Süddeutsche Zeitung - 03.03.2020

(Tina Sui) #1
Wegen des Coronavirus wurden viele Ver-
anstaltungen, Messen und Feste abge-
sagt, darunter die Internationale Hand-
werksmesse (IHM) in München, die Inter-
nationale Eisenwarenmesse in Köln, die
Energiemesse IRES und eine Konferenz
der deutschen Versicherungswirtschaft.
Die Messe Düsseldorf verschiebt mehrere
Eigenveranstaltungen. Die Deutsche Tele-
kom kippt eine Branchenveranstaltung
zur Cybersicherheit, das MagazinDer Spie-
gelsagt seine Hauptstadt-Party ab. Der
Energiekonzern RWE lässt ein geplantes
Gespräch über den Kohleausstieg ausfal-
len und eine Berliner Privatschule stellt ih-
ren Unterricht ein. Auch für Gesundheits-
minister Jens Spahn ändert sich der Zeit-
plan. Die beiden Empfänge des Sachver-
ständigenrats für Gesundheit sowie der
Krankenhausgesellschaft, auf denen er
Dienstag hätte sprechen sollen, finden
nicht statt. SZ

von berit uhlmann

München–Am Tag, als das 25-köpfige
Team seine Untersuchung zur Lungen-
krankheit Covid-19 in China begann,
meldete das Land knapp 2500 neue Fälle.
Als die Experten neun Tage später ihren
Besuch beendeten, wurden nur 400 Neu-
erkrankung gezählt. „Die Abnahme der
Fälle ist real“, steht in dem Bericht, den das
Team nun vorgelegt hat. Vom 16. bis 24. Fe-
bruar waren Wissenschaftler aus acht
Ländern in China unterwegs, um sich per-
sönlich ein Bild von der Epidemie und dem
Umgang mit ihr zu verschaffen. Die Lei-
tung hatte die Weltgesundheitsorganisati-
on WHO, die meisten Mitglieder stammten
aus China; aus Deutschland war ein Mitar-
beiter des Robert-Koch-Instituts dabei.
Die wichtigste Erkenntnis, mit der die
Wissenschaftler zurückkehrten, lautet: In
China geht die Zahl der neuen Fälle deut-
lich zurück – und zwar schon seit Länge-
rem. Der Höhepunkt des Ausbruchs war
bereits Ende Januar erreicht. Am Montag
meldete China nur 200 neue Infektionen
mit dem Coronavirus. Möglich wurde das
Zurückdrängen des Erregers unter ande-


rem durch ein massives Personalaufgebot.
1800 Teams von Epidemiologen – jedes
hatte mindestens fünf Mitglieder – waren
im Einsatz. Täglich suchten sie nach
Zehntausenden Menschen, die Kontakt zu
einem Infizierten gehabt hatten, um sie zu
testen und zu beobachten. Der Bericht legt

nahe, dass ihnen so gut wie keine Kontakt-
person entging. Vor allem aber geht der
Rückgang der Infektionen auf das rigorose
Vorgehen Chinas zurück: „Die womöglich
ambitionierteste, schnellste und aggres-
sivste Anstrengung zur Krankheitsein-

dämmung in der Geschichte“, nennt es der
Bericht. Dazu gehörten Reiseeinschrän-
kungen in weiten Teilen des Landes und
die Abriegelung ganzer Metropolen. Etwa
50 Millionen Menschen waren von der
Außenwelt abgeschottet.
Was macht diese Situation mit den
Menschen? Das Team zeigt sich überzeugt,
dass es unter den Chinesen ein „großes
Engagement“ für diese kollektiven Maß-
nahmen gab. Zweifel oder Kritik kommen
in dem 40-Seiten-Papier nicht vor. Mehr
noch, der Bericht sieht die Volksrepublik in
einer Art Vorreiterrolle. Chinas „kompro-
misslose und rigorose“ Reaktion liefere
der Welt wichtige Lehren, heißt es. Denn
letztlich seien die Maßnahmen effektiv
gewesen. Weiter schreiben die Autoren:
„Ein großer Teil der Weltgemeinschaft ist

sowohl in der Geisteshaltung als auch
materiell nicht bereit, solche Maßnahmen
zu ergreifen“.
Die Autoren raten daher anderen
Ländern eher zu klassischen Maßnahmen
des Seuchenschutzes. Staaten, die bereits
Fälle entdeckt haben, sollten ihre Pläne für
den Notfall aktivieren, potenziell Erkrank-
te schnell untersuchen und Kontakt-
personen rasch unter Quarantäne stellen.
Weitergehende Maßnahmen wie Schul-
schließungen und das Verbot von Groß-
veranstaltungen könnten geplant und
simuliert werden.
Dabei ist die Quarantäne ganzer Orte
auch außerhalb Chinas kein Tabu mehr.
Italien hat zehn Orte im Norden des Landes
abgeriegelt; insgesamt 50 000 Einwohner
dürfen die Gemeinden nicht verlassen

oder Besucher von außen empfangen. Bun-
desinnenminister Horst Seehofer (CSU)
schloss am Wochenende nicht aus, als
letztes Mittel auch in Deutschland ganze
Städte oder Regionen abzuriegeln.

Juristisch gesehen wäre dies wohl zuläs-
sig: „Das Infektionsschutzgesetz bildet
hier die rechtliche Grundlage. Isolation
und Quarantänemaßnahmen wie in Italien
wären auch bei uns möglich“, sagt Timo Ul-
richs, Professor für globale Gesundheit an
der Akkon-Hochschule für Humanwissen-
schaften in Berlin. Doch eine Diskussion

über die sozialen, politischen und ethi-
schen Implikationen solcher drastischen
Aktionen gibt es derzeit nur in Ansätzen.
ImBritish Medical Journalwarnten die
Psychologen James Rubin und Simon Wes-
sely vom Londoner King’s College davor,
dass eine Massenquarantäne wie in China
Nebenwirkungen haben kann. Dazu gehö-
ren Angst und ein Gefühl des Kontroll-
verlusts bei denen, die von der Außenwelt
ausgeschlossen sind. Ihnen droht darüber
hinaus die Stigmatisierung. Und dort, wo
sich Menschen nicht mehr selbst ein Bild
von der Lage machen können, entstehen
Gerüchte. Das alles kann dazu führen, dass
Vertrauen verspielt wird.
„Es existieren unterschiedliche Auffas-
sungen, wie sinnvoll es ist, solch drastische
Maßnahmen zu ergreifen“, sagt Daniel Lo-
renz, wissenschaftlicher Mitarbeiter der
Katastrophenforschungsstelle der Freien
Universität Berlin. Schränken sie das
Leben sehr ein, sei es auch möglich, dass
Personen versuchen, diese Maßnahmen
zu umgehen oder Krankheitssymptome zu
verstecken. Dies wiederum kann bedeu-
ten, dass die effektive Überwachung des
Virus schwieriger wird.

Berlin/Düsseldorf –Eswar Zufall, dass
der erste Corona-Patient in Berlin über-
haupt entdeckt wurde. Der junge Mann,
der eigenen Angaben zufolge seit einigen
Wochen unter Erkältungssymptomen litt,
hatte in der Nacht zu Sonntag desorientiert
gewirkt. Seine Mitbewohner schickten ihn
in die Berliner Charité. Seine Beschwer-
den, sagte der dortige Ärztliche Direktor Ul-
rich Frei am Montag, hätten eigentlich
nicht auf eine Infektion mit dem neuarti-
gen Virus hingedeutet: Er sei fiebrig gewe-
sen, habe über Gliederschmerzen geklagt
und nach wie vor desorientiert gewirkt.
Die Ärzte vermuteten eine Hirnhautent-
zündung, dann Influenza. Nur weil die Cha-
rité seit vergangener Woche standardmä-
ßig bei jedem Influenza-Verdacht auch auf
Corona testet, fand die Klinik heraus, was
dem Mann fehlt – sonst wäre er „immer
noch unerkannt zu Hause“, sagte Frei.
Das Berliner Gesundheitsamt identifi-
zierte seitdem 60 Kontaktpersonen des
jungen Mannes, die gerade auf das Corona-
virus getestet werden, und stellte sie unter
Quarantäne, unter ihnen auch acht Mitar-
beiter der Charité. Die Klinik schloss vor-
übergehend ihre Rettungsstelle. Die betrof-
fenen Ärzte hatten während der Behand-
lung des Patienten keine Schutzkleidung
getragen, da bei dessen Einlieferung kein
Verdacht auf das Coronavirus bestanden
habe, sagte Frei. Zu den Kontaktpersonen
gehören auch die Eltern des jungen Man-
nes, die aus Nordrhein-Westfalen kom-

men. Angesichts der dort auftretenden In-
fektionen sprach die Berliner Gesundheits-
senatorin Dilek Kalayci (SPD) von einer „lei-
sen Spur“. Letztlich könne man aber nicht
sagen, wo sich der Patient infiziert habe.
Der Leiter des Robert-Koch-Instituts
(RKI), Lothar Wieler, sprach am Montag-
morgen von insgesamt 150 bestätigten Fäl-
len in zehn Bundesländern, bei denen man
überwiegend nachvollziehen kann, woher
sie sich angesteckt haben. Die meisten Infi-
zierten wohnen nach wie vor im Kreis
Heinsberg: Von den rund 80 Betroffenen
wird allerdings nur das Ehepaar aus Gan-
gelt im Krankenhaus behandelt, alle ande-
ren befinden sich in häuslicher Isolation.
Am Montagabend meldeten Brandenburg
und Thüringen als elftes und zwölftes Bun-
desland den jeweils ersten Corona-Fall, in
Berlin kamen noch weitere Fälle hinzu.
Doch in ganz Deutschland gehen Exper-
ten auch von immer mehr unentdeckten
Corona-Fällen aus. Weil der Ausbruch der
Epidemie so „dynamisch“ ist, müsse man
„davon ausgehen, dass es weitere Übertra-
gungen gibt, weitere Infektketten“, sagte
RKI-Chef Wieler. Entscheidend sei nun
nicht mehr, ob sich eine größere Zahl von
Menschen mit der meist milde verlaufen-
den Krankheit anstecke, sondern die Ge-
schwindigkeit, in der sich das Virus aus-
breite, sagte der Berliner Virologe Christi-
an Drosten. Je langsamer dies geschehe,
desto besser könne man die wenigen
schwerer erkrankten Patienten versorgen.
Das RKI schätzt die Gefahr für die Ge-
sundheit der Bevölkerung in Deutschland
inzwischen als „mäßig“ ein statt wie bis-
lang als „gering“. Bundesgesundheitsmi-
nister Jens Spahn (CDU) sagte am Montag,
„an bestimmten Stellen in Deutschland
wird der Alltag ein Stück eingeschränkt
sein müssen“. Er halte allerdings nichts da-
von, Großveranstaltungen pauschal abzu-
sagen, Direktflüge aus China zu streichen
oder Grenzen zu schließen. Solche Maß-
nahmen solle man im Einzelfall ergreifen
und sie davon abhängig machen, ob die Be-
troffenen zuvor beispielsweise in Norditali-
en oder China waren.
Doch ob Ärzte überhaupt alle Infizierten
ausfindig machen werden, ist fraglich.
Denn viele Praxen würden derzeit gar kei-
ne Corona-Tests anbieten, sagt Stephan
Hofmeister von der Kassenärztlichen Bun-
desvereinigung. Dies habe Arbeitsschutz-
gründe: Um ihre Mitarbeiter zu schützen,
fehlen ihnen Atemschutzmasken. Und die
werden gerade landesweit knapp. Im nie-
dersächsischen Sulingen wurden 1200
Masken aus einem Krankenhaus gestoh-
len. beitz, jana, klu

München–Vor dem Hintergrund der Co-
vid-19-Epidemie hat Frankreichs Staats-
chef Emmanuel Macron seine Agenda für
diese Woche geändert und Termine abge-
sagt. Wie der Dachverband der jüdischen
Organisationen in Frankreich (CRIF) am
Montag via Twitter mitteilte, werde der
Präsident wegen der „außergewöhnlichen
Gesundheitslage in Frankreich“ nicht zum
traditionellen Jahresessen des Verbands
kommen. Das ursprünglich am Dienstag
geplante Essen sei deshalb verschoben
worden, so der Verband. Macron hatte im
Vorjahr teilgenommen und eine lange Re-
de gehalten. Aus einer aktualisierten Agen-
da des Elyséepalastes für die laufende Wo-
che geht hervor, dass zudem eine Reise Ma-
crons in das Département Gers im Südwes-
ten des Landes gestrichen wurde.
In Frankreich haben sich nach Angaben
des Gesundheitsministeriums vom Mon-
tagabend 191 Menschen mit dem neuarti-
gen Coronavirus infiziert. Es gab bisher
drei Todesfälle im Land.
Die Gesamtzahl der Infizierten stieg in-
zwischen weltweit auf mehr als 80 000
Menschen an. In Iran gab die Regierung be-
kannt, dass sich 523 weitere Menschen mit
dem Virus infiziert hätten, die Gesamtzahl
stieg damit auf 1501. Die Zahl der Toten ha-
be sich um zwölf auf 66 erhöht, sagte der
stellvertretende Gesundheitsminister Ali-
reza Raisi im staatlichen Fernsehen. In Ita-
lien starben den Behörden zufolge 52 Men-
schen an den Folgen einer Coronavirus-In-
fektion. Binnen 24 Stunden sei die Zahl der
Todesopfer um 18 gestiegen, teilt die Zivil-
schutzbehörde am Montagabend mit. Sie
verzeichnet 2036 bestätigte Erkrankun-
gen. Das ist ein Fünftel mehr als am Sonn-
tag, als noch 1694 Fälle gemeldet wurden.
Auch die australischen Aufsichtsbehör-
den sind in Alarmbereitschaft. Noch für
Montag sei eine Notfall-Telefonkonferenz
geplant, an der sich die Finanz- und Bör-
senaufsicht sowie die Zentralbank beteilig-
ten, sagen zwei Insider der Nachrichten-
agentur Reuters. Australien ist von den Vi-
rus-Folgen betroffen, weil das Land wirt-
schaftlich abhängig von China ist.
Die Schweiz hat ihre Empfehlungen zur
Vermeidung einer Ansteckung mit dem Co-
ronavirus erweitert. Unter anderem rät das
Bundesamt für Gesundheit, das Hände-
schütteln zu vermeiden. Die Regierung hat-
te am Freitag bereits alle Großveranstal-
tungen ab 1000 Personen verboten und ver-
schiedene Hygienemaßnahmen wie gründ-
liches Händewaschen empfohlen. sz


Tokio – Am Montag waren dann tat-
sächlich viele staatliche Schulen in Japan
geschlossen oder bereiteten zumindest
den Beginn verlängerter Frühlingsferien
vor. Bildungsminister Koichi Hagiuda hat-
te zwar noch einmal klargestellt, dass die
überraschende Empfehlung von Premier-
minister Shinzo Abe im Kampf gegen das
Coronavirus nicht rechtsverbindlich sei.
Aber wenn der Regierungschef derart ent-
schlossen vom Schutz der Kinder spricht,
wie er das am vergangenen Donnerstag ge-
tan hat, dann gehorchen die meisten Schul-
ämter eben. Nur in der Präfektur Shimane,
die zu denen ohne offiziell bestätigten Co-
vid-19-Fall gehört, machten die Behörden
nicht mit. An anderen Orten durften einzel-
ne Kinder in die Klassenzimmer, wenn die
berufstätigen Eltern sie gar nicht anders
unterbringen konnten.
Der Arzt Masahiro Kami, Chef des
gemeinnützigen Forschungsinstituts für
Medizinkontrolle, sieht mit Befremden zu.
Er findet: „Mit gewaltigen Eingriffen sollte
man besser vorsichtig sein.“ Denn aus sei-
ner Sicht ist es längst zu spät für
Vorsichtsmaßnahmen wie Schulschließun-
gen. „Man muss einräumen“, schreibt Ka-
mi in einem Aufsatz, der der SZ vorliegt,
„dass die Ausbreitung des neuartigen Coro-
navirus nicht mehr zu vermeiden ist.“
In Japan und Südkorea hat die nächste
Stufe der Coronavirus-Bekämpfung be-
gonnen. Zumindest klingen die Fachleute
so, als sei die Zeit vorbei, in der man das

Virus mit Quarantäne, Absagen und Schlie-
ßungen unter Kontrolle halten kann. Das
staatliche Zentrum für Seuchenkontrolle
meldete am Montag 476 neue Fälle. Die Ge-
samtzahl der Covid-19-Infizierten im Land
stieg damit auf 4212 bei 22 Todesfällen.

Für den amerikanischen Virologen Ha-
kim Djaballah sind in Südkorea die bisheri-
gen Bemühungen, das Coronavirus einzu-
dämmen, so gut wie gescheitert. Zwei Me-
dikamente seien immerhin eine Hoffnung
bei der Covid-19-Vorbeugung, schrieb er
Ende vergangener Woche in einem Beitrag
für dieKorea Times. Er legte nahe, Staats-
präsident Moon Jae-in solle „alle Medika-
menten-Hersteller in Südkorea per Voll-
zugsanordnung und im Namen der natio-
nalen Sicherheit dazu anhalten, mit der
Produktion und Verteilung von Plaquenil
und Remdesivir zu beginnen“.
In Japan, das im Sommer Gast-
geberland der Olympischen und Para-
lympischen Spiele sein will, sehen die
Zahlen freundlicher aus. 275 bestätigte
Covid-19-Fälle – ohne die mehr als 700 In-
fizierten von dem KreuzfahrtschiffDia-
mond Princess, das Japans Gesundheits-
ministerium zwei Wochen lang mit durch-
wachsenem Erfolg unter Quarantäne hielt.

Aber diese relativ niedrige Zahl täuscht.
„Das ist nur die Spitze des Eisbergs“, sagt
Masahiro Kami. Die Dunkelziffer sei in
Japan besonders hoch, weil das Gesund-
heitsministerium und das ihm unterstellte
Nationale Institut für Infektionskrank-
heiten die neuen Coronavirus-Tests auf
bestimmte Gruppen begrenzt haben. Näm-
lich auf die schweren Fälle, etwa auf Patien-
ten, die wegen einer Lungenentzündung
im Krankenhaus bleiben müssen.
Fast 110 000 Tests gab es in Südkorea
schon. In Japan 2517. „Die meisten infizier-
ten Menschen haben keine oder milde Sym-
ptome“, sagt Kami, gerade die müsste man
testen. Hat man aber nicht. Die Folge: Men-
schen laufen unbemerkt mit Coronavirus
durch die Städte und stecken Menschen
an, für die das Virus gefährlich ist. „Todes-
fälle zu verhindern, ist jetzt wichtiger als
die Verbreitung zu verhindern“, urteilt
Kami deshalb und mahnt „Entscheidun-
gen auf der Basis von wissenschaftlicher
Erkenntnis“ an. Schulschließungen und
Absagen wie jene des Amateurrennens
beim Tokio-Marathon am Sonntag gehö-
ren dazu aus seiner Sicht nicht. „Der Effekt
von Absagen ist gering in städtischen
Gebieten, in denen das Pendeln in vollen
Zügen zur Routine gehört.“ Die Frage der
Verhältnismäßigkeit treibt Kami um.
Aber Premierminister Shinzo Abe hat
andere Krisenpläne. Wissenschaft und
Politik laufen in Japan aneinander vorbei,
sagen Kritiker. Ein Fachinstitut, das im
Notfall unabhängig und autonom entschei-
den kann, gibt es nicht. Es ist, als wollten
sich Machtmenschen und Bürokraten
nicht belehren lassen von Fachleuten, die
etwas besser wissen. Abe tritt in diesen
Tagen jedenfalls als wortstarker Krisenma-
nager auf. Am Samstag gab er eine dramati-
sche, live übertragene Pressekonferenz,
bei der er ein Notfallpaket von 270 Milliar-
den Yen (2,2 Milliarden Euro) ankündigte
und seine Landsleute „demütig“ um Ko-
operation bat. Am Montag dachte er im Par-
lament laut darüber nach, den Notstand
auszurufen, denn es sei „sehr wichtig, im-
mer mit dem Schlimmsten zu rechnen und
vorbereitet zu sein“ – der Notstand würde
es Behörden ermöglichen, das öffentliche
Leben zum Erliegen zu bringen.
„Vorkriegszeitlich“ findet Masahiro Ka-
mi die Entscheidungswege der Virusbe-
kämpfung in seiner Heimat. Und das Natio-
nalinstitut für Infektionskrankheiten hat
sich früher schon geäußert: „Wir sind der
Außenposten des Ministeriums, der auf
dessen Instruktionen und Vorgaben hin
handelt.“ Das sollte wohl heißen: Wir
können nichts dafür. thomas hahn

Auf kein Wiedersehen: Mitarbeiter eines Krankenhauses im chinesischen Wuhan verabschieden einen geheilten Corona-Patienten. FOTO:CHINA DAILY


Abgesagt


CoronavirusWie die Welt versucht, die Ausbreitung des Erregers einzudämmen


Lernen von China


Der rigorose Kampf gegen das Coronavirus hat die Zahl der neuen Fälle deutlich sinken lassen,
wie internationale Forscher berichten. Der Westen scheut drastische Eingriffe, auch wegen der sozialen Folgen

„Vorkriegszeitlich“


InJapan und Südkorea wollen sich Politiker nicht von Fachleuten belehren lassen


Fiebrig und desorientiert


Erster Corona-Fall in Berlin, 60 Menschen sind in Quarantäne


DEFGH Nr. 52, Dienstag, 3. März 2020 (^) POLITIK HMG 5
Außergewöhnliche
Gesundheitslage
Frankreichs Präsident sagt Termine
ab. Zahl der neu Infizierten steigt
In China wurden etwa
50 Millionen Menschen von
der Außenwelt abgeschottet
In Japan blieben viele Schulen am Montag geschlossen. Ausnahmen gab es für Kin-
der, deren berufstätige Eltern keine Betreuungsmöglichkeit hatten. FOTO: REUTERS
Psychologen warnen vor Angst
und Kontrollverlust
im Fall einer Massenquarantäne
Menschen laufen unbemerkt mit
demCoronavirus durch die Städte
und stecken andere an

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