Süddeutsche Zeitung - 03.03.2020

(Tina Sui) #1
von reinhard j. brembeck

I


n Ludwig van Beethovens „Fidelio“
wird eigentlich nicht geschossen. Am
Königlichen Opernhaus in London fällt
zwanzig Minuten vor Schluss dennoch ein
Schuss, worauf der Schuft Pizarro am Arm
getroffen und durchs weiße Hemd theatra-
lisch blutend hinstürzt. Verblüffung im
trotz Coronavirus vollbesetzten Saal. Voll-
besetzt, weil schließlich der vergötterte Jo-
nas (Kaufmann) singt, der sich zwar wegen
Indisposition entschuldigen lässt, aber
dennoch nicht viel anders klingt als sonst.
Aber bitte: Wer hat da geschossen?
Ginge es nach dem Libretto, das der Re-
gisseur Tobias Kratzer sehr oft sehr genau
nacherzählt, dann müsste es die als Fidelio
vermännlichte Titelheldin Leonore sein,
die den Schurken per Pistole am Mord an
ihrem in geheimer Einzelhaft gehalten Ehe-
mann hindern will. Doch diese Pistole ha-
ben des Schuftes Helfershelfer schon zu-
vor bei der Leibesvisitation gefunden, be-
vor der falsche Fidelio als Gefängniswärter
überhaupt in den Hochsicherheitstrakt
durfte. Wer also schießt da in London?
Tobias Kratzer verlegt den „Fidelio“ von
Sevilla nach Frankreich in die erste wirre
Zeit nach der Revolution von 1789 und
macht einen Akt lang hemmungslos auf
historisches Kostümstück. Düster ist der
von Rainer Sellmaier gebaute Gefängnis-
hof mit der riesigen Tricolore überm Ein-
gangstor. Zottelig-dubios sind die hier täti-
gen Revolutionäre, die sich in nichts von
den Gefangenen unterscheiden. Gleich zu
Beginn kommt ein Korb mit den Häuptern
der frisch Guillotinierten auf die Bühne, de-

ren Frauen kreischen, während die Wa-
chen feixen. Der Terror wirkt wie Pappma-
ché-Schrecken peinlich aufgepappt, und
die Gemütlichkeit der Genreszenen im
Wächtermilieu wird durch das mangelnde
Engagement von Hausdirigent Antonio
Pappano nur noch unterstrichen.

Wie die große Mehrheit seiner Kollegen
kann Pappano mit dem ersten Teil des „Fi-
delio“ rein gar nichts anfangen. Die schlich-
te und hoffnungslose Biedermeierliebe
der Marzelline zu Fidelio ist ihm genauso
fremd wie die ungelenke Eifersucht des
Schließergehilfen Jacqino und die pragma-
tisch geldgierige Kriecherei des Gefängnis-
direktors. Pappano, dieser sonst so wun-
derbare Dirigent, winkt diese wenig inspi-
rierten Petitessen agil durch wie lästiges
Kleinvieh.
Erst mit dem Auftritt Pizarros und des-
sen wutschnaubender Rachearie kommt
Furore in Pappanos Dirigieren. Genauso
dann in der großen Kampf- und Verzweif-
lungsarie der Leonore. Lise Davidsen ist
der von allen beklatschte Publikumslieb-
ling dieser Sonntagnachmittagspremiere.
Sicher und schnörkellos setzt diese groß ge-
wachsene Frau ihre Töne, Beethovens
manchmal aberwitzig unvokale Linien be-
eindrucken sie nie, sie ist jedem Forte-
sturm des Orchesters gewachsen. Schmelz
aber ist nicht wirklich ihre Sache. Langsam
dämmert dabei Marzelline, dass mit die-

sem Fidelio etwas grundsätzlich nicht
stimmt, dass er voll der Lüge ist, dass es nie
ein Liebespaar Marzelline-Fidelio geben
wird. Amanda Forsythe zeichnet die
menschlichste Gestalt dieser Aufführung,
sie gibt Marzellines Größe zart und unwi-
derstehlich, auch gegen Pappanos Desin-
teresse. Und schon ist der Gefangenenchor
auf der Bühne, lamentiert und warnt vor
Staatsspionen. Pause. Große Enttäu-
schung. Wer aber hat geschossen?
Wer letztes Jahr Tobias Kratzers grandi-
ose Inszenierung von Wagners „Tannhäu-
ser“ in Bayreuth erlebt hat, wie da der Titel-
held unbekümmert und voller Witz durch
die Geschichte, das Heute und die Psyche
seines Sänger- und Frauenhelden kut-
schierte, der will nicht glauben, dass der
gleiche Kratzer jetzt diese vorabendserien-
taugliche Geschichtsoberflächlichkeit an-
gerührt haben soll. Doch nach der Pause
wird erst einmal alles besser, wird alles in
verblüffender Weise heutig.
Der Chor sitzt jetzt modern schwarz ge-
kleidet um einen unförmigen Dreckhau-
fen herum, auf dem Jonas Kaufmann als
Leonores Liebesobjekt Florestan im Zottel-
look von 1791 angekettet ist. Kratzer ist Mo-
ralist. Mit dem Chor meint er das Publi-
kum und die gesamte Weltöffentlichkeit,
die dem Leid fasziniert, staunend, ver-
blüfft und manchmal auch gelangweilt
Schokolade kauend zusieht. Ganz egal, ob
da Syrer totgebombt werden, Flüchtlinge
im Mittelmeer ertrinken, Coronakranke
oder Opernhelden sterben. Alles eins, Bot-
schaft angekommen.
Jonas Kaufmann singt (krankheitsbe-
dingt) seine Arie verhalten, er ist wie ge-

wohnt der ewige Leidensmann, der aller-
dings gegen die übermächtige Lise David-
sen nicht bestehen kann. Dann kommen
nacheinander in ihren historischen Kostü-
men Fidelio, der Gefängniswärter, der
Schuft, die Musik wird immer dramati-
scher und verzweifelter, Pappano gibt sich
immer engagierter. Dieser zweite „Fide-
lio“-Teil hat schon immer alle Dirigenten,
Zuschauer, Regisseure mehr fasziniert als
der Rest. Und als der Schuft dann Flores-
tan erstechen will, fällt endlich der erlösen-
de Schuss. Doch wer schießt?
Plötzlich ist Marzelline aufgetaucht mit
einer Trompete in der einen Hand, in der
anderen aber die Pistole, die die Wachen zu-
vor bei Leonore sichergestellt haben. Mar-
zelline schießt den Schuft zusammen. Es
ist dies ihr letzter und größter Liebesbe-
weis für den falschen Fidelio, der ihr Liebe
vorgespielt hat, nur um die eigene Liebe zu
retten. Aber in London ist es Marzelline,
die diese fremde Liebe rettet, die die eige-
ne unmöglich macht. Es ist ein grandioser
und grandios bitterer Moment. Er bestä-
tigt Kratzer als jenen Ausnahmeregisseur,
als der er sich mit dem Bayreuther „Tann-
häuser“ empfohlen hat. Bitter daran ist,
dass sich Kratzers Regie letztlich auf die-
sem genialen Einfall ausruht, dass er an-
sonsten bloß die Probleme dieses schwieri-
gen Stücks benennt, aber keines löst und
ansonsten recht bieder und gewöhnlich
Oper macht. Und Pappano schmettert da-
zu das finale „Heil“-Gebrüll unerträglich
affirmativ und laut in den Raum. Gut aber
ist gar nichts, weder in diesem Stück noch
in der Welt. Daran ändert auch der eine er-
lösende Schuss nichts.

Wer hat geschossen?


Probleme benennen, aber nicht lösen: Der deutsche Opernregisseur Tobias Kratzer
versucht in London, seine „Fidelio“-Inszenierung mit einem einzelnen, genialen Einfall zu retten

Vor vier Jahren bekam der Künstler, der
normalerweise immer durch ein „und“ mit
seiner langjährigen Partnerin Marina
Abramović verbunden wurde, und der sich
selbst nicht ohne Bitterkeit den „bekann-
testen unbekannten Künstler“ nannte,
noch einmal eine große alleinige Würdi-
gung in der Frankfurter Schirn. „Ulay Life-
Sized“ stand am Eingang, Ulay lebensgroß.
Für die Ausstellung warb ein Video, in dem
der Mann von der Aura eines fernöstlichen
Gurus erklärte, dass die menschliche Iden-
tität ein kleines Segelboot auf der Mitte
des Ozeans sei mit dem Anker von der Grö-
ße eines Tankers. Dieses lebenslange
Kämpfen mit der eigenen Identität, stell-
vertretend für die menschliche Selbstwahr-
nehmung schlechthin, war Ulays Thema,
das philosophische Grundbrummen unter
all seinen Arbeiten, bei den eigenen groß-
formatigen Fotoarbeiten ebenso wie in
den extremen Performances, die Ulay mit
Marina Abramović zwölf Jahre lang wagte.
Berühmt wurde Frank Uwe Laysiepen,
der 1943 in Solingen geboren wurde, zu-
nächst alleine. Allerdings war Abramović
1976 schon mit der Kamera dabei, als Ulay
in die Neue Nationalgalerie in Berlin mar-
schierte, einen Spitzweg von der Wand
riss, um ihn nach Kreuzberg zu bringen,
wo er ein paar Wochen die Wohnung einer
türkischen Arbeiterfamilie schmückte.
Dieser Kunstraub im Geiste elitenkriti-
scher Emanzipationspolitik war eine der
radikalsten Aktionen performativer Pro-
testkultur jener Epoche. Doch weniger der
Politik blieb Ulay anschließend treu als
dem Herausfordern von Grenzen.
Seine Exzess-Duette mit Marina
Abramović haben wegen ihrer eindrückli-
chen Schonungslosigkeit zu einigen der be-
kanntesten Dokumenten der Performance-
kunst des 20. Jahrhunderts geführt. „Rest
Energy“ etwa, wo die zwei einen gespann-

ten Bogen halten, dessen Pfeilspitze auf
Abramović’ Herz zielte. Oder „Impondera-
bilia“ 1977 in Bologna, als die beiden nackt
im Türrahmen einer Galerie standen, so
dass jeder, der hinein wollte, sich in der Be-
rührung beider Körper durchzwängen
musste. Und schließlich die große Ab-
schiedswanderung auf der Chinesischen
Mauer, als Ulay und Abramović bereits ge-

trennt waren, laut ihrer Biografie: weil
Ulay sie ständig betrogen hatte. Von zwei
Seiten des Verteidigungsbauwerks aus
marschierten sie 1988 los, um sich nach
2500 Kilometern zu treffen und erschöpft
voneinander zu verabschieden.
Ein paar Jahrzehnte später kehrte die ex-
treme Intimität dieser alles fordernden
Grenzbeziehung noch einmal an die Öffent-

lichkeit zurück. Nachdem Ulay Abramović
zwischenzeitlich aus Urheberrechtsgrün-
den verklagt hatte, saß er zu ihrer sichtli-
chen Überraschung bei der Ausdauerper-
formance „The Artits is present“ 2010 im
New Yorker MoMA plötzlich auch auf dem
Stuhl. Sie weinte, sie fassten sich an den
Händen, aber wirklich versöhnt haben sie
sich erst Jahre später. Zu viele Verletzun-
gen, die nicht nur an die Grenze gingen,
sondern darüber hinaus, waren der Preis
für eine Kunst, die mit Schmerz und extre-
mer Selbstüberwindung entstanden war.
Ulay gelang es im Anschluss an ihre
spektakuläre Trennung nicht, eine so bild-
mächtige Präsenz zu erreichen, wie sie
Abramović als Kunstpriesterin für kollekti-
ve Traumata und Sehnsüchte entwickelte,
womit sie zu einer der angesehensten
Künstlerinnen der Gegenwartskunst wur-
de. Seine weitere Auseinandersetzung mit
der Identität als größte menschliche Si-
cherheit, die völlig unsicher ist, bekam ei-
ne private, fast intime Note. Seine Fotocol-
lagen und Selbstverwandlungen wirkten
rätselhaft, zitierend, er schien sich selbst
mehr als grimmigen Schrat und Guru ins
Zentrum der Kunst zu setzen, denn als radi-
kalen Bedeutungs(hinter)frager.
Das erzeugte zwar eine eigene Bildspra-
che, das Opus eines forschenden Alltags-
weisen. Aber Ulay erfüllte damit nicht
mehr die Erwartungen eines Kunstmark-
tes, der auf neue Sensationen hoffte. So ist
Ulays kleines „Segelboot“ mit dem riesi-
gen „Anker“ jetzt doch ein wenig halbver-
gessen gesunken. In der Nacht zum Mon-
tag ist Ulay im Alter von 76 Jahren in Ljubl-
jana gestorben. Er wird als einer der wich-
tigsten Kunstpartner aller Zeiten in die
Kunstgeschichte eingehen, der alles wag-
te, für die Liebe, die Kunst und die philoso-
phische Frage, was der Mensch ist und wo-
zu er fähig ist. till briegleb

Darf ich Ihnen zunächst mal gratulieren,
Menschen in Deutschland? Sie haben die
Verbindung zwischen gewalttätiger Rheto-
rik und physischer Gewalt schnell wieder-
hergestellt, und die „Alternative“ für Ihre
Zukunft scheint auf dem Rückzug. Wenn
man seine Führung eher nach Kriterien
der Reinheit aussucht als nach Fähigkeit
und Menschlichkeit, nun – dann wird man
am Ende von Killerclowns wie unserem
neuen Kabinett regiert. Jede noch so kleine
Spur von Kompetenz ist getilgt worden bei
jenen, die uns durch einen Klimanotstand,
durch einen Pandemienotstand und natür-
lich durch einen Brexit-Notstand führen
sollen. Die nur knapp als fühlendes Wesen
kategorisierbare Seifenskulptur Michael
Gove – aus irgendeinem Grund unser
Staatssekretär für Kabinettsangelegenhei-
ten – hat neulich verkündet, er müsse der-
zeit jeden Tag fast 60 neue fertig ausgebil-
dete Zollbeamte einstellen.
Da dies unmöglich ist und Gove schon
sichtlich überfordert mit grundlegenden
Tätigkeiten wie Gehen, Klatschen oder Ste-
hen, wurde diese Nachricht ebenso erfreut
aufgenommen wie Popo der Premierminis-
ter bei seinem letzten bizarren Kranken-
hausbesuch. (Er schlich sich um Mitter-
nacht hinein, wahrscheinlich in der Hoff-
nung, nur schlafende oder todkranke Pati-
enten vorzufinden, die zu schwach sind,
um ihn zu verabscheuen. Wieder dane-
ben.) Allein die Gerüchte über seinen Miss-
brauch illegalen Nasenpulvers können uns
glauben machen, dass Gove mehr ist als
ein mit Rupert Murdochs Speichel und ver-
zweifelten Eichhörnchen gefüllter Haut-
beutel. Doch es gibt gute Nachrichten!
Nach zehn Jahren Sparpolitik stagniert un-
sere Lebenserwartung. Arme Frauen wer-
den sogar noch etwas früher von der Bürde
des Britisch-Seins befreit. Bald schon wer-
den wir alle auf die gnädige Erlösung des
Todes zueilen und noch im Sarg unseren
blauen Pass umklammern.
Popo, der Premierminister, ist seit zwölf
Tagen spurlos verschwunden, abgesehen
von einem grotesken, im Fernsehen über-
tragenen Ritual, bei dem sein Kabinett sich
als amoralisch und irrsinnig genug erwies,
seine Mantras nachzusprechen. Popo jaul-
te „40 neue Krankenhäuser“ und „
neue Pflegekräfte“, versuchte irgendwie
die überschäumende Stimmung des Hof-
bräuhauses zu beschwören, klang aber
bloß wie ein in den Brunnen gefallener
Schuljunge. Die 40 neuen Krankenhäuser
sind in Wirklichkeit nur sechs, und das

auch nur, wenn man die Bedeutung von
„neu“ und „Krankenhaus“ so verstümmelt
wie Trump indische Nachnamen. Die
50000 neuen Pflegekräfte bestehen einer-
seits aus 20 000 gar nicht so neuen Pflege-
kräften und andererseits aus der Art
Wunschdenken, die sich nur mit starken
Drogen oder Kopfverletzungen aufrechter-
halten lässt. Oder wenn man Michael Gove
ist – wozu offenbar beides gehört.
Unsere aktuelle Regierung ist durch ei-
nen endlosen Strom gut verbreiteter Lü-
gen ins Amt gespült worden, aber Covid-
könnte ihr Ende bedeuten. Vielleicht wird
der Kontrast zwischen Fakten und Fiktio-
nen doch zu scharf, wenn man keine
Ausländer mehr beschuldigen kann. Nur
darauf zu verweisen, wie gut wir 2009 (vor
all den Kürzungen) auf die Schweinegrippe
vorbereitet waren, wird niemanden schüt-
zen. Erzwungene Abschottung von ohne-
hin gelähmten internationalen Versor-
gungsketten wird ein allzu grelles Licht auf
unsere Brexit-Realität werfen. Einem Vi-
rus Steuerkürzungen und Konjunkturpa-
kete statt umfassender Gesundheitsfürsor-
ge anzubieten, wird nur unterstreichen,
wie absurd es ist, alles zu monetarisieren.
Während Mike Pence seine „Gedanken
und Gebete“ verfasst und sich darauf vor-
bereitet, dass der Herr die Gottlosen über-
all in den USA niederstreckt, besteht die
britische Strategie für die Überlistung des
tödlichen Virus aus eugenischer Freude
angesichts der Wahnvorstellung, dass die
Lebensuntüchtigen ausgemerzt werden
könnten, und zugleich der Hoffnung, dass
es bis zum Sommer keine Ansteckungsfäl-
le geben könnte, weil wir jetzt schon nicht
mit der üblichen winterlichen Grippewelle
fertig werden. Dabei hat Covid-19 bereits
das erste britische Leben gefordert.
Wie die Wirklichkeit interessiert das
Virus sich nicht für rassistische Fantasien
oder Wunschdenken. Inzwischen fragen
wir uns, ob wir unsere Notvorräte für den
Brexit aufsparen oder sie zu Notvorräten
für die Selbstisolierung deklarieren sollen.
Menschen werden sterben, werden un-
glücklich und verängstigt sein. Aber viel-
leicht, ganz vielleicht werden wir eine
flüchtige Einsicht in die Fehler erlangen,
die wir derzeit machen, dass sie nämlich
immer zu Tod, Unglück und Angst führen.
Millionär Popo stößt derweil Drohungen
aus, die fallende Börsenkurse noch tiefer
stürzen lassen und seinen Hedgefonds-
Freunden mehr Geld bescheren, spielt Ten-
nis mit Putins Oligarchen, damit seine Par-
tei mehr Geld bekommt. Aber wird das
Geld ihn schützen?

Übersetzung: Ingo Herzke

Alltagsweiser


Der Künstler Ulay ist tot. Seine Zusammenarbeit mit Marina Abramović prägte die Nachkriegskunst


Das Virus der


Wirklichkeit


Wenn eine Epidemie auf
Austerität trifft.Von A. L. Kennedy

Übermächtig: Lise Davidsen als Leonore in Beethovens „Fidelio“ am Royal Opera House in London. FOTO: BILL COOPER/ROYAL OPERA

Unvergessen, damals in den Achtzigern:
Beim Musikfestival in Bratislava gastie-
ren die Symphoniker aus Olomouc, dem
tschechischen Olmütz, und spielen
Beethovens Siebte. Gustav Mahler war
mal ihr blutjunger Kapellmeister. Musi-
ker aus der tschechischen Provinz –
Philharmonikerbrillanz in Berlin, Wien,
London oder New York in Ehren – er-
kämpfen sich Beethoven: tapfer, rau,
authentisch, spannend. Ist die Hochleis-
tung der Spitzenklangkörper wirklich
essenziell, hieß und heißt die Frage.


Auch Beethovens Dritte scheint die
Perfektion des Klangs nicht zu brau-
chen, damit die große Sinfonia eroica,
bei der TruppeCompagnia di Punto,
aufregend genug und wie neu erscheint



  • nämlich im Arrangement für nur neun
    Instrumente, erstellt 1818 von Beetho-
    vens Zeitgenossen Carl Friedrich Ebers.
    Der Meister war, medial und finanziell
    interessiert, durchaus ein Freund der
    Bearbeitung sogar seiner Symphonien,
    vorausgesetzt seine peniblen Spielanwei-
    sungen stimmten in Dynamik und Arti-
    kulation mit der Originalnotation über-
    ein. Zwei Violinen, eine Bratsche und
    Flöte sowie je zwei Klarinetten und Hör-
    ner plus Kontrabass müssen genügen.
    Die Stimmen der Blasinstrumente sind
    präsent, der revolutionäre Elan der
    Symphonie kann auftrumpfen: ihre
    Expansivität im Allegro-Kopfsatz und
    dem fahlen Trauermarsch, im vibrieren-
    den Scherzo und Finalsatz. Geistesge-
    genwart und Vitalität von neun phantas-
    tisch motivierten Spielern reißen den
    Hörer hinein in die symphonische Kam-
    mer(gebrauchs)mu-
    sik von einst, erste
    und zweite Sympho-
    nie inbegriffen.
    Heute: ein rares
    Beethoven-Experi-
    ment. (deutsche
    harmonia mundi)


Dass ein Ensemble wie das beschwing-
teFreiburger Barockorchesterunter
Pablo Heras-CasadoBeethovens ma-
jestätisch aufkreuzendes fünftes Kla-
vierkonzert in Es-Dur spielt, kann in
der Epoche fortgeschrittener „Histo-
risch informierter Aufführungspraxis“
kaum mehr überraschen. Und der So-
list heißtKristian Bezuidenhout, der
auf der Kopie eines Fortepianos von
1824 aus der Werkstatt Conrad Grafs
musiziert und somit seine intime Kunst
der Verschlankung und Klangtranspa-
renz ausüben kann. Es gelingt ihm, das
imperiale Konzert aus Beethovens
Geist der Improvisation zu beflügeln,
mit einer Leichtigkeit des Passagen-
werks und der Eleganz im Rubatospiel,
wo alle gewohnten spätromantischen
Klangirrtümer ausgeschaltet sind. Erst
recht im B-Dur-Konzert Op.19: reichhal-
tige Dynamisierung und Artikulation,
scharfe Akzente,
rasche, nie wider-
sinnig rasende
Tempi. Der stürmi-
sche junge Beetho-
ven muss einfach
mitreißen. (harmo-
nia mundi)


Ohne jedes Breitwandpathos kommt
Beethovens einziges Violinkonzert aus,
wenn es von einem Ensemble wie der
Cappella Aquileiaunter ihrem Dirigen-
tenMarcus Boschausgearbeitet wird.
Wenn die SologeigerinLena Neudauer
sich in die konzertante Handlung sym-
phonisch einbinden lässt anstatt mit
solistischer Kunstfertigkeit Glanz entfal-
ten zu wollen. Die aus München stam-
mende Violinistin, Schülerin auch von
Thomas Zehetmair, überhöht das legen-
däre Konzert mit Esprit und geigeri-
scher Lust am Zusammenspiel, ohne
dem Solopart agilen Zugriff und Geist
schuldig zu bleiben. Großartig ihre Solo-
kadenz im Kopfsatz, bei der Neudauer
sich der mit der Paukenstimme verbün-
deten Beethovenkadenz zur Klavierver-
sion des Konzert bedient. Schönes lyri-
sches Understatement im Larghetto,
tänzerisch pointiert das finale Rondo.
Das kammersinfonische Orchester der
Opernfestspiele
Heidenheim, mit
Musikern aus ganz
Deutschland, er-
schafft unter Mar-
cus Bosch eine sehr
begehbare Klang-
landschaft. (cpo)


Nicht um die hohe Kunst internationa-
ler Spitzenorchester, wie sie das Lucer-
ne Festival stets präsentiert, geht es bei
einem symphonischen Parcours Sergej
Rachmaninows, sondern um das lokale,
im recht gemütlichen Opernhaus tätige
Luzerner Symphonieorchester. Sein
Chefdirigent, der US-Amerikaner
James Gaffigan, macht mit Enthusias-
mus aus der dritten Symphonie in
a-Moll, die Leopold Stokowski 1936 in
Philadelphia uraufgeführt hat, ein kraft-
volles Statement für Rachmaninows
künstlerische Charakter- und Aus-
drucksstärke – gleichzeitig gegen die
lange in Europa verbreitete Karikatur
des russisch-amerikanischen „Salonro-
mantikers“. Komponiert hat Rachmani-
now die Symphonie nahe Luzern, in
seiner Villa am Vierwaldstättersee. Auf
seinem originalen Steinway spieltBeh-
zod Abduraimov
enorm gelenkig
Rachmaninows
atemlose Paganini-
Rhapsodie. Ein
Dokument. (Sony)
wolfgang
schreiber


Der zweite Teil der Oper
hatdie Regisseure schon immer
mehr fasziniert als der erste

10 HF3 (^) FEUILLETON Dienstag,3. März 2020, Nr. 52 DEFGH
KLASSIKKOLUMNE
Briefe vom Abgrund:
In dieser Kolumne berichtet
die schottische Schriftstellerin
A. L. Kennedy wöchentlich
aus dem Seelenleben des Brexit
Folge 9
AFFENTHEATER
FrankUwe Laysiepen (1943–2020) wurde unter dem Namen Ulay als Künstler und
Performer weltberühmt. FOTO: IMAGO/SABINE GUDATH

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