Süddeutsche Zeitung - 03.03.2020

(Tina Sui) #1

Es ist eine traurige und zugleich so symbol-
trächtige Nachricht: Das erste offiziell
bestätigte Todesopfer der sich erneut an-
bahnenden Flüchtlingskrise an der tür-
kisch-griechischen Grenze ist ein Kind.
Wie die griechische Küstenwache am Mon-
tag bestätigte, starb es in einem Kranken-
haus auf der Insel Lesbos; alle Versuche,
das Kind wiederzubeleben, seien erfolglos
geblieben.
Der Darstellung der Behörde zufolge
hatte am Montagmorgen ein Schlauchboot
auf die Insel Lesbos zugesteuert, mit
48 Menschen an Bord. Als sie griechische
Hoheitsgewässer erreichten, hätten die In-
sassen das Boot absichtlich zum Sinken ge-
bracht und wurden von der griechischen
Küstenwache gerettet. Zwei Kinder, eines
davon bewusstlos, wurden zur Klinik ge-
fahren. Das bewusstlose Kind konnte nicht
gerettet werden, das andere ist inzwischen
außer Lebensgefahr.
Wenig später veröffentlichte die Küsten-
wache ein Video, das von dem Einsatz stam-
men soll. Man sieht ein überfülltes
Schlauchboot, eine männliche Stimme
brüllt mehrmals: „Go back!“ Und hinter
dem Schlauchboot fährt begleitend ein
Schiff der türkischen Küstenwache.
Vorausgesetzt, das Video ist echt, unter-
mauert es die schweren Vorwürfe, die die
Regierung in Athen der Türkei macht. Re-
gierungssprecher Stelios Petsas sagte am
Montag, Griechenland erlebe seit einigen
Tagen „massiven, organisierten und koor-


dinierten Druck aufgrund von Bevölke-
rungsbewegungen an seinen östlichen
Land- und Seegrenzen. Diese Bewegungen
werden gelenkt und animiert durch die
Türkei.“ Statt die Aktivitäten von Schlep-
pern zu unterbinden, wie im Abkommen
mit der EU festgeschrieben, sei die Türkei
„selbst zum Schlepper geworden“. Grie-
chenland werde jedenfalls unbeirrt sein
„souveränes Recht und seine verfassungs-
mäßige Pflicht ausüben, seine territoriale
Integrität zu schützen“.

Welche Mittel Griechenland dazu ein-
setzt, hat ein Fernsehteam der BBC doku-
mentiert. Die Aufnahmen der britischen
Reporter zeigen, wie vermummte Männer
nahe der Landgrenze zur Türkei Migran-
ten festnehmen und in einem Lieferwagen
ohne Nummernschilder wegbringen. Am
Grenzübergang bei der Ortschaft Kasta-
niés schossen griechische Sicherheitskräf-
te am Montag zum wiederholten Mal Trä-
nengasgranaten auf Migranten, die ver-
suchten, von der Türkei aus die Grenze zu
überqueren.
Unterdessen gibt der türkische Innenmi-
nister Süleyman Soylu in Manier eines
Nachrichtentickers per Twitter bekannt,
wie viele Menschen sich angeblich aufma-
chen, um die Türkei über die Grenzstadt
Edirne in Richtung Griechenland zu ver-
lassen: 47 113 Menschen am 29. Februar,
76 358 am 1. März, tags darauf 100 577, we-
nige Stunden später 117 677. Von Griechen-
land fordert Soylu, sich an die Asylgesetze

zu halten, insbesondere die Genfer Flücht-
lingskonvention, und die Asylanträge der
Menschen zu prüfen – unter besonderer
Beachtung der Menschlichkeit.
Laut UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR)
halten sich in der Türkei derzeit et-
wa 3,6 Millionen registrierte syrische
Flüchtlinge auf. Hinzu kommen etwa
400 000 Asylsuchende aus anderen Län-
dern. Damit ist die Türkei weltweit das
Land mit der größten Flüchtlingsbevölke-
rung. Mehr als 98 Prozent leben in städti-
schen und ländlichen Gebieten, lediglich
1,7 Prozent sind in vorübergehenden
Flüchtlingslagern untergebracht.
Gerade in den türkischen Grenzgebie-
ten gibt es kaum Familien, die keine Ver-
wandten in Syrien haben. Entsprechend
groß waren Sorge und Solidarität, als im
Nachbarland der Krieg ausbrach. Zu jener
Zeit bezeichnete Erdoğan die Flüchtlinge
allerdings auch noch als „muslimische Brü-
der und Schwestern“. In einer Studie der
Hacettepe-Universität in Ankara von 2015
heißt es: „Abgesehen von vereinzeltem ras-
sistischen Verhalten ist das Level der allge-
meinen sozialen Akzeptanz von Syrern in
der Türkei ungewöhnlich hoch.“ Schon da-
mals wiesen Forscher und Flüchtlingshel-
fer allerdings darauf hin, dass das vermut-
lich nicht ewig so bleiben werde, denn eine
wirkliche Vision für die Integration von
vier Millionen Flüchtlingen gab und gibt es
in der Türkei nicht. Die Forderungen reich-
ten bislang von türkischen Pässen für Sy-
rer bis hin zu Retortenstädten in Puffer-
zonen zwischen der Türkei und Syrien, um
die Flüchtlinge möglichst bald wieder los-
zuwerden.
Inzwischen gibt eine Mehrheit der Tür-
ken in Umfragen an, die Flüchtlinge seien

neben der Wirtschaftskrise das größte Pro-
blem. Übergriffe auf Flüchtlinge sind heu-
te an der Tagesordnung, in Istanbul etwa
fürchten Zehntausende Syrer, die sich dort
ein neues Leben aufgebaut haben, aus der
Stadt vertrieben zu werden. Die Anord-
nung, alle nicht registrierten Syrer müss-
ten die Stadt verlassen, kam im vergange-
nen Sommer von Süleyman Soylu. Ebenje-
nem Innenminister, der Griechenland nun
zu geordneten Asylverfahren und Humani-
tät gegenüber Flüchtlingen ermahnt.
Es kursieren Gerüchte, die türkische
Einwanderungsbehörde selbst karre
Flüchtlinge gegen Gebühr mit Bussen an
die Grenze. Die Behörde weist die Vorwür-
fe zurück. Die staatliche türkische Nach-
richtenagentur Anadolu Ajansı, ein Sprach-
rohr der Regierung, meldete, die Griechen
hätten einem Flüchtlingsboot den Sprit ab-
genommen und die Menschen in der Ägäis
dem Tod überlassen. Die türkische Küsten-
wache habe die Flüchtlinge gerettet.
Menschenrechtler kritisierten die Ent-
scheidung der griechischen Regierung
vom Sonntagabend, einen Monat lang kei-
ne neuen Asylanträge anzunehmen. Der
türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan
erklärte unterdessen: „Seit der Stunde, in
der wir unsere Grenzen geöffnet haben,
hat die Zahl derjenigen, die sich nach Euro-
pa aufmachen, mehrere Hunderttausend
erreicht. Und es werden noch mehr wer-
den. Bald wird man von Millionen spre-
chen.“ Zahlen der Internationalen Organi-
sation für Migration (IOM) hingegen las-
sen Erdoğans Äußerungen übertrieben er-
scheinen. Demnach hatten IOM-Mitarbei-
ter am Wochenende entlang der Landgren-
ze zu Griechenland etwa 13 000 Migranten
gezählt. deniz aykanat, tobias zick

A


ls Angela Merkel und Horst Seehofer
sich am Montag im Kanzleramt be-
gegneten, verweigerte der Innenmi-
nister der Regierungschefin den Hände-
druck. Da stellte sich kurz die Frage: Ist es
schon wieder so weit? Gibt es einmal mehr
ein Zerwürfnis zwischen Merkel und See-
hofer über die Flüchtlingspolitik, so wie
zuletzt 2018, als einige Tage lang sogar die
Fraktionsgemeinschaft von CDU und CSU
auf dem Spiel stand? Einstweilen kann
Entwarnung gegeben werden. Seehofer
schüttelt schon seit einigen Tagen wegen
der Verbreitung des Coronavirus keine
Hände mehr – und macht auch für die
Kanzlerin keine Ausnahme.
Was Merkel später zur Lage an der tür-
kisch-griechischen Grenze zu sagen hatte,
dürfte durchaus die Zustimmung See-
hofers finden. Mal ganz abgesehen davon,
dass er seit Monaten vor einer neuen
Flüchtlingskrise warnt. Merkel zeigte Ver-
ständnis für die zusätzlichen Belastungen
der Türkei durch weitere Flüchtlinge, die
wegen des Krieges aus Syrien ins Land
drängen. „Ich verstehe, dass die Türkei ge-
rade vor einer großen Aufgabe mit Blick
auf Idlib steht“, sagte sie. Der türkische Prä-
sident Recep Tayyip Erdoğan fühle sich
„derzeit nicht ausreichend unterstützt“.
Dennoch finde sie es „inakzeptabel“, dass
Erdoğan die Debatte über mehr Hilfe von
der Europäischen Union „auf dem Rücken
von Flüchtlingen“ austrage. Sie will am Ab-
kommen der EU mit der Türkei festhalten.
Auf die Frage, ob eine Grenzöffnung für sie
eine denkbare Option sei, ging sie gar nicht
ein. Für sie sei es „eine Option, mit der Tür-
kei zu sprechen“, um wieder zum alten Zu-
stand zurückzukehren. Anders hätte das
Seehofer auch nicht gesagt.
Die CDU befindet sich ohnehin im Kri-
senmodus, eine neue Flüchtlingskrise trä-
fe sie im denkbar schlechtesten Moment.
Denn bei diesem belasteten Thema vertre-
ten Armin Laschet und Friedrich Merz, die
beiden Hauptkontrahenten in dem ohne-
hin komplizierten Wettstreit um den Par-
teivorsitz, ganz unterschiedliche Schulen.
Laschet verteidigt im Großen und Ganzen
Merkels damaligen Kurs, Merz vertritt vor
allem bei der Frage, ob man als Ultima Ra-
tio auch die Grenze streng kontrollieren
müsse, eine andere Linie.

Angesichts dessen kann es kaum ver-
wundern, dass von Laschet am Montag
zunächst wenig zu hören war, während
Merz schon zur Frühstückszeit eine klare
Botschaft aussendete. Im MDR forderte er
ein „Signal an die Flüchtlinge“. Ihnen müs-
se man klar sagen und zeigen, dass es für
sie „keinen Sinn hat, nach Deutschland zu
kommen“. Die Botschaft müsse sein: „Wir
können euch hier nicht aufnehmen.“ Merz
fasste das in eine breitere Argumentation
ein. Was derzeit an der türkisch-griechi-
schen Grenze geschehe, sei „zunächst ein-
mal eine große humanitäre Katastrophe“.
Die Bundesrepublik solle helfen, „viel-
leicht auch mehr helfen, als sie es bisher ge-
tan hat“. Aber Merz weiß natürlich, dass ei-
ne ähnliche Zuspitzung der Krise wie 2015
seinem internen Konkurrenten Laschet be-
sonders wehtun dürfte.
Was damals geschah, das darf 2020
nicht noch einmal passieren. Da sind sich
fast alle einig im Berliner Regierungsvier-
tel. Allerdings gibt es unterschiedliche Les-
arten dessen, was genau sich nicht wieder-
holen dürfe. Deutlich wird das auch am Bei-

spiel der Grünen. Auch sie zwingt die aktu-
elle Lage zu rhetorischen Anstrengungen.
Einerseits sieht die Partei sich als Wahre-
rin humanitärer Grundsätze. Andererseits
haben grüne Spitzenpolitiker wie Robert
Habeck immer wieder deutlich gemacht,
dass ungebremste Masseneinwanderung


  • etwa im Fall einer Klimakatastrophe – de-
    mokratische Systeme überfordern könnte.
    Am Montag trug Annalena Baerbock in
    Berlin also ein beherztes Einerseits-ande-
    rerseits vor. Die Grünen-Chefin, die am
    Wochenende auch gefordert hatte,
    Deutschland müsse Kapazitäten in Flücht-
    lingsunterkünften aktivieren, betonte nun
    immer wieder Ordnung und Humanität –
    ein Zweiklang, den man bisher vor allem
    von Horst Seehofer kannte. Die EU-Grenze
    dürfe nicht unkontrolliert geöffnet wer-
    den, sagte Baerbock. Gleichzeitig seien
    aber mehr „Kontrolle und eine Registrie-
    rung“ nötig. Dies gehe nicht ohne geöffne-
    te Kontrollposten an der Grenze.


Aber auch die Versprechen der EU müss-
ten jetzt eingelöst werden, sowohl bei der
Zahlung von Hilfsgeld als auch bei der
Übernahme von Kontingenten Geflüchte-
ter. Deutschland habe zugesagt, aus Grie-
chenland 27 000 Menschen aufzunehmen,
bei 10 000 Personen aber habe man ge-
stoppt. Dies müsse nachgeholt werden.
Wie schwer sich auch die SPD mit die-
ser Krise tut, zeigte der Auftritt der Co-Vor-
sitzenden Saskia Esken nach der Sitzung
der Parteigremien. Von sich aus kam Es-
ken gar nicht auf das Thema zu sprechen.
Dabei hatte es in den Sitzungen viel Ge-
sprächsbedarf gegeben. Die Lage für
Flüchtlinge etwa auf Lesbos ist seit Jahren
so, dass sich viele Sozialdemokraten dafür
schämen, wie Europa an seinen Außen-
grenzen mit ihnen umgeht. Esken nennt
die Zustände an den Stacheldrähten vor
Griechenland unverantwortlich. Sie be-
nennt aber Erdoğan als Verantwortlichen
für diese Situation. Das EU-Türkei-Abkom-
men müsse eingehalten werden, und
Grenzübertritte dürften „wenn, dann allen-
falls kontrolliert“, zugelassen werden.
Esken will am Sonntag im Koalitionsaus-
schuss durchsetzen, dass Deutschland
unbegleitete Kinder aus den überfüllten
Lagern auf den griechischen Inseln auf-
nimmt. Diese Kinder „lebten in großer
Angst und Not“. Es geht um schätzungswei-
se 500 bis 1000 Kinder im Alter bis 14 Jah-
re. Esken geht davon aus, dass da nicht alle
EU-Länder mitmachen, deshalb müsse ei-
ne solche Aktion notfalls von einer „Solida-
rität der wenigen“ getragen werden.
Die AfD, deren Spitze nach der rechten
Gewalt von Hanau vor einer Woche selbst
noch zur Mäßigung aufgerufen hatte, ver-
schärfte die Diskussion um die Migration
postwendend wieder. Parteichef Jörg
Meuthen forderte, dass Deutschland seine
Grenzen für Migranten schließt. „Grie-
chenland und Bulgarien müssen von uns
volle finanzielle und logistische Unterstüt-
zung für den erforderlichen robusten
Außengrenzenschutz erhalten“, schrieb er
auf Facebook. Als „zweiter Sperrriegel“
müssten „Schutzvorkehrungen“ an den
deutschen Grenzen getroffen werden. Hin-
ter der martialischen Wortwahl steckt das
Kalkül von Teilen der AfD-Führung, dass
die Partei in einer neuen Debatte um offe-
ne Grenzen ihre zuletzt schwachen Wahler-
gebnisse wieder verbessern kann.
bohe, lion, nif, mbal, msz, steb

Eigentlich sollte diese Woche in Brüssel
ganzanders ablaufen. Am Mittwoch will
die EU-Kommission ihr Klimagesetz be-
schließen, Ursula von der Leyen hatte die
Klimaaktivistin Greta Thunberg persön-
lich ins Berlaymont-Gebäude eingeladen.
Auch im Kampf gegen das Coronavirus
und dessen Folgen für Europas Bürger und
Volkswirtschaften wollte die oberste EU-
Behörde ein Zeichen setzen. Gleich mit
fünf Kommissaren und Kommissarinnen
präsentiert von der Leyen im „Zentrum für
die Koordination von Notfallmaßnahmen“
das neue „Corona Response Team“.


Doch über dem Kopf der Kommissions-
präsidentin flimmern auf vier riesigen Mo-
nitoren in den Live-Schalten der Nachrich-
tensender jene Bilder, die viele Bürger zwi-
schen Athen und Aarhus seit Samstag in
Atem halten und im Brüsseler Europavier-
tel für Nervosität und unzählige Telefona-
te gesorgt haben. Zu sehen sind Menschen,
die von der Türkei nach Griechenland und
damit in die EU gelangen wollen – und an
der Grenze von Polizisten und Soldaten


mit Tränengas gestoppt werden. Als krisen-
gestählter Medienprofi, der die Macht der
Bilder kennt, nutzt von der Leyen die Pres-
sekonferenz für eine Botschaft der Solidari-
tät: „Die Herausforderung, der Griechen-
land jetzt gegenübersteht, ist eine euro-
päische Herausforderung.“ Gleiches gelte
für Bulgarien, an dessen Grenze die Türkei
seit Samstag ebenso wenig kontrolliert.
Und auch in Richtung Ankara schickt sie
ein klares Signal. Allen in der EU sei be-
wusst, dass sich die Türkei mit Blick auf Mi-
granten und Flüchtlinge in einer schwieri-
gen Lage befinde und seit Jahren Millionen
Syrer versorge und beherberge. „Aber was
wir jetzt sehen, kann nicht die Antwort
oder Lösung sein“, sagte von der Leyen be-
stimmt, um dem türkischen Präsidenten
Recep Tayyip Erdoğan klarzumachen: Er-
pressen lässt sich die EU nicht. Man sei be-
reit, den Dialog „auf allen politischen Ebe-
nen zu intensivieren“, um etwa zu klären,
wo Unterstützung gebraucht werden könn-
te, „wissend, dass wir ein geltendes Abkom-
men haben“, sagt sie und meint jenen Deal,
den die EU im Winter 2016 mit Ankara
geschlossen hat. Den Vorwurf Erdoğans,
Brüssel breche seine Versprechen, erbost
EU-Diplomaten. Drastisch formuliert es
der niederländische Premier Mark Rutte,
der das Abkommen damals als Ratspräsi-

dent vorangetrieben hat: Europa werde
nicht mit „dem Messer an der Kehle“ ver-
handeln. Rutte wirft Erdoğan vor, das
Schicksal der Flüchtlinge für seine eigenen
politischen Ziele zu missbrauchen.

Das Abkommen zwischen Türkei und
EU sah vor, dass sich Ankara verpflichtet,
von einem bestimmten Tag an alle syri-
schen Flüchtlinge aus Griechenland zu-
rückzunehmen. Verabredet wurde auch,

dass die EU für jeden von Griechenland in
die Türkei zurückgeführten Syrer je einen
Syrer direkt aus der Türkei aufnimmt. Die
Grenzen zu Griechenland sollte die Türkei
geschlossen halten. Als Gegenleistung für
Ankara versprach die EU, den Beitritts-
prozess wiederzubeleben. Daraus wurde
nichts, viele EU-Länder schließen einen
Beitritt der Türkei inzwischen vehement
aus. Wegen rechtsstaatlicher Bedenken
scheiterte auch der Plan, die Visumspflicht
für türkische Bürger aufzuheben. Auch die
Zollunion wurde nicht wie geplant libe-
ralisiert. Allerdings erhielt die Türkei
sechs Milliarden Euro zugesprochen – je-
doch nicht direkt, sondern über Nichtregie-
rungsorganisationen. Nun fordert Erdo-
ğan mehr und zwar an seine Regierung.

Als Zeichen der Unterstützung wird von
der Leyen am Dienstag mit EU-Ratspräsi-
dent Charles Michel und David Sassoli,
dem Präsidenten des EU-Parlaments, in
Griechenland mit Premier Kyriakos Mitso-
takis sprechen und die Grenze zur Türkei
besuchen. Die europäische Grenzschutz-

agentur Frontex ist bereit, Athen mit einer
„schnellen Eingreiftruppe“ zu helfen.
Ansonsten wurden in Brüssel auch Vor-
schläge vom Wochenende formalisiert. So
berieten die Botschafter der Mitgliedstaa-
ten über den Wunsch des EU-Außenbeauf-
tragten Josep Borrell, eine Sondersitzung
der EU-Außenminister abzuhalten. Für
Borrell sind die Kämpfe in und um Idlib „ei-
ne ernsthafte Bedrohung für den internati-
onalen Frieden und Auslöser von unendli-
chem Leid“. Da sich die Außenminister von
Donnerstag an ohnehin in Zagreb treffen,
ist eine Lösung schnell gefunden: Der infor-
melle Teil wird verkürzt, so dass die Minis-
ter am Freitag über Syrien sprechen kön-
nen. Dank einer Sonderregelung wäre es
auch möglich, dort Beschlüsse zu fassen (ei-
gentlich ist dies nur bei Sitzungen in Brüs-
sel oder Luxemburg möglich). Die Innenmi-
nister kommen am Mittwoch in Brüssel zu
einer Sondersitzung zusammen, teilte EU-
Kommissar Margaritis Schinas mit.
Im EU-Krisenzentrum ist die Lage an
den Außengrenzen übrigens nicht nur auf
den Fernsehern angekommen. Auf einer
Tafel in der Ecke steht unter der Über-
schrift „Morgendliche Sitzung“ neben Co-
ronavirus auch dies hier: „Migrationsbewe-
gung / Grenze Türkei und Griechenland“.
thomas kirchner, matthias kolb

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 sz.de/nachrichtenpodcast

2 HMG (^) THEMA DES TAGES Dienstag,3. März 2020, Nr. 52 DEFGH
Rutte: Europa wird nicht
mit „dem Messer
an der Kehle“ verhandeln
Die Spielarten
des Nein
2015 dürfe sich nicht wiederholen, darin ist man sich in Berlin
noch einig. Umstritten aber ist: Was heißt das nun konkret?
Der EU-Außenbeauftragte
Borrell setzt eine Sondersitzung
der Außenminister an
Nach türkischen Regierungsangaben sind mehr als 100 000 unterwegs: Flüchtlinge am griechischen Grenzzaun in Kastaniés bei Edirne. FOTO: SAKIS MITROLIDIS/AFP
Esken fordert die Einhaltung des
EU-Türkei-Abkommens – und
die Aufnahme von Kindern
Unter den Augen der Grenzschützer: Flüchtlinge auf dem Weg nach Lesbos, im Hin-
tergrund ein Schiff der EU-Grenzschutzbehörde Frontex. FOTO: MICHAEL VARAKLAS / AP
Doppel-Botschaft an Erdoğan
EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen zeigt sich hilfsbereit, will sich aber nicht von Ankara erpressen lassen
Friedrich Merz verlangt
ein klares Stoppsignal
an die Flüchtlinge
Insgesamt hat die Türkei
etwa vier Millionen
Menschen aufgenommen
FlüchtlingskriseDieEU-Kommission spricht von einer „europäischen Herausforderung“, die Bundesregierung nennt
die Lage an der griechischen Grenze „sehr beunruhigend“. Innerhalb weniger Tage ist ein Problem zurück auf der Agenda, das nie weg war,
aber lange wenig beachtet wurde: das Schicksal von Hunderttausenden in der Türkei, die unbedingt in die EU wollen
Endstation Stacheldraht
Die türkische Regierung ermuntert Flüchtlinge, zur Grenze zu ziehen. Dort aber empfangen die Griechen sie mit Tränengas

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