.“ 2020 CD3 hingegen
dürfte sehr langsam auf die Erde zugedrif-
tet sein, sonst hätte er kaum von ihrer Gra-
vitation eingefangen werden können –

schnellere Asteroiden werden höchstens
abgelenkt. Dass auch mal einer in einer
Erdumlaufbahn landet, ist aber für Nathu-
es nicht besonders überraschend: Das
werde immer wieder mal passieren, sagt
er, schließlich wimmelt es in der Umge-
bung der Erde von solchen Asteroidenbro-
cken. Meist sind es Bruchstücke größerer
Körper aus dem Asteroidengürtel
zwischen Mars und Jupiter.
Es ist aber erst die zweite derartige Ent-
deckung, nach 2006 RH120 vor 14 Jahren,
der die Erdumlaufbahn längst wieder ver-
lassen hat. Aus der Bahn des neuen Ob-
jekts schließen die Entdecker, dass es die
Erde bereits seit mindestens einem, eher
aber schon seit drei Jahren begleitet, nur
wegen seiner Winzigkeit blieb der Mini-

Mond bislang verborgen. Allerdings ist er
wesentlich ungestümer als der große
Mond. Simulationen zeigen, dass 2020
CD3 nicht annähernd auf einer Kreisbahn
unterwegs ist, sondern in wilden, unregel-
mäßigen Schlenkern um die Erde eilt, mal
etwa in Mond-Entfernung, mal um ein
Vielfaches weiter entfernt. Statt vier Wo-
chen wie das größere Exemplar braucht
er für eine Runde um die Erde etwa vier
Monate.
Der Besuch von 2020 CD3 neigt sich je-
doch schon dem Ende zu. Schuld ist der
große Mond, dessen Einfluss kaum eine
stabile Bahn für einen zweiten Erdtraban-
ten zulässt. In wenigen Monaten werde
2020 CD3 wohl die Erde verlassen,
schrieb Kacper Wierzchos auf Twitter.
Dann dürfte der Weltraumgolf wieder auf
eine Bahn um die Sonne einschwenken.
Ein Wiedersehen wird es wohl in etwa 25
Jahren geben, wenn der Mini-Mond zur
Erde zurückkehrt. marlene weiss

von stefan braun
und matthias kolb

Berlin/Brüssel–Bundeskanzlerin Angela
Merkel hat die jüngste Eskalation des türki-
schen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan
im Umgang mit Flüchtlingen scharf kriti-
siert. Merkel sagte am Montag in Berlin, es
sei „völlig inakzeptabel“, wenn die Türkei
ihre Probleme mit der Krise in Syrien auf
dem Rücken von Flüchtlingen austrage.
Die Kanzlerin warf Erdoğan vor, die Flücht-
linge, die derzeit an der griechisch-türki-
schen Grenze ausharrten, in „eine Sackgas-
se“ geführt zu haben.
Erdoğan hatte am Wochenende erklärt,
die Grenzen in die Europäische Union
seien offen. Dieser Darstellung widerspra-
chen Merkel und ihr Regierungssprecher.
Dieser hatte schon vor dem Auftritt Mer-

kels beim Integrationsgipfel erklärt, man
erlebe derzeit an der Außengrenze der EU
zur Türkei eine sehr beunruhigende Situa-
tion. „Wir erleben Flüchtlinge und Migran-
ten, denen von türkischer Seite gesagt
wird, der Weg in die EU sei nun offen – und
das ist er natürlich nicht.“
Damit trat die Kanzlerin am Montag al-
len Spekulationen entgegen, es könne sich
jetzt ganz schnell das Krisenszenario aus
dem Jahr 2015 wiederholen. Zugleich zeig-
te Merkel Verständnis für die schwierige
Lage der Türkei. Diese habe „schon sehr
viel geleistet“ bei der Aufnahme von
Flüchtlingen, gleichzeitig habe die sehr
schwierige Lage rund um die syrische
Stadt Idlib die Gefahr neuer Probleme mas-
siv verschärft. Aus diesem Grund habe sie
am Wochenende zusammen mit dem fran-
zösischen Präsidenten Emmanuel Macron

ausführlich mit Erdoğan über die Frage ge-
sprochen, wie der Türkei, aber auch den
Menschen in Nordsyrien besser geholfen
werden könne. Dort brauche man „im
Grunde eine geschützte Zone“, in der die
Menschen sicher seien und versorgt wer-
den könnten. Um dieses Ziel zu erreichen,
habe sie in den vergangenen Tagen gemein-
sam mit Macron immer wieder auch mit
dem russischen Präsidenten Wladimir Pu-
tin gesprochen. Merkel betonte, Berlin sei
grundsätzlich zu mehr Unterstützung der
Türkei bereit, man sehe an den jüngsten
Ereignissen, wie wichtig das Abkommen
zwischen der EU und der Türkei sei.
In Brüssel bekräftigte EU-Kommissions-
präsidentin Ursula von der Leyen ihre Soli-
darität mit den betroffenen EU-Staaten.
„Unsere Priorität ist, Bulgarien und Grie-
chenland alle nötige Unterstützung zu ge-

ben, um die Situation vor Ort zu bewälti-
gen“, sagte sie. Von der Leyen wird an die-
sem Dienstag mit EU-Ratspräsident
Charles Michel und dem Präsidenten des
Europaparlaments, David Sassoli, nach
Griechenland reisen, um sich mit Premier-
minister Kyriakos Mitsotakis zu beraten
und gemeinsam an die Grenze zur Türkei
zu reisen. Bulgariens Regierungschef Boi-
ko Borissow wollte sich noch am Abend in
Ankara mit dem türkischen Präsidenten
Recep Tayyip Erdoğan treffen.
An dessen Adresse gerichtet sagte von
der Leyen wie zuvor Merkel, ihr sei be-
wusst, dass sich die Türkei angesichts von
Millionen Syrern im eigenen Land in einer
heiklen Situation befinde. Die EU bleibe
deshalb offen für Gespräche, betonte sie,
„aber was wir jetzt sehen, kann keine Ant-
wort oder Lösung sein“.  Seiten 2 und 4

Die SZ gibt es als App
für Tablet und Smart-
phone: sz.de/zeitungsapp

Buttigieg und Klobuchar


ziehen Bewerbung zurück


Im Süden dicht bewölkt und zunächst reg-
nerisch.Oberhalb von 500 bis 700 Metern
schneit es. Sonst vereinzelt Schauer und
örtlich sonnig. Im Tagesverlauf ziehen je-
doch neue Schauer auf. Vier bis neun Grad
werden erreicht.  Seite 13 und Bayern

Außerdem in


dieserAusgabe


FOTO: AFP

Höcke kandidiert


in Thüringen


Besuch vom Mini-Mond


DieErde hat einen zweiten Trabanten – aber nicht mehr lange


Netanjahu siegt


bei Wahl in Israel


Likud-Partei des Premiers liegt
nach Prognosen vor Blau-Weiß

Merkel: Erdoğan handelt inakzeptabel


Die Bundeskanzlerin kritisiert, dass Ankara Flüchtlinge an die griechische Grenze schickt. Zugleich


sagt sie dem türkischen Präsidenten weitere Hilfen zu und fordert eine Schutzzone in Nordsyrien


Xetra Schluss
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Wem gehört die Straße? Von Radlern und Autofahrern Die Seite Drei


Coronavirus trifft die Weltwirtschaft hart


Das globale Wachstum könnte sich laut OECD halbieren. Finanzminister diskutieren gemeinsame Konjunkturhilfen


Frauenquote


für Bundesunternehmen


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HEUTE


(SZ) Wien hatte viele schlimme Jahre, aber
seltenein so schlimmes wie 1679. Die Pest
war ausgebrochen, und der Tod hielt, wie
es so treffend heißt, reiche Ernte. Kaiser
Leopold I. verdrückte sich mit seiner Fami-
lie und dem Hofstaat nach Linz. Die Verblie-
benen aber mussten sich vom Hofprediger
Abraham a Santa Clara sagen lassen, dass
die Rute der „Pestilentz“, mit der Gott sie
züchtige, von einem wohlbekannten Baum
genommen sei, nämlich vom Baum ihrer
Sünden. In all der Wirrnis stolperte ein
Mann von Beisel zu Beisel, von Rausch zu
Rausch: der Bänkelsänger, Dudelsackpfei-
fer und Stegreifdichter Augustin, ein frü-
her Singer-Songwriter, wenn man so will.
Als Schnapsleiche landete er einmal unter
den Pestleichen, kam jedoch, als er seinen
Fetzn ausgeschlafen hatte, wieder aus der
Grube. Daraus entstand das Lied „O du
lieber Augustin“, das von der dpa, hätte es
sie damals schon gegeben, vielleicht zum
„Ding des Jahres“ erklärt worden wäre.
Es gibt das Unwort des Jahres, den Patis-
sier des Jahres, den Baum des Jahres und
noch eine Menge weiterer Sujets des Jah-
res. Als Dinge des Jahres sind bisher Erfin-
dungen hervorgetreten, die von der gleich-
namigen Show auf Pro Sieben zu solchen
gekürt wurden; um den Titel bewarben
sich Sachen wie die Zitruspresse „Joozy“,
die mit Saugnapf an den Wandfliesen be-
festigt werden kann, das für Babyflaschen
entwickelte Nachtlicht „Bumpli“ oder der
Überkochschutz „Kochblume“. Jetzt spielt
die dpa mit der Vermutung, dass die Ge-
sichtsmaske, die vor einer Infektion durch
das Coronavirus schützen soll, zum Ding
des Jahres 2020 werden könnte. Bei dem
stilprägenden Narzissmus, ja Exhibitionis-
mus unserer Zeit heißt das auch, dass die
Maske jederzeit zum Accessoire des Jahres
aufsteigen kann. Da genügt ein einziger In-
fluencer, der mit Maske frühstückt und
das „viral“ gehen lässt – und schon haben
wir ein nagelneuesMust-do.
Sollte sich aus dem notwendigen Mas-
kentragen ein Trend ergeben, hätte er ein
weit entferntes historisches Vorbild. Der
venezianische Karneval besticht mit aller-
lei Masken, darunter der des Medico della
Peste, der charakteristischen Maskenform
wegen auch Schnabeldoktor genannt. Der
Schnabel, den wir heute für teils lustig und
teils gruselig halten, hatte seinerzeit eine
wichtige Funktion. Man dachte, die Pest
werde durch eine aus Osten kommende
verdorbene Luft ausgelöst, den sprichwört-
lichen Pesthauch; um diesen auszutrick-
sen, stopfte man in die lange Nase der Mas-
ke kampferprobte Heilkräuter oder einen
mit Duftessenzen getränkten Schwamm,
der die Atemluft reinigte. Vielleicht hätte
es auch Abraham a Santa Clara ganz gut
getan, über so eine Maske frische Luft und
damit moralische Entspannung zu tanken.
Das hatte er aber gar nicht nötig, da er sich
vor der Pest ins Haus eines befreundeten
Grafen zurückzog. Von hier aus war gut
über Gottes Zuchtruten reden.


DAS WETTER



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NACHTS

In der Sackgasse: Flüchtlinge kehren zurück, nachdem ihnen die Einreise von türkischem Gebiet nach Griechenland verweigert wurde. FOTO: TOLGA BOZOGLU / SHUTTERSTOCK

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