Süddeutsche Zeitung - 03.03.2020

(Tina Sui) #1
Als der Physiker und Mathematiker
Freeman Dyson vor ein paar Jahren in
München zu Besuch war, reagierte er
auf die Frage, wie er denn diese Zeiten
der galoppierenden Neuigkeiten als Le-
gende der Wissenschaft so sehe, sehr
laut. „Nichtsist neu!“, rief er. „Künstli-
che Intelligenz? Genetik? Raumfahrt?
Atomkraft?AllesTechnologien aus den
Vierziger- und Fünfzigerjahren.“ Für
einen, der seit den Fünfzigerjahren am
Institute for Advanced Study der
Princeton University gearbeitet hatte,
war das Zeitalter der Digitalisierung
und Gentechnik natürlich nicht so auf-
regend, wie für Menschen einer Zeit, in
der all das zum neuen Alltag wurde.
Geboren wurde er im englischen
Berkshire, 1947 zog er in die USA. Sei-
nen Status als Wissenschaftsgenie hat-
te er sich 1949 mit seiner Arbeit über
die Quantenelektrodynamik erschrie-
ben. Den Nobelpreis dafür bekamen
allerdings 1965 drei andere Kollegen.
Was er eher lässig sah. Für einen Nobel-
preis, so sagte er, fehle es ihm am
Konzentrationsvermögen, sich zehn
Jahre oder länger mit einem einzigen
Thema zu beschäftigen.
Seine Rolle war dann auch eher die
des Provokateurs und Intellektuellen.
So entwarf er für das Orion-Projekt ein
Raumschiff, das mit Atomexplosionen
angetrieben den Saturn erreichen
sollte. Er wollte die Menschheit im All
ansiedeln. Dort sollten die „Dyson-Bäu-
me“, genetisch veränderte Bäume, so-
gar auf Kometen wachsen können und
im All Atmosphären schaffen, in denen
Menschen leben könnten.
Seine eigentlichen Arbeiten als ma-
thematischer Physiker taugten nicht so
sehr für Schlagzeilen, zementierten je-
doch seine Stellung als Wissenschaft-
ler. Seine Neugier blieb bis ins hohe
Alter unstillbar. Wissenschaftliche
Gewissheiten waren für ihn vor allem
ein Anlass, sie herauszufordern. Er be-
schäftigte sich mit Philosophie, Gene-
tik, Wissenschaftstheorie und dem Uni-
versum. In seinem Buch „Die zwei Ur-
sprünge des Lebens“ beklagte er, dass
die Menschheit viel über die Anfänge
des Universums und wenig über die
Entstehung des Lebens weiß. Zeit sei-
nes Lebens war er überzeugter Pazifist.
Am vergangenen Freitag ist er in
Princeton gestorben. Er wurde 96 Jah-
re alt. andrian kreye

Freeman Dyson
arbeitete als mathe-
matischer Physiker
am Institute for
Advanced Study
der Princeton Uni-
versit. Als „public
intellectual“ forder-
te er Gewissheiten
heraus.FOTO: GETTY

von sabine leucht

E


igentlich sind es nicht, wie angekün-
digt, zehn, sondern 13 Körper, die
Florentina Holzinger in ihrer ersten
Stadttheaterinszenierung auf die Bühne
bringt. Alle nackt. Einer gehört der Kame-
rafrau, die Fotos macht, mit deren Erwerb
man Apfelbaum-Pate wird. Zwei gehören
Stuntfrauen, zwei Opernsängerinnen, fünf
Schauspielerinnen und einer der strengen
Chorleiterin. Den Körper des Autos, der in
„Étude for an emergency. Composition for
ten bodies and a car“ mitwirkt, gibt es dop-
pelt. Ein schwarzer Opel Corsa steht – um
eine Klaviertastatur über dem Kühlergrill
ergänzt – in der Kammer 2 der Münchner
Kammerspiele, die im kühlen Arbeitslicht
Laboratmosphäre ausstrahlt. Sein verbeul-
tes Double hat den Crashtest offenbar
schon hinter sich, den die nackten Frauen
für Holzinger-Verhältnisse einigermaßen
unbeschadet überstehen.


Die Wiener Performerin, Akrobatin und
Choreografin mag es krass. Holzinger ar-
beitet sich an den Konventionen, Zurich-
tungsmechanismen und Blickregimes der
Hoch- und Trashkultur ab und versteht De-
konstruktion körperlich. Vermutlich hätte
sie auch den Opel lieber live demolieren las-
sen, dass das Blech nur so spritzt, doch die
„Étude for an emergency“ ist auch für sie
eine Übung – nämlich für den Stadttheater-
Ernstfall. Von 2021 an wird sie zu René Pol-
leschs Berliner Volksbühnen-Team gehö-
ren. Ob dort mehr geht als in München, wo
der Automotor aus und auch die Perfor-
mance relativ jugendfrei bleiben muss?
Statt Penetrationen wie in früheren
Arbeiten, offener Vagina-Beschau und Flei-
scherhaken im Nacken, wie in ihrer letzten
Produktion „Tanz“, gibt es diesmal nur
Kunstblut und „explizite Nacktheit“. Dass
die Kammerspiele vor dieser warnen,
kann die unerschrockene Annette Paul-
mann kaum glauben. Die einzige Vertrete-
rin des Ensembles an diesem Urauffüh-
rungsabend erklärt dem Publikum erst
mal die Lage. Das tut sie sehr Paulmann-
mäßig: „Ganz ehrlich, Leute, wenn ich jetzt
Hosen anhätte, würde ich mir reinpullern.“
Stattdessen outet sie das Blut auf der Büh-
ne als Rote-Beete-Saft, verteilt Tütchen da-
von „fürs Risotto“ und wundert sich laut:
„Ich wusste gar nicht, dass mein nackter
Hintern Angst und Schrecken verbreiten
kann.“
Nach diesem launigen Beginn wechselt
der Abend seine Mittel: Genug der Worte,
lasst uns endlich Action sehen! Holzinger
greift in ihre Trickkiste, in der sich Sachen


befinden, die sonst niemand im Theaterbe-
trieb in dieser Mischung zur Verfügung
hat. Also wird Paulmann mit Gaffa Tape
über dem Mund an einen Stuhl gefesselt,
wo ihr eine Mit-Performerin ein Ohr „ab-
schneidet“. Daran anschließend choreo-
grafiert Holzinger mehrere „Bewegungen“
genannte Szenen, in denen ihr gemischter
Frauencast minutiös gemeinhin als „männ-
lich“ konnotierte Handlungen kopiert:
Schießereien zum Beispiel oder einen
fingierten Unfall, der in zahllosen Western
zum Kapern der Postkutsche führt, die
hier ein Auto ist. All diese Aktionen sind
vom Bedeutungsbrimborium und den
Emotionen bereinigt, die sie normalerwei-
se legitimieren. Sie werden als rein techni-

sche Vorgänge hergestellt und so oft wie-
derholt, dass sich jeder etwaige Bedeu-
tungsrest auswäscht und nur die rein
mechanische Bewegung bleibt. Einige wie
den Flaschenzug-Zauber, der vier Körper
wieder und wieder gegen vier Crashwände
prallen lässt, kennt man schon von „Tanz“.
Widmete sich Holzingers nummernrevue-
artige Erzähltechnik darin konkret dem
Thema Disziplinierung und Zurschaustel-
lung des weiblichen Ballett-Elevinnen-Kör-
pers, geht es in „Études“ buchstäblich nur
um „Übungen“. Als Vorlage dafür dienen
Filme wie Quentin Tarantinos „Reservoir
Dog“ (das Ohr!). Oder „A Clockwork Oran-
ge“, in dessen Gruppenvergewaltigungs-
szene Stanley Kubrick mithilfe einer rhyth-

misierten Trittchoreografie und dem Pa-
thos von Beethovens Neunter gewaltästhe-
tisierungskritisch Gewalt ästhetisierte. In
diesem Dilemma steckt auch Holzinger,
die besagte Szene re-enacten lässt und
durchweg sehr auf den Effekt hin insze-
niert, vielleicht auch allzu routiniert.
In der Probe für den Ernstfall muss man
die Verhaltensweisen des potenziellen Geg-
ners möglichst genau kennenlernen – was
die in den Martial Arts versierte Choreogra-
fin weiß. Da hilft es vielleicht, statt wie für
Frauen auf der Bühne üblich, in Schönheit
zu verenden, schon mal im multiplen Ku-
gel- und Kanonenhagel tausend zuckende
Tode gestorben zu sein, ausgelöst vom
Taktstock der Chorleiterin Sibylle Fischer,

die auch einen fein synchronisierten Schlä-
gerei-Loop an vier Crashmatten dirigiert.
Der läuft immer exakt gleich ab und ergibt
mit zugespielten Actionfilm-Soundeffek-
ten eine meditative Körpermusik, bei der
man fast schon mitwippt. Dabei kann man
es belassen und einigermaßen fasziniert
sein, zumal der ursprünglich als Stunt-
Oper geplante Abend mit hingebungsvoll
geschmetterten Arien- und Kunstlied-
Fragmenten aufwartet. Ein über der Büh-
ne eingeblendeter Sinnspruch verkauft
einem dies als die einzige Antwort auf Ge-
walt. Doch bei allem Spaß beim Zuschauen


  • und offenbar auch beim Vorführen – ist
    noch immer nicht klar, was genau der
    Ernstfall sein soll, bei dem das alles hilft.


Hätte der „Friedenskaiser“ Wilhelm II. mit
einemHeldentod an der Front die Monar-
chie retten können? Hat die „falsche Seite“
den Ersten Weltkrieg gewonnen? Und wird
die Demokratie heute durch den „Multikul-
turalismus“ bedroht? Das sind Fragen, die
sich der 33-jährige Theologe und Histori-
ker Benjamin Hasselhorn in seinem 2018
erschienenen Buch „Königstod“ stellt, mit
einem „offenen, neugierigen und weniger
miesepetrigen Blick“ auf die deutsche
Geschichte.
Hasselhorn trat Ende Januar ins öffentli-
che Rampenlicht, als der Hohenzollern-
streit im Kulturausschuss des Bundestags
fortgesetzt wurde. Dort gab es eine
Anhörung von Wissenschaftlern, die ein-
schätzen sollten, ob die Hohenzollern beim
Zusammenbruch der Weimarer Republik
dem nationalsozialistischen Regime „er-
heblichen Vorschub“ geleistet hätten. Von
dieser Frage hängt der Restitutionsan-
spruch der Familie ab.


Die Historiker waren sich uneinig. Wäh-
rend die Experten, die SPD, Grüne und Lin-
ke berufen hatten, für die erhebliche Vor-
schubleistung plädierten, vertrat der CDU-
Sachverständige Benjamin Hasselhorn ei-
ne andere Position: Es seien noch nicht alle
Quellen zurate gezogen worden und weite-
re Forschung notwendig. Die unbestreitba-
ren Fakten könne man unterschiedlich in-
terpretieren, viele Fragen seien „mit guten
Gründen anders beantwortbar“. Die CDU-
Abgeordnete Elisabeth Motschmann, zu-
gleich kultur- und medienpolitische Spre-
cherin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion,
schloss sich bei der Anhörung im Kultur-
ausschuss dieser Auffassung an.
Die Berufung Hasselhorns durch die
CDU war etwas überraschend. Eher hätte
man mit den renommierten Spezialisten
Christopher Clark oder Wolfram Pyta ge-
rechnet. Hasselhorn hat zwei Dissertatio-
nen vorzuweisen, eine zur „Politischen
Theologie Wilhelms II.“, die andere zur „Ge-
lehrtenbiographie“ des Historikers Johan-
nes Haller. Einer etwas breiteren Öffent-
lichkeit war der 33-Jährige wohl allenfalls
durch Beiträge in Magazinen wieCicero
undCatooder auf der evangelikalen Nach-
richtenseiteIdeabekannt.
Vielleicht ist Hasselhorn aber auch Le-
sern derBlauen Narzissein Erinnerung,


für die er 2007/2008 einmal in der Print-
version und mindestens fünfmal online
geschrieben hat. DieBlaue Narzissewird
in der Forschung im neurechten Spektrum
verortet. Die Artikel aus der Zeit von Has-
selhorns Autorschaft sind mittlerweile ge-
löscht, doch das Internet vergisst bekannt-
lich nicht so schnell. In einem Text über die
68er-Generation beklagt sich Hasselhorn
über die „politische Korrektheit“ und die
Konsequenzen, die es habe, wenn einer
„Menschen mit schwarzer Hautfarbe ‚Ne-
ger‘ nennt. Oder offen sagt, daß er Homo-
sexualität für etwas Abnormales hält. Oder
schließlich: Wenn er etwas über den Natio-
nalsozialismus äußert, was jenseits der
üblichen festgelegten Floskeln liegt, ohne
daß jeder Satz gleich in hundert Einschrän-
kungen und Entschuldigungen eingewi-
ckelt ist.“ Einen anderen Text beschließt er
mit dem Credo: „Wenn ein Christ Ernst
macht mit seinem Christentum, dann muß
er ein Rechter sein!“
Vor diesem Hintergrund wird verständ-
lich, weshalb das rechte LeitmediumSezes-
sionHasselhorns Werk seit seiner ersten
Doktorarbeit mit wohlwollenden Rezensio-
nen begleitet. Hasselhorn äußerte auf
Nachfrage, dass er keine Verbindungen
mit derBlauen Narzisseoder damit assozi-
ierten Institutionen unterhalte und sich
nicht mit der ideologischen Ausrichtung
der Neuen Rechten identifiziere.
Nun könnte man fragen: Was hat die
Jugendsünde eines damals 22-Jährigen
mit seiner Sachverständigentätigkeit über
zehn Jahre später zu tun? Hasselhorn
selbst macht in einer ersten Stellung-
nahme nachdrücklich auf seine wissen-
schaftliche Expertise aufmerksam, insbe-
sondere auf die zweite Dissertation über
den Historiker Haller, in der es, wie bei der
Hohenzollernfrage, um „das Verhältnis
von Konservatismus und Nationalsozia-
lismus“ gegangen sei. Dieses Verhältnis
bestimmt Hasselhorn über den Begriff der
„Konservativen Revolution“.
Die „Konservative Revolution“, wie wir
sie heute verstehen, wurde 1949 von
Armin Mohler erfunden, der – in seinen ei-
genen Worten – versuchte, „diese Sachen
auseinanderzudividieren – Konservative
Revolution und Nationalsozialismus. Es
war schon sehr schwer zu unterscheiden;
in der historischen Wirklichkeit über-
schneidet es sich schon sehr.“ Dieser „My-
thos“ einer nichtnationalsozialistischen
Rechten half den Rechten nach 1945 bei
ihrem „Neubeginn“, wie der Historiker
Volker Weiß in seinem Buch über die „Auto-

ritäre Revolte“ (2017) ausführt. Mohlers
„Taktik, unter der Fahne des Konservati-
ven die Grenzen bis weit in faschistisches
Gelände hinein zu verschieben, wenden
seine Epigonen bis heute an.“
Von dieser hochproblematischen Ge-
schichte des Begriffs liest man bei Hassel-
horn kein Wort. Stattdessen wird Mohler
als Stand der Forschung präsentiert. Über
das weitere Vorgehen Hasselhorns, seinen
Protagonisten („eine[n] der profiliertesten
und klügsten Vertreter der sogenannten
‚Dolchstoßlegende‘“) irgendwie in die
Nähe der „Jungkonservativen“ zu rücken,
ließe sich vieles sagen. Das unkritische Be-
harren auf Mohlers Begriff und seine Ope-
rationalisierung – sowie die streckenweise
grotesken Versuche einer Rehabilitierung
von Kaiser und Kaiserreich in zwei seiner
anderen Bücher – müssen im Zusammen-
hang neurechter Geschichts- und Begriffs-
politik verstanden werden.

Wenn man sich der Wissenschaftsbio-
grafie Benjamin Hasselhorns zuwendet,
seinen Doktorvätern und Förderern, stößt
man immer wieder auf direkte Verbindun-
gen zu neurechten Institutionen. Das
spricht für eine gewisse Kontinuität in Has-
selhorns Werdegang und fällt umgekehrt
auf seine Förderer zurück. Es stellt sich
also die Frage nach rechten Strukturen in
der Wissenschaft.
Im Wintersemester 2011/2012 wurde
Hasselhorn bei dem evangelischen Theolo-
gen Notger Slenczka an der Humboldt-Uni-
versität promoviert. Laut Chronik des Insti-
tuts für Staatspolitik (IfS) hat Slenczka
dort im September 2002 über die „Theolo-
gischen Aspekte der Geschlechterpolari-
tät“ referiert. Das IfS wurde 2000 von den

rechten Vordenkern Karl-Heinz Weiß-
mann und dem berüchtigten Götz Kubit-
schek gegründet. Für die Bundeszentrale
für Politische Bildung ist es der „wichtigste
Think Tank der Neuen Rechten in Deutsch-
land“.
Der theologischen folgte die historische
Promotion bei Hans-Christof Kraus in Pas-
sau. Kraus hat sich in derNeuen Zürcher
Zeitung ebenfalls in die Hohenzollern-
debatte eingeschaltet, „Sachlichkeit“ und
politische „Unvoreingenommenheit“ ange-
mahnt und die Hohenzollern in Schutz
genommen. Mitte der Achtzigerjahre war
Kraus Redakteur der „jungkonservativen“
Zeitschrift Phönix, zusammen mit dem
genannten Weißmann und Karl-Eckhard
Hahn, aktuell Leiter des wissenschaft-
lichen Dienstes der CDU-Fraktion in Thü-
ringen, der wegen seiner Verwicklung in
die Umstände der Kemmerich-Wahl in den
Schlagzeilen steht. 1988 und 1989 schrie-
ben Kraus, Weißmann und Hahn für die
rechte ZeitschriftEtappe, in den Neunzi-
ger n für das rechtskonservative BlattCriti-
cón, das Klaus Motschmann, Schwager der
eingangs erwähnten CDU-Abgeordneten
Elisabeth Motschmann, mit herausgab.
Hans-Christof Kraus taucht auch als
Autor des „Staatspolitischen Handbuchs“
(Band 2, 2010) auf, laut dem Soziologen
Armin Pfahl-Traughber ein „ideologischer
Wegweiser“ der Rechten, für den Weiß-
mann und der Geschäftsführer des IfS Erik
Lehnert als Herausgeber verantwortlich
zeichneten. Außerdem kam Kraus 2011 die
Rolle des Festredners bei der Eröffnung
der „Bibliothek des Konservatismus“ in
Berlin zu, die Rechtsextremismusforscher
zweifelsfrei dem neurechten Netzwerk
zuordnen.
Dort sprach 2014 auch Peter Hoeres, an
dessen Würzburger Lehrstuhl Benjamin
Hasselhorn derzeit als Mitarbeiter beschäf-
tigt ist. 2017 veröffentlichte Hoeres einen
Artikel in der rechten ZeitschriftTumult,
zu deren Hausautoren Benjamin Zschocke
gehört, einer der Gründer derBlauen Nar-
zisse. Herausgegeben wirdTumult von
Frank Böckelmann, der unlängst ein hagio-
grafisches Vorwort für einen Gesprächs-
band mit Björn Höcke verfasst hat. In einer
Rede von 2019 nennt Hoeres die AfD die
„einzige Partei, die sich offensiv zum Kon-
servatismus bekennt“ und bedauert, dass
Weißmann oder ein „herausragender Den-
ker“ wie Michael Klonovsky, persönlicher
Referent von Alexander Gauland, in der
Diskussion um den Begriff „Konservatis-
mus“ nicht ausreichend zu Wort kämen.

Seit seiner ersten Dissertation ist Hassel-
horn außerdem mit Professor Frank-Lo-
thar Kroll von der TU Chemnitz verbunden.
Es ist bekannt, dass Kroll 2001, 2010 und
2012 Vorträge am IfS gehalten hat. In ei-
nem Zeitungsbericht von 2015 berief sich
Kroll auf seine „Naivität“ und schloss weite-
re Auftritte am IfS aus. Für die Geschichts-
wissenschaft relevant ist Kroll als Vorstand
von Historikervereinigungen wie der Preu-
ßischen Historischen Kommission oder
der Prinz-Albert-Gesellschaft, deren Beirä-
ten auch Kraus angehört. Für die Prinz-Al-
bert-Gesellschaft hat Hasselhorn 2018 ei-
nen Sammelband herausgegeben, in dem
neben Kroll und Kraus auch Eberhard
Straub veröffentlichte. Ebenfalls Autor der
Prinz-Albert-Studien ist Lothar Höbelt. Die
Historiker Höbelt und Straub sind seit
2000 beziehungsweise 2002 Referenten
des IfS und dort zuletzt 2019 aufgetreten.

Bewahre uns, Allah, vor dem Ozean der
Namen, mögen Leser an dieser Stelle mit
dem islamischen Mystiker Ibn ul’Arabi
seufzen. Dass sich die genannten Wissen-
schaftler publizistisch im neurechten Spek-
trum bewegen oder bewegt haben, ist
nicht schwer herauszufinden. Die Wissen-
schaftsbiografie Benjamin Hasselhorns
bringt seine Vorgesetzten und einige sei-
ner Förderer und Wegbegleiter nun in ei-
nen Zusammenhang. Dabei sind „Netzwer-
ke“ in der Wissenschaft, strategische Plat-
zierungen in Gremien, Kommissionen
oder akademischen Vereinigungen, ge-
meinsame Tagungen und Sammelbände,
und schließlich die Protektion vielverspre-
chender Nachwuchskräfte zunächst weder
ungewöhnlich noch skandalös. Beunruhi-
gend ist dagegen, welche Akteure und Insti-
tutionen Hasselhorns Karriere miteinan-
der verbindet, und dass für diese Verbin-
dung Institutionen wie die Bibliothek des
Konservatismus oder das IfS Kristallisati-
onspunkte zu sein scheinen.
Darüber entsteht die Gefahr einer Ver-
schiebung, Verwirrung und Manipulation
wissenschaftlicher Diskurse, die über De-
batten wie den Hohenzollernstreit ihren
Weg in Öffentlichkeit und Politik finden.
Innerhalb des größeren „Netzwerks der
Neuen Rechten“ (so der Titel einer 2019 er-
schienenen Studie von Christian Fuchs
und Paul Middelhoff) gehören diese Wis-

senschaftler aus der zweiten Reihe sicher-
lich nicht zu den wichtigsten Figuren. Der
Fall ist aber typisch für die bürgerlichen
Verstrickungen von Konservativen und
Rechtsradikalen und für die Offenheit des
Konzepts „Konservatismus“ nach rechts,
die Nicht-Konservative, aber bestimmt
auch viele CDU-Wählerinnen und -Wähler
derzeit in Unruhe versetzt.
Es ist eine bezeichnende Fußnote dieser
Geschichte, dass Benjamin Hasselhorn die
Dissertation von Volker Weiß in derHisto-
rischen Zeitschriftrezensiert hat. Volker
Weiß hat sich durch seine Forschung zur
Geschichte der Neuen Rechten einen Na-
men gemacht. DieHistorische Zeitschrift
galt lange als das wichtigste Fachjournal
der Zunft. Die „Kernthesen“ von Weiß sei-
en „politisch motiviert [...], was wiederum
den gesamten Erkenntnisgang beeinträch-
tigt“, schrieb Hasselhorn in seiner Bespre-
chung. Politisch motiviert, das sieht man
auch bei Kraus’ Intervention im Hohenzoll-
ernstreit, sind immer nur die anderen.
Hasselhorn wurde von der Unionsfrakti-
on in Sachen Hohenzollern in den Bundes-
tag eingeladen. Dazu lässt Elisabeth
Motschmann mitteilen: „Die AG Kultur
und Medien der Unionsfraktion ist auf
Herrn Dr. Hasselhorn durch die 3sat-Doku-
mentation ,Wem gehören die Schätze des
Kaisers?‘ aufmerksam geworden, die am


  1. Dezember 2019 ausgestrahlt wurde.“
    Die Verbindung zwischen Doktorvater
    Kraus und ihrem Schwager Klaus Mot-
    schmann sei ihr „nicht bekannt gewesen“.
    Der Referent der AG Kultur und Medien
    erklärt auf Nachfrage, mit den wissen-
    schaftlichen Arbeiten Hasselhorns habe
    man sich nicht auseinandergesetzt.
    Im Schlusskapitel von „Königstod“
    äußert Benjamin Hasselhorn grundlegen-
    de Zweifel an der Demokratie: „Man kann
    gegen die Demokratie sein, weil diese auf
    dem naiven aufklärerischen Glauben be-
    ruht, dass der Mensch gut und vernunft-
    begabt sei und deshalb die Mehrheit im
    Regelfall Recht habe.“ Gleichermaßen
    könne man die Monarchie infrage stellen.
    Ein „perfektes politisches System“ gebe es
    ohnehin nicht. Offenbar ist es mit den
    politischen Systemen genauso kompliziert
    wie mit dem Erbe der Hohenzollern: Für
    alle Perspektiven gibt es scheinbar gute
    Gründe.


Niklas Weberist Historiker und derzeit Doktorand
am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-
Universität zu Berlin.

„Ich wusste gar nicht, dass


meinnackter Hintern Angst und


Schrecken verbreiten kann.“


Ein exemplarischer Fall – für die
Verstrickung von Konservativen
und Rechtsradikalen

Physiker Freeman


Dyson ist tot


Reine Körpermechanik


Nackte Frauen kopieren männlich konnotierte Gewaltszenen: Die Tanzperformance „Étude for an emergency“ der Choreografin


Florentina Holzinger an den Münchner Kammerspielen ist eine Probe für den Ernstfall – aber für welchen?


Crashtest bestanden: Zehn körpereinsatzfreudige Performerinnen und ein demolierter Opel Corsa in Florentina Holzingers Münchner Uraufführung „Étude for an
emergency. Composition for ten bodies and a car“. FOTO: NICOLE MARIANNA WYTYCZAK

Da ist sie wieder, die konservative Revolution


Der Sachverständige der CDU im Hohenzollernstreit ist offenbar Teil eines neurechten Netzwerks in den Geisteswissenschaften. Von Niklas Weber


Historiker und rechte Leitmedien


verbinden sich zu einer eigenen


Geschichts- und Begriffspolitik


DEFGH Nr. 52, Dienstag, 3. März 2020 (^) FEUILLETON HF2 11
In seinem Buch „Königstod“
fordert der Theologe und
Historiker Benjamin
Hasselhorn einen „weniger
miesepetrigen“ Blick auf die
deutsche Geschichte.FOTO: EVA

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