Süddeutsche Zeitung - 03.03.2020

(Tina Sui) #1
Hinter Stella Kyriakides liegen anstren-
gendeTage, und ein Ende des Krisenmo-
dus ist nicht in Sicht. Als EU-Gesundheits-
kommissarin ist die Christdemokratin
aus Zypern dafür zuständig, in Brüssel
den Kampf gegen das Coronavirus zu ko-
ordinieren. Seit Italien einige Orte unter
Quarantäne gestellt hat, ist Kyriakides da-
mit beschäftigt, die Mitgliedstaaten zu ei-
ner engen Zusammenarbeit aufzufordern
und die Europäerinnen und Europäer da-
vor zu warnen, in Panik zu verfallen.
Mit dem für Krisenmanagement zu-
ständigen EU-Kommissar Janez Lenarčič
arbeitet Kyriakides federführend im neu-
en „Corona Response Team“, das Ursula
von der Leyen am Montag vorgestellt hat.
Die Botschaft im Zentrum für die Koordi-
nation von Notfallmaßnahmen: Die Situa-
tion mag sich „sehr schnell ändern“, aber
bei der EU-Kommission laufen alle Infor-
mationen zusammen. Und da „Viren eben
keine Grenzen kennen“, wie Experten seit
Wochen wiederholen, kommt der stets ele-
gant gekleideten 63-Jährigen eine Schlüs-
selrolle zu. An der Seite ihrer Chefin kün-
digte sie an, bis zum Sondertreffen am
Freitag mit allen Gesundheitsministern
zu sprechen, um den Stand der nationa-
len Vorsorgepläne abzufragen, damit Pro-
bleme erkannt und Hilfe organisiert wer-
den können. Den Familien der 38 nach
einer Corona-Infektion verstorbenen EU-
Bürgern sprach sie ihr Beileid aus.
Ihre ruhige Art, ihr souveränes Auftre-
ten und ihr makelloses Englisch verstär-
ken den Eindruck, dass Kyriakides für
ihre schwierige Aufgabe gut gerüstet ist.
Gesundheitspolitik ist Sache der Mitglied-
staaten, die Kommission agiert also vor
allem als Vermittlerin. „Wir können Best-
Practice-Beispiele ausmachen und dabei

helfen, dass andere Länder davon lernen“,
sagte sie Ende Januar. Dieser Ansatz ist
auch im Kampf gegen das Coronavirus
vielversprechend. Genügend Fachkennt-
nisse besitzt Kyriakides, die Klinische Psy-
chologie in Großbritannien studiert und
fast drei Jahrzehnte im Gesundheits-
ministerium in Nikosia gearbeitet hat.
Nach einem mehrtägigen Aufenthalt in
Rom und vielen Gesprächen mit Italiens
Behörden sowie der Weltgesundheitsorga-
nisation (WHO) ist Kyriakides nun zurück
in Brüssel, wo sie große Wertschätzung
genießt. Im Europaparlament stimmte
im Oktober nach ihrer Anhörung nur die

rechte Fraktion „Identität und Demokra-
tie“, zu der die AfD gehört, gegen sie.
Eigentlich hatte Ursula von der Leyen
der Zyprerin als wichtigste Aufgabe den
„Masterplan für die Bekämpfung gegen
Krebs“ in ihren Mission Letter geschrie-
ben, also in jene To-do-Liste, die alle Kom-
missare erhalten. Für bessere Aufklärung
und mehr Investitionen in die Forschung
gegen diese Krankheit kämpft Kyriakides
mit Leidenschaft und aus eigener Betrof-
fenheit: An ihrem 40. Geburtstag wurde
bei ihr Brustkrebs diagnostiziert, später
kam der Tumor zurück. Zuvor war ihre
Mutter an Brustkrebs gestorben. Von
2004 bis 2006 setzte sie sich als Präsiden-
tin von „Europa Donna“, einem Verbund
an Selbsthilfeorganisationen, für bessere
Früherkennung ein. „Die persönlichen
Erfahrungen können ein Motor sein, um
politisch etwas zu bewirken“, sagte Kyria-
kides am Weltkrebstag im EU-Parlament.
Sie hatte 2006 die Seiten gewechselt und
erfolgreich fürs Parlament kandidiert. Po-
litische Erfahrung sammelte sie auch in
der Parlamentarischen Versammlung des
Europarats, der auch die Ukraine, Armeni-
en oder Aserbaidschan angehören und in
der es vor allem auf Dialog ankommt.
Einen Aspekt vergisst Kyriakides bei
allen Auftritten rund um Covid-19 nie: Sie
bittet die Bürger, den Behörden zu ver-
trauen und warnt davor, auf Desinformati-
onskampagnen hereinzufallen. Sensibili-
siert für diese Gefahr wurde sie unter an-
derem durch die im Internet sehr aktive
Szene der Impfgegner.
Im Kampf gegen das Coronavirus weiß
die Gesundheitsexpertin, was jeder Ein-
zelne tun kann: Hygienevorschriften ein-
halten, regelmäßig die Hände waschen –
und Ruhe bewahren. matthias kolb

HERAUSGEGEBEN VOM SÜDDEUTSCHEN VERLAG
VERTRETEN DURCH DEN HERAUSGEBERRAT
CHEFREDAKTEURE:
Kurt Kister, Wolfgang Krach
NACHRICHTENCHEFS:
Iris Mayer, Ulrich Schäfer
AUSSENPOLITIK:Stefan Kornelius
INNENPOLITIK:Detlef Esslinger (komm.)
SEITE DREI:Alexander Gorkow; Karin Steinberger
INVESTIGATIVE RECHERCHE:Bastian Obermayer,
Nicolas RichterKULTUR:Andrian Kreye, Sonja Zekri
WIRTSCHAFT: Dr. MarcBeise
SPORT: Klaus Hoeltzenbein WISSEN: Dr.Patrick Illinger
PANORAMA:Felicitas Kock, Michael Neudecker
GESELLSCHAFT UND WOCHENENDE:Christian Mayer,
Katharina RiehlMEDIEN:Laura Hertreiter
REISE, MOBILITÄT, SONDERTHEMEN:Peter Fahrenholz
MÜNCHEN, REGION UND BAYERN:Nina Bovensiepen,
René Hofmann; Sebastian Beck, Ingrid Fuchs,
Karin Kampwerth, Stefan Simon
ARTDIRECTOR:Christian Tönsmann; Stefan Dimitrov
BILD:Jörg Buschmann
CHEFS VOM DIENST: Fabian Heckenberger, Michael König
Die für das jeweilige Ressort an erster Stelle Genannten
sind verantwortliche Redakteure im Sinne des Gesetzes über
die Presse vom 3. Oktober 1949.
ANSCHRIFT DER REDAKTION:
Hultschiner Straße 8, 81677 München, Tel. (089) 21 83-0,
Nachtruf: 21 83-77 08, Nachrichtenaufnahme: 21 83-481,
Fax 21 83-97 77, E-Mail: [email protected]
BERLIN:Nico Fried; Robert Roßmann,
Cerstin Gammelin (Wirtschaft), Französische Str. 48,
10117 Berlin, Tel. (0 30) 26 36 66-
LEIPZIG:Ulrike Nimz, Hohe Straße 39,
04107 Leipzig, Tel. (0 341) 99 39 03 79
DÜSSELDORF:Christian Wernicke, Bäckerstr. 2,
40213 Düsseldorf, Tel. (02 11) 54 05 55-
FRANKFURT:Meike Schreiber,Kleiner Hirschgraben 8,
60311 Frankfurt,Tel. (0 69) 2 99 92 70
HAMBURG:Peter Burghardt, Poststr. 25,
20354 Hamburg, Tel. (0 40) 46 88 31-
KARLSRUHE: Dr.Wolfgang Janisch, Sophienstr. 99,
76135 Karlsruhe, Tel. (07 21) 84 41 28
STUTTGART:Stefan Mayr, Rotebühlplatz 33,
70178 Stuttgart, Tel. (07 11) 24 75 93/
HERAUSGEBERRAT:
Dr. Johannes Friedmann (Vorsitz);
Dr. Richard Rebmann, Dr. Thomas Schaub
GESCHÄFTSFÜHRER:
Stefan Hilscher, Dr. Karl Ulrich
ANZEIGEN:Jürgen Maukner (verantwortlich),
Anzeigenaufnahme: Tel. (0 89) 21 83-10 10
ANSCHRIFT DES VERLAGES:Süddeutsche Zeitung GmbH,
Hultschiner Straße 8, 81677 München, Tel. (0 89) 21 83-
DRUCK:Süddeutscher Verlag Zeitungsdruck GmbH,
Zamdorfer Straße 40, 81677 München

B


enjamin Netanjahu war der Haupt-
verantwortliche für diesen Wahl-
kampf, der zur Schlammschlacht
wurde, und es hat sich für ihn gelohnt.
Nach dem Motto, dass schon irgendetwas
hängen bleiben wird, hat die Likud-Partei
eine Kampagne gegen Herausforderer
Benny Gantz gefahren – mit Sex, Lügen, ei-
nem gehackten Handy und heimlich auf-
genommenen Tonbandaufnahmen.
Das hat Verunsicherung ausgelöst, bei
den Wählern und bei Gantz selbst. Im drit-
ten Wahlkampf wirkte er oft nicht mehr
souverän. Der ehemalige Generalstabs-
chef der Armee geriet in die Defensive
und musste sich verteidigen, statt dass er
seinen Konkurrenten angreifen konnte.


Seine Taktik, sich weiter rechts zu positio-
nieren, ging nicht auf. Da bleibt man lie-
ber beim Original statt bei der Kopie.
Netanjahu hat gekämpft und gewon-
nen – zumindest vorläufig. Er konnte bes-
ser mobilisieren. Seinen Kampf ums politi-
sche Überleben wird er nun vor Gericht
fortsetzen. Netanjahu ist der erste Minis-
terpräsident des Landes, der angeklagt
ist. Für viele Israelis waren aber nicht ein-
mal die Korruptionsanklagen Grund ge-
nug, ihm das Vertrauen zu entziehen. Sie
wollen ihn, und nur ihn. Der Preis für Ne-
tanjahus Wahlerfolg im dritten Anlauf ist
ein gespaltenes Land und eine politische
Kultur, für die sich sogar der Präsident
schämt. alexandra föderl-schmid

von stefan kornelius

S


eit Beginn der Flüchtlingskrise
2015 haben Europa und besonders
Deutschland sehr viel politische
Energie und Geld aufgewendet, um die
Migrationsdramen vor der eigenen Haus-
tür zu lindern. Nun scheint die Mühsal zu
verpuffen. Der Krieg in Syrien ist stärker,
und gnadenlos ist die Bereitschaft der
Kriegsherren, die Todesangst von Zivilis-
ten für ihre Ziele zu instrumentalisieren.
Drei Botschaften sollten in diesen
knapp fünf Jahren angekommen sein:
Erstens löst eine große Flüchtlingsbewe-
gung massiven und gefährlichen innen-
politischen Widerstand in den Staaten
der EU aus; das kann Demokratien desta-
bilisieren. Zweitens wird es in Europa so
schnell keine einheitliche Regelung für
die Aufnahme und schon gar nicht für die
Verteilung von Flüchtlingen geben. Und
drittens wird die EU noch so viel weiße
Salbe verteilen können – jede Vertrei-
bung und jede freiwillige Migration hat ih-
re Ursache, ihre Urheberschaft. So lange
die nicht beseitigt ist, wird es zu einer Be-
friedung nicht kommen können.
Indirekt wird Europa so zur Kriegspar-
tei gemacht: vom türkischen Präsiden-
ten, der nun einen gewaltigen Preis zahlt
für seine Schaukelpolitik zwischen Nato
und Russland, und von der syrischen
Kriegsfraktion, wo der russische Präsi-
dent seine Hand über den Schlächter von
Damaskus hält und sich selbst schwerer
Kriegsverbrechen mitschuldig macht.
Nachdem sich die USA schon unter Ba-
rack Obama aus der Verantwortung ver-
abschiedet haben, bleibt der EU wie vor
fünf Jahren nur die Wahl, ob sie Zuschaue-
rin und indirekt ein Opfer dieses Krieges
sein will – oder ob sie sich ihrer Kraft be-
sinnt und eingreift. Verhandlungsdiplo-
matie, Gipfeltreffen und Mahnungen wer-
den nicht nur von den Einwohnern auf
Lesbos oder Samos, wo die Flüchtlinge an-

kommen, als zynische Leisetreterei emp-
funden. Es sind die Flüchtlinge aus Idlib
und der syrischen Grenzregion, die mit ih-
ren Füßen das Urteil sprechen: Millionen
machen sich aus Furcht vor dem Assad-
Regime und den russischen Bombern auf
den Weg. Sie werden am türkischen
Grenzzaun stehen, im Rücken den Tod
und vor sich den Stacheldraht. Diese Bil-
der darf Europa nicht ertragen.
Die Europäische Union muss also
schleunigst ihre Instrumente sortieren,
mit denen sie in diesen Krieg eingreifen
kann. Russland und die Türkei sind wirt-
schaftlich abhängig und verletzlich. Die-
ser Hebel muss nun angesetzt werden,

um Wladimir Putin zur Einsicht und Re-
cep Tayyip Erdoğan zur Vernunft zu zwin-
gen. Einsicht bedeutet: Nur wenn Russ-
land eine neue syrische Ordnung schafft,
wenn Baschar al-Assad vom Diktatoren-
Schemel gestoßen wird und das Gemet-
zel ein Ende findet, dann wird der Exodus
aus Syrien gestoppt sein. Die humanitä-
ren Verbrechen in Syrien zwingen Europa
geradezu, den ökonomischen, aber auch
rechtlichen Bann auf die Mittäter auszu-
weiten. Dokumente für ein Kriegsverbre-
chertribunal sind längst gesammelt.
Vernunft auf Seiten Ankaras hieße: Als
Nachbarland wird die Türkei noch lange
mit der Last der Vertriebenen leben müs-
sen, aber dafür muss Erdoğan alle erdenk-
liche Hilfe angeboten werden. Die Idee ei-
ner internationalen Schutzzone war über-
hastet geboren und lausig geplant wor-
den. Schlecht war sie deshalb noch lange
nicht. Freilich muss sich auch die Türkei
bekennen, auf welcher Seite sie in diesem
Krieg steht. Am Donnerstag in Moskau
kann Erdoğan für Klarheit sorgen.

von henrike roßbach

E


s ist ein weit verbreiteter Reflex, For-
derungen postwendend mit der Ge-
genforderung abzuwehren, dass
derjenige, der da irgendwas von einem
will, doch bitte schön erst einmal vor der
eigenen Türe kehren respektive sich an
die eigene Nase fassen soll. Bundesfrauen-
ministerin Franziska Giffey und Justizmi-
nisterin Christine Lambrecht wollten sich
auf solche Diskussionen gar nicht erst ein-
lassen und haben deshalb in ihren Gesetz-
entwurf für mehr Frauen in Führungsposi-
tionen nicht nur strengere Regeln für die
Privatwirtschaft hineingeschrieben, son-
dern gleich auch den Bund mit in die
Pflicht genommen.
In Unternehmen, die dem Bund gehö-
ren, sollen bis 2025 die Hälfte aller Füh-
rungspositionen mit Frauen besetzt sein;
also etwa im Vorstand der Bahn, in dem ja
immerhin zwei von sieben Mitgliedern
Frauen sind, oder bei der Flugsicherung.
Diejenigen, die strengere staatliche Vorga-
ben für mehr Frauen in Führungspositio-
nen grundsätzlich für falsch halten, wird
das allerdings nicht verstummen lassen.
Dass der Gesetzentwurf der beiden SPD-
Ministerinnen so lange im Kanzleramt
festhing, zeigt ja, wie groß allein schon die
Gegenwehr in der Union ist. Was denen,
die das Vorhaben ablehnen, besonders un-
verdaulich erscheint, ist das „Mindestbe-
teiligungsgebot“. Das klingt zwar beschei-
dener als „Frauenquote“. Ist es aber nicht.
Giffey und Lambrecht wollen nämlich
nicht nur durchsetzen, dass die feste Frau-
enquote für Aufsichtsräte künftig in deut-
lich mehr Firmen gilt. Sie wollen auch,
dass in Vorständen bedeutender Konzerne
mindestens eine Frau im Vorstand sitzt,
wenn das Gremium mehr als drei Mitglie-
der hat. Das sei ja wohl keine Menschen-
rechtsverletzung, hält Giffey den Gegnern
ihres Vorhabens gerne entgegen. Damit
hat sie zwar recht, ein Eingriff in die unter-

nehmerische Freiheit, wie sie bislang ver-
standen wird, ist es dennoch. Die Frage al-
so lautet: Muss das sein? Ja, leider. Denn
allzu viele Firmen haben es immer noch
nicht drauf, ihr Wissen um die Bedeutung
divers zusammengesetzter Teams und ihr
Wissen um die Vorstellungen von einer
modernen Arbeitswelt, die viele Männer
und Frauen heutzutage haben, in eine Per-
sonalpolitik mit Fortschritten oberhalb
des Nachkommabereichs umzusetzen.

Die Zahlen sind deprimierend und zei-
gen, dass viele Unternehmen sich nur be-
wegen, wenn sie müssen: Wo die Auf-
sichtsratquote gilt, sitzen 30 Prozent oder
mehr Frauen in den Kontrollgremien, wo
sie nicht gilt: eben nicht. Der Frauenanteil
in den Vorständen steigt, aber in einem
Tempo, das nur eine Rennschnecke als
Bestzeit verkaufen könnte. Und die win-
delweiche Vorgabe, sich wenigstens Ziele
für mehr Frauen in Führung zu setzen,
reizt eine erschütternd große Zahl Firmen
mit dem Ziel von null Frauen aus.
Mehr Frauen dort, wo die Luft dünn
und die Macht groß ist, werden keines-
wegs sämtliche Gleichberechtigungsdefi-
zite in der Breite der Gesellschaft wie von
Zauberhand verschwinden lassen. Oben
aber wird entschieden, wie man es von un-
ten nach oben schafft. Frauen an der Spit-
ze sind Vorbild und Ermutigung für ande-
re Frauen. Vor allem aber geht es darum,
dass männliche Karrieren nach männli-
chen Spielregeln nicht mehr die alleinige
Norm sind. All das, was Karriere für Frau-
en und damit auch für Mütter möglich
macht, verlangt eine veränderte Unterneh-
menskultur. Die aber wird es nicht geben,
wenn sich nichts ändert. Ja, das ist an-
strengend. Aber es steht den Frauen zu.

I


mmerhin eins ist nach Plan gelaufen
in Erfurt: Die CDU-Landtagsfraktion
hat erstaunlich geeint Hochschulpro-
fessor Mario Voigt an die Spitze gewählt.
Als Chef-Unterhändler seiner Partei hatte
er jenen Deal ermöglicht, der den Linken
Bodo Ramelow erneut zum Minis-
terpräsidenten machen und der Union
schnelle Neuwahlen ersparen soll.
Für das Land Thüringen schien das ei-
ne gute Nachricht, weil es eine komplikati-
onslose Wahl Ramelows und damit das
Ende einer monatelangen Hängepartie et-
was wahrscheinlicher macht. Komplikati-
onslos, das hieß bislang: Mindestens vier
Abgeordnete rebellieren heimlich gegen
das selbst auferlegte Kooperationsverbot


und liefern anderslautenden Ankündigun-
gen zum Trotz die Stimmen, die Rot-Rot-
Grün zur Mehrheit fehlen.
Doch komplikationslos ist nichts mehr,
seit die AfD mit Björn Höcke einen ei-
genen Kandidaten aufgestellt hat. So will
sie das bürgerliche Lager des Wortbruchs
überführen. CDU und FDP werden am
kommenden Mittwoch Farbe bekennen
müssen. Zur Erinnerung: Schon bei der
Ministerpräsidentenwahl Anfang Febru-
ar bekam der AfD-Kandidat im ersten
Wahlgang drei Stimmen mehr als die Frak-
tion Sitze hat. CDU-Mann Voigt muss nun
zeigen, ob er seine Abgeordneten unter
Kontrolle hat. Und die CDU, ob sie auf Sei-
ten der Demokraten steht. ulrike nimz

N


och weiß niemand, wer das Auto
des AfD-Vorsitzenden Tino Chru-
palla angezündet hat. Aber es
dürfte lebensfremd sein, hier andere als
politische Motive zu vermuten. Dass auf
Facebook und Twitter auch die „These“
Konjunktur hat, Chrupalla selbst könne
dahinterstecken (um sich jetzt als Opfer
zu inszenieren), zeigt nur: Menschen,
deren krude Logik auf keinerlei Anhalts-
punkte angewiesen ist, gibt es auch auf
der extrem linken Seite des Spektrums.
Ein Unterschied zwischen allgemeiner
und politischer Kriminalität ist, dass der
gewöhnliche Kriminelle um die Verwerf-
lichkeit seines Tuns weiß, der politisch
motivierte hingegen meint, sich auf einen


höheren, ihn legitimierenden Zweck beru-
fen zu können. Auch wenn Mordanschlä-
ge wie in Halle oder Hanau natürlich nicht
zu vergleichen sind mit einer Brandstif-
tung: Diese Anmaßung eint alle Krimi-
nelle mit politischen Motiven. Und es ist ja
keineswegs garantiert, dass man beim
Versuch, sein Auto zu löschen, mit einer
Rauchvergiftung davonkommt.
Die AfD hat den politischen Diskurs in
den vergangenen Jahren brutalisiert. Wer
indes meint, verbale Gewalt mit verbaler
Gewalt beantworten zu müssen, betreibt
nur ihr Geschäft. Und wer physische
Gewalt als Mittel der Auseinandersetzung
einsetzt, begeht ein Verbrechen und
nichts anderes. detlef esslinger

D


as Urteil des Bundesverfas-
sungsgerichts zur Sterbehilfe
hat in der vergangenen Wo-
che in aller Schärfe gezeigt:
Die Positionen und ethischen
Maximen der christlichen Kirchen haben
jene selbstverständliche Wirkkraft verlo-
ren, die sie in der Bundesrepublik über
Jahrzehnte hinweg hatten, im Guten wie
im Schlechten. Es waren allen voran die
Kirchen, die sich für ein Verbot von Sterbe-
hilfevereinen einsetzten und dafür, dass
der assistierte Suizid nur in Grenzfällen
möglich ist; eine große Mehrheit im Bun-
destag hat 2015 ein Gesetz beschlossen,
das dem Rechnung trägt. Das höchste Ge-
richt des Landes hat nun dieses Gesetz pul-
verisiert: Jeder hat nun das Recht, sich zu
töten und dabei die Hilfe entsprechender
Vereine in Anspruch zu nehmen; dieses
Recht steht über dem Interesse des Staa-
tes, Leben zu schützen und zu bewahren.


Die Bundesrepublik wird deshalb nicht
zum entmenschlichten Euthanasiestaat
werden, auch das muss in der nun hoch
aufgeladenen Atmosphäre gesagt wer-
den. Es werden verschiedene Sterbehilfe-
vereine ihre Arbeit aufnehmen. Der Ge-
setzgeber wird versuchen, dazu strenge
Regeln aufzustellen, die Vereine werden
dies im Zweifel bekämpfen, im Rücken die
Maxime des Verfassungsgerichts: Der
freie Wille zum Tod steht über allem. Es
wird mehr assistierte Suizide geben, ohne
dass daraus eine Massenbewegung wird;
die Gegner der neuen Regelung werden
darin ein Alarmsignal sehen, die Befürwor-
ter ein Zeichen neu gewonnener Freiheit.
Und vielleicht gibt es ja wirklich eine neue
Debatte über Suizidprävention und Pallia-
tivmedizin, über die Frage, was das Leben
lebenswert machen und lebenswert hal-
ten kann – sie täte dem Land gut.
Trotzdem hat sich etwas verschoben.
Das Verfassungsgericht macht letztlich
mit umgekehrten Vorzeichen das, was die
Kirchen lange taten: Es erklärt die Grauzo-
nen für inexistent, die den meisten, ja fast
allen Todeswünschen zu eigen sind. Für
die Kirchen war der Selbstmord eine Tod-
sünde, die, ohne Zweifel, direkt in die Höl-
le führte. Für die Karlsruher Richter ist
nun, genauso zweifellos, der Freitod der
letzte heroische Akt der Selbstbestim-
mung und Menschenwürde. Doch weder
die eine noch die andere Zweifellosigkeit
wird den Grenzfällen des Lebens gerecht,
mit der Ambivalenz und der Widersprüch-
lichkeit, in der die meisten Menschen
über einen Suizid nachdenken.


Es gab Kirchenvertreter, die gegen jegli-
che Freigabe der Sterbehilfe einwandten:
Es müssen leider am Ende des Lebens eini-
ge leiden, damit die Gesellschaft insge-
samt nicht auf die schiefe Bahn gerät. Das
hatte wenig mit christlicher Nächstenlie-
be zu tun. Nun sagt das Bundesverfas-
sungsgericht: Die Sorge, dass das Urteil
den Druck auf Menschen erhöhen könnte,
ihrem Leben ein Ende zu machen, sehen
wir – aber halten sie angesichts der Frei-
heit zur Assistenz beim Sterben für uner-
heblich. Das ist nun nicht weniger leidens-
unempfindlich gegenüber den Ängsten
von Pflegebedürftigen, Behinderten, al-
len Menschen am Rande, deren Leben ei-
ne Last für andere ist und die fürchten, kei-
ne Last mehr sein zu dürfen.
Das wäre die wichtigste Lehre für die
Kirchen nach dem Sterbehilfe-Urteil: Sie,
die sich lange als die Vertreter der zweifel-
losen Gewissheit ansahen, müssen nun
Propagandisten des Zweifels werden,
müssen sich gegen alle Versuche wenden,
die Grauzonen des Lebens für unerheb-
lich zu erklären. Sie müssen sich nun, da
das Verfassungsgericht das Recht auf Sui-
zid zur höchsten Freiheit erklärt hat, zu
den Anwälten des untrennbar damit ver-
bundenen und doch von den Richtern
ignorierten Menschenrechtes machen:
des Rechtes alles schwachen, nicht perfek-
ten und nicht autonomen Lebens, der Ge-
meinschaft und dem anderen zur Last zu
fallen. Es ist das Menschenrecht der Kin-
der und der Greise, der Kranken und Be-
hinderten, der Gescheiterten, Perspektiv-
losen, Verzweifelten; es ist das Recht des
imperfekten Menschen, dass niemand
ihm ins Ohr zischt: Dann geh doch.
Die Zeit dürfte vorbei sein, in der sich
die Urteile des Bundesverfassungsge-
richts selbstverständlich in der Nähe der
kirchlichen und christlichen Normvorstel-
lungen bewegten. Den Christen weht da
der raue Wind der beginnenden Minder-
heitensituation entgegen. Das ist aber
auch eine Chance: Sie können sich mit der
Kraft ihrer eigenen Überzeugungen und
des eigenen Beispiels der Debatte stellen.
Caritas und Diakonie können als wichtige
Träger der Palliativmedizin und der Hos-
pizarbeit für eine bessere Versorgung
Schwerkranker eintreten und für eine wei-
ter verbesserte Suizidprävention, gegen
den Widerstand vieler Kostenträger. Kir-
chengemeinden können sich verstärkt
der Einsamen annehmen, in ihren Reihen
und außerhalb davon. Christen können,
wenn die Rede davon ist, dass Autonomie
das höchste Gut sei, den Zweifel säen: Ist
das Leben wirklich nichts mehr wert,
wenn man nicht mehr autonom ist?
Und sie können dem mit Respekt begeg-
nen, der sich für den Tod entscheidet. Als
Akt der Nächstenliebe.

Anders als man meinen
könnte, handelt es sich beim
Super Tuesday nicht um ei-
ne Schnäppchenaktion im
Online-Handel und auch
nicht um einen besonderen Spieltag im
American Football, sondern um einen
der aufregendsten und richtungsweisen-
den Vorwahltage für die amerikanische
Präsidentschaft. Der Prozess, in dem De-
mokraten und Republikaner in den Bun-
desstaaten über ihre Kandidaten abstim-
men, dauert zwar noch bis Juni, wird aber
nun deutlich Fahrt aufnehmen. Seit den
Siebzigerjahren stimmen traditionell an
einem Dienstag (deswegen Tuesday) An-
fang März die Wähler in besonders vielen
(daher das Super) Bundesstaaten von
Ost- bis Westküste ab. Der Tagessieger
wird von der Öffentlichkeit in der Regel
auch als der Kandidat mit den besten Aus-
sichten auf die Nominierung für die Präsi-
dentschaft behandelt. Zum einen, weil
hier besonders viele Parteidelegierte für
die Nominierung verteilt werden. Zum an-
deren, weil sich die Ergebnisse der ande-
ren Staaten oft am Super Tuesday orien-
tieren. An diesem Dienstag wählen zwar
„nur“ 14 Bundesstaaten, plus die Demo-
kraten im Ausland und in den amerikani-
schen Territorien. Doch weil in Kaliforni-
en eine der größten demokratischen
Wählerschaften beheimatet ist, wird das
Ergebnis mehr verraten als die Gewinne-
rin oder den Gewinner des Tages. haa

4 HMG (^) MEINUNG Dienstag,3. März 2020, Nr. 52 DEFGH
ISRAEL


Der Spalter gewinnt


FOTO: FRANCOIS LENOIR/REUTERS

SYRISCHE FLÜCHTLINGE

Europas Krieg


GLEICHSTELLUNG

Was den Frauen zusteht


THÜRINGEN

Komplikationslos ist nichts


BRANDANSCHLAG

Verbrecher im Vorgarten


Harter Zweikampf sz-zeichnung: sinisa pismestrovic

KIRCHE


Eine Minderheit


von matthias drobinski


AKTUELLES LEXIKON


SuperTuesday


PROFIL


Stella


Kyriakides


EU-Koordinatorin
im Kampf gegen
das Coronavirus

Die EU muss schleunigst
eingreifen, die wirtschaftlichen
Hebel dafür hat sie allemal

Es ist klug, wenn der Bund
in seinen Unternehmen
mit gutem Beispiel vorangeht

Das Sterbehilfe-Urteil stellt die


Autonomie über alles. Christen


haben hier Einfluss verloren

Free download pdf