Süddeutsche Zeitung - 03.03.2020

(Tina Sui) #1
von max hägler

München/Ingolstadt–Es sind nur einige
wenige, brutal nüchterne Zeilen, doch hin-
ter ihnen verbirgt sich so viel Geschichte,
Zukunft und Emotion. Am Freitagabend
um 19.40 Uhr, unbemerkt von den meis-
ten, versandte Audi eine sogenannte Ad-
hoc-Meldung. Darin wird über das Verlan-
gen der Volkswagen AG gemäß Paragraf so-
undso berichtet, wonach die Audi AG sämt-
liche Aktien an die Konzernmutter, eben
VW, übertragen solle. Den verbliebenen an-
deren Aktionären sei eine Barabfindung zu
gewähren. Die Firma wird im Sommer von
der Börse verschwinden. Ein jahrzehnte-
langes Ringen um Eigenständigkeit hat da-
mit ein Ende, zum Nachteil der Bayern.
Nun ist der Ingolstädter Autohersteller
schon seit Langem im Hauptbesitz von
VW; nur noch 0,36 Prozent der Aktien be-
finden sich im Streubesitz. Aber egal, auch
diese Krumen brachten aktienrechtliche
Eigenständigkeit, besondere Aufmerksam-
keit und letztlich zumindest das Gefühl ei-
ner gewissen Autonomie, die wiederum be-
deutsam für den Stolz der Stadt ist. Auch
wenn sich der Oberbürgermeister, ein CSU-
Mann, am Montag nicht zu der Entwick-
lung äußern mag: So oft haben sie ge-
kämpft um ihre Firma, die einst Auto Uni-
on hieß und früher zu Daimler gehörte,
dass den Menschen in Ingolstadt „ihr“ Au-
di besonders wichtig ist.
Fritz Böhm etwa, der als Lagerist begon-
nen hatte, für 77 Pfennig Stundenlohn, be-
sorgte als Betriebsratschef im Jahr 1958 ei-
ne Landesbürgschaft: Damit konnte er die
Umzugspläne der Audi-Geschäftsleitung
nach Nordrhein-Westfalen durchkreuzen.
Danach kämpfte der Sozialdemokrat wie
so viele dagegen, dass Audi zu einem blo-
ßen Anhängsel der Muttergesellschaft de-
gradiert werde. Audi, sagte er, könne viel
mehr sein als „das Werk 7 von VW“. Als
Böhm im Jahr 2013 starb, kamen alle da-
mals Wichtigen zu seinen Ehren in das
Liebfrauenmünster: Rupert Stadler, Mar-
tin Winterkorn und Ferdinand Piëch etwa.

Auch im Firmenmuseum wird derzeit
noch der Kampf um die Eigenständigkeit
zelebriert: Hinter schweren Vorhängen
steht da ein Modell des Audi 100. „Arbeit
im Untergrund“ ist die Erklärtafel dazu
überschrieben. Die Untergrundarbeit rich-
tete sich gegen die Konzernmutter. „Volks-
wagen hat zunächst kein besonderes Inter-
esse an eigenständigen Neuentwicklun-
gen“ aus Ingolstadt, beschreiben die Unter-
nehmenshistoriker die Audi-Geschichte.
Im Werk in Ingolstadt wird damals, in den
1960er Jahren, der VW-Käfer produziert.
Einige Ingenieure wollten sich damit
nicht zufrieden geben, sie entwickelten
deshalb im Geheimen, ohne Wissen der
Konzernmutter, aber wohl mit Unterstüt-
zung des Betriebsrates Böhm, das erste Au-
di-Modell seit Kriegsende, mit einem neu-
en leistungsfähigen, aber sparsamen Mo-
tor: eben den Audi 100. Nach einer Zitter-
partie segnete Volkswagen-Chef Heinrich

Nordhoff das Projekt ab, das ihm als „Ka-
rosserieänderung“ verkauft wurde. Der
Wagen wird die Grundlage des Aufstiegs
von Audi, bis hin zu einem Premiumher-
steller, dessen Produkte spätestens seit
dem Jahrtausendwechsel ebenbürtig sind
mit jenen von BMW und Mercedes.
Die Abgrenzung innerhalb des Kon-
zerns klappt bis jetzt gut – aus süddeut-
scher Sicht: Wir in Ingolstadt, das heißt es
immer noch, wenn man mit Entscheider-
menschen von Audi spricht. Stolz verwei-
sen die darauf, dass man ja ein richtiger
Konzern sei, dank der bei Audi angesiedel-
ten Marken Ducati und Lamborghini und
der Börsennotierung. Der wirtschaftliche

Erfolg in den ersten zehn Jahren der Ära
des Audi-Chefs Rupert Stadler ermöglich-
te solche Freiräume, deren Verwaltung na-
türlich auch Geld kostete.
Zur Frage, wieso nicht schon längst die
Anleger hinausgedrängt wurden, die sich
hinter den 0,36 Prozent Streubesitz verber-
gen, sagt Andreas Breijs, ein Rechtsanwalt,
der bislang für die Deutsche Schutzvereini-
gung für Wertpapierbesitz bei den jährli-
chen Audi-Hauptversammlungen gespro-
chen hat: „Bis zum Jahr 2015 war das eine
wunderbare Marketingveranstaltung. Da
konnte sich der Vorstand hinstellen und Er-
folge verkaufen.“ Seit 2015 hat sich das ge-
wandelt. Stundenlang werden seitdem der
Vorstand und der Aufsichtsrat – der sich

vor allem aus VW-Leuten zusammensetzt


  • von Aktionären ins Kreuzverhör genom-
    men, befragt, wer was wusste im Diesel-
    skandal, der im Herbst 2015 öffentlich wur-
    de. Er könne die Manager deshalb schon
    verstehen, sagt Anwalt Breijs, wenn die
    sich fragten: „Wieso tu ich mir das an?“
    Aber für die Anleger sei der Rückzug von
    der Börse „ein Albtraum“. Denn damit wer-
    de der Konzern noch intransparenter, wer-
    de noch mehr Macht in Wolfsburg gebün-
    delt. Die mangelnde Transparenz der Noch-
    Börsenfirma ist ein Grund für die große
    Krise bei Audi, die mittlerweile auch einen
    Stellenabbau nach sich zieht.
    Die Lesart in Wolfsburg ist indes eine
    ganz andere. „Angesichts der hohen Verän-
    derungsdynamik in der Industrie bündeln
    wir unsere Kräfte im Volkswagen-Kon-
    zern“, lässt sich VW-Konzernchef Herbert
    Diess zitieren. Tatsächlich sind die Heraus-
    forderungen durch neue Wettbewerber
    und neue Technologien so groß, dass eine
    Engführung aus Sicht anderer Kritiker
    Sinn ergibt. Eigentlich lehne man solche
    Enteignungen ab, sagt Daniel Bauer von
    der Schutzgemeinschaft der Kapitalanle-
    ger. Aber angesichts des so raschen Wan-
    dels in der Autoindustrie sei es nachvoll-
    ziehbar, dass der Konzern sich neu aufstel-
    le, mit einfacheren Strukturen, schnelle-
    ren Entscheidungen. Und ein bisschen Son-
    derweg bleibt Audi: In Ingolstadt soll künf-
    tig die Forschung des gesamten VW-Kon-
    zerns gebündelt werden. Vielleicht würde
    das sogar Fritz Böhm gefallen.


Hamburg–Neue Mobilität bringt auch
neue Vertriebswege, so stellt man sich das
zumindest bei Volkswagen vor. Das klassi-
sche Autohaus wird nach den Vorstellun-
gen des Konzerns in Zukunft deutlich an
Bedeutung verlieren – und das hat Folgen
für die Zahl der Arbeitsplätze im Vertrieb.
Etwa ein Fünftel der Vertriebsstellen in
Deutschland soll abgebaut werden, teilte
das Unternehmen mit. Bis Ende 2023 solle
die Zahl der Regionalstandorte von derzeit
sieben auf vier verringert werden. „Die Zu-
sammenarbeit mit dem Handel verändert
sich“, sagte VW-Vertriebsleiter Holger San-
tel. Künftig würden Online- und Direktver-
trieb eine größere Bedeutung bekommen.


Heißt konkret: Kunden sollen ihre Au-
tos in Zukunft über das Internet konfigurie-
ren und direkt bei Volkswagen bestellen
können. Was „20 Prozent“ in absoluten
Zahlen bedeutet, wie viele Stellen also kon-
kret von den Plänen betroffen sind, wollte
der Konzern auch auf Nachfrage nicht sa-
gen. Man werde die Jobs aber sozialverträg-
lich abbauen, hieß es – also durch Frühver-
rentung und Altersteilzeit. Kündigungen
seien nicht geplant.
Nach Angaben von Volkswagen sind die
Stellenstreichungen keine zusätzliche
Maßnahme, sondern Teil der schon länger
geplanten sogenannten „Roadmap Digita-
lisierung“, durch die in den kommenden
Jahren bis zu 4000 Jobs in der Verwaltung
wegfallen sollen. Im Gegenzug sollen 2000
neue Stellen im Bereich der Digitalisierung
entstehen.
Die Aufgaben der bislang sieben Ver-
kaufs- und Service-Regionen der Volkswa-
gen AG werden an den vier Standorten We-
demark (Nord), Köln (West), Ludwigsfelde
(Ost) und München (Süd) konzentriert. Mit
den Händlern hatte VW bereits Ende 2018
neue Verträge geschlossen, die auf das ver-
änderte Vertriebskonzept eingehen. Dem-
nach sollen die Autohäuser eine Anlaufstel-
le für die Kunden bleiben, auch wenn diese
die Autos künftig online bestellen können
und auch viele Services digital funktionie-
ren sollen – etwa das Update der Software
im Auto. Die Verträge für die neuen Elektro-
autos wie den ID.3, der von Sommer an aus-
geliefert werden soll, sehen laut VW-Händ-
lerverband vor, dass die Wagen online be-
stellt und vom Autohaus im Auftrag des
Herstellers ausgeliefert werden. VW rech-
net aber damit, dass auf absehbare Zeit vie-
le Kunden auch die traditionelle Variante
des Autokaufs bevorzugen und einen
Händler vor Ort aufsuchen werden.
Das Konzept von Volkswagen sieht vor,
Autobesitzern künftig eine digitale ID zu-
zuweisen, ähnlich wie die Apple-ID oder
das Googlekonto von Smartphone-Usern.
Autobesitzern soll es dann möglich sein,
das Auto digital zu managen, also Werk-
statttermine zu vereinbaren oder Updates
aufzuspielen. Derzeit kämpft VW aller-
dings mit der Entwicklung der Software –
mit Spannung wird beobachtet, ob der Aus-
lieferungstermin für den ID.3 im Sommer
eingehalten wird. angelika slavik


Würde man Jack Welch einen Top-Ma-
nager nennen, dann wäre das in etwa
so, als bezeichnete man Meryl Streep
als recht talentierte Schauspielerin. So
wie Streep nicht irgendeine Darstelle-
rin ist, war Welch nie nur ein einfacher
Unternehmenslenker. Er war der Mann,
der aus dem Industriebetrieb General
Electric (GE) den zeitweise wertvollsten
Konzern der Welt formte. Den das Maga-

zinFortunezum „Manager des Jahrhun-
derts“ wählte, und den man „Neutro-
nen-Jack“ nannte, weil er über die Jahr-
zehnte mehr als 100000 Mitarbeiter
feuerte, die sein Tempo – tatsächlich
oder vermeintlich – nicht mitgehen
konnten. Am Sonntag ist Welch im Alter
von 84 Jahren gestorben.
Der Nachfahre irischer Einwanderer,
der als Golf-Caddie und Zeitungsbote

sein erstes Geld verdient hatte, rückte
1981 an die Spitze bei GE. Es war jene
Zeit, als Ronald Reagan die Regierungs-
geschäfte in den USA übernahm und
mit seiner britischen Kollegin Margaret
Thatcher den westlichen Industrienatio-
nen ein gänzlich neues Wirtschaftskon-
zept überstülpte: ungezügelter Kapita-
lismus, freie, unregulierte Märkte, pu-
res, grenzenloses Profitstreben. Wenn

der neue US-Präsident der perfekte Ad-
ministrator einer solchen Politik war,
war Welch der ideale Exekutor: Er setz-
te das, was Reagan propagierte, im prak-
tischen Unternehmensalltag um. Wäh-
rend seiner 20-jährigen Regentschaft
bei General Electric verfünffachte sich
der Umsatz des Konzerns, der wie der
deutsche Konkurrent Siemens als eine
Art industrielles Kaufhaus beinahe al-

les anbot – von Glühbirnen über Kraft-
werke bis zu Finanzdienstleistungen.
Der Aktienkurs verdreißigfachte sich.
Der Doktor der Chemietechnik ver-
brachte sein ganzes Berufsleben bei Ge-
neral Electric, jener Industrie-Ikone, de-
ren Anfänge bis in die Zeit von Thomas
Edison zurückreichen, dem Erfinder
der Glühbirne. Welch machte rasch Kar-
riere und als er mit gerade einmal
45 Jahren die Konzernspitze erreichte,
war er der jüngste Vorstandschef in der
damals 90-jährigen Firmengeschichte.
Mit seinem harschen, gnadenlosen
Führungsstil gilt Welch bis heute als In-
begriff jener Dominanz und Markt-
macht, die GE in den Neunzigerjahren
erreichte. Er gab die Parole aus, das je-
der Unternehmensbereich zu einem der
Weltmarktführer auf seinem Feld auf-
steigen müsse. Sparten, denen das
nicht gelang, wurden verkauft. Alle Mit-
arbeiter wurden gedrängt, immer effizi-
enter zu arbeiten, alle Vorgesetzten wa-
ren in der Pflicht, Jahr für Jahr die am
wenigsten produktiven Beschäftigten
zu entlassen. Ehemalige Arbeitnehmer
berichten, Welch habe trotz seiner nicht
einmal 1,70 Meter Körpergröße und ei-
nes leichten Sprachfehlers selbst ge-
standene Manager eingeschüchtert.
2008 geriet die GE-Finanzsparte in
den Sog der Bankenkrise und brachte
damit den gesamten Konzern massiv
ins Wanken. Später wurden weitere teu-
re Hinterlassenschaften des 2001 ausge-
schiedenen Vorstandsvorsitzenden of-
fensichtlich. Welch jedoch machte stets
seinen Nachfolger Jeffrey Immelt für
die zahllosen Probleme und Umstruktu-
rierungen verantwortlich. Gegenüber
Freunden soll er gesagt haben, er gebe
sich für seine Arbeit als Konzernchef
die Note eins, aber eine Sechs für die
Wahl seines Kronprinzen. Welch hinter-
lässt seine Frau und vier erwachsene
Kinder. claus hulverscheidt

„Das Werk 7 von VW“


ÜberJahrzehnte mühten sich die Menschen in Ingolstadt, dass Audi eigenständig bleibt.
Nun haben sie den Kampf verloren, zumindest symbolisch. Die Autofirma wird Volkswagen komplett zugeschlagen

Der Gnadenlose


Harsch und extrem erfolgreich: GE-Legende Jack Welch ist tot


Im Verborgenen entwickelten
die Audianer ein eigenes Auto.
Gegen den Willen von VW

Beim Technologiewandel
müssten alle zusammenrücken,
argumentiert man in Wolfsburg

Die Kunden sollen im Internet


bestellen und den Termin in


der Werkstatt digital vereinbaren


DEFGH Nr. 52, Dienstag, 3. März 2020 (^) WIRTSCHAFT HF2 17
VW streicht
Jobs im Vertrieb
Konzern setzt in Zukunft auf
Autoverkauf über das Internet
Der Audi 100: Er war das erste Modell seit Kriegsende, mit einem leistungsfähigen, aber sparsamen Motor – und Grund-
lagefür die Eigenständigkeit des Autobauers vom Wolfsburger Mutterkonzern. FOTO: SVEN SIMON/IMAGO
Welch machte GE zum zeitweise wertvollsten Konzern der Welt. FOTO: REUTERS
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