Süddeutsche Zeitung - 03.03.2020

(Tina Sui) #1

In Ulla Hahns autobiografischem Roman
„Spiel der Zeit“ gibt es eine Liebesszene,
die keusch bleibt, weil sie so politisch ist.
Hugo liest trostlos grausame Zeilen vor:
„Man spottet über mich in allen Zeitun-
gen. /Panzerwagen umgeben mich,/ Ma-
schinengewehre zielen auf mich,/ elek-
trisch geladener Stacheldraht schließt
mich ein.“ Die Stimme, die das vorträgt,
streicht der Erzählerin über die Stirn und
durchs Haar, küsst ihr den Nacken, hält sie.
Es ist nicht die Dichtung, die das kann, son-
dern die poetische Utopie: „Das Volk, das
noch geboren wird,/ unser Volk, /wird ein
großes Fest feiern.“
Diese Verse hat Ernesto Cardenal ge-
schrieben, ein katholischer Priester, der
ganz von dieser Welt war, ein Mönch, der
ausführlich von seinen Liebesgeschichten
erzählte, ein Minister, der vor dem Papst
kniete und vor laufender Kamera von ihm
gemaßregelt wurde, einer der populärsten
Dichter des 20. Jahrhunderts und fast ein


Gleichnis für das anhaltende Unglück La-
teinamerikas.
Cardenal kam 1925 in einer großbürger-
lichen nicaraguanischen Familie zur Welt,
konnte an der Columbia University in New
York studieren und lernte dort die Gedich-
te des Rhapsoden Walt Whitman kennen.
Er sah sich zunächst zum elegischen Lyri-
ker berufen, doch ließen das die politi-
schen Verhältnisse nicht zu. Als seine letz-
te Liebe einen anderen heiratete und ein
weitläufiger Verwandter, der Diktator Ana-
stasio Somoza, als Trauzeuge geladen war,
ging Cardenal in ein Kloster und wurde, be-
treut von dem Mystiker Thomas Merton,
in Gethsemani in Kentucky Trappist. Das
Schreiben von Gedichten war ihm dort ver-
boten, aber er durfte Tagebuch führen und
sich die Notizen machen, als denen später
seine berühmten „Psalmen“ wurden.
Wie der fast gleichaltrige argentinische
Arzt Ernesto Guevara sah Cardenal das
Heil für die von Diktatoren und nordameri-

kanischen Konzernen beherrschten Völker
Lateinamerikas im Kommunismus. Seit er
den Mädchen abgesagt und sich mit dem
Eintritt ins Kloster für Gott entschieden
hatte, las er die vier Evangelien als kommu-
nistische Manifeste und hegte die ver-
zweifelte Hoffnung, das Reich Gottes wür-
de sich in einem urkommunistischen, also
biblischen Diesseits ereignen.

In der sandinistischen Revolution wur-
de das Regime der Familie Somoza ge-
stürzt. Der neue Caudillo Daniel Ortega
machte Cardenal zum Kulturminister, der
als Werber für die Regierung um die Welt
reiste. Seine Baskenmütze wurde fast so
populär wie die Che Guevaras, und anders
als damals im bolivianischen Dschungel,

schien die Zeit für das Fest gekommen. Lin-
ke wie Bernie Sanders fuhren begeistert
nach Managua, die USA bekämpften die
Revolution mit bewährter Brutalität, und
Johannes Paul II. suspendierte Cardenal
von seinem Priesteramt. Er blieb Dichter.
So leitartikelig es in seinen Gesängen oft
zuging, er konnte hemmungslos lieben wie
in seinem „Gebet für Marilyn Monroe“:
„Sie hungerte nach Liebe, und wir boten
ihr Beruhigungsmittel./Gegen die Traurig-
keit, dass wir nicht heilig sind,/ empfahl
man ihr die Psychoanalyse.“
Aus der nicaraguanischen Hoffnung ist
längst eine neue Diktatur geworden. Im-
merhin hat der jetzige Papst, ein Erbe der
Befreiungstheologie, Cardenal das Pries-
teramt wiedergegeben. Die Armen sind
aber noch immer arm, das große Fest ist so
oft angekündigt worden. Ernesto Cardenal
hat es nicht mehr erlebt. Am Sonntag ist er
im Alter von 95 Jahren in Managua ge-
storben. willi winkler

Entschlossene, findige, kämpferische
Frauen, die von den Männern und der Ge-
sellschaft oft sehr mies behandelt werden



  • von solchen Rollen fühlt sich Elisabeth
    Moss offenbar angezogen. Bekannt wurde
    die 37-jährige Amerikanerin in der Serie
    „Mad Men“ als Peggy Olson, die als Sekre-
    tärin einer Werbeagentur beginnt und sich
    beim Aufstieg von einer Welt voller Ma-
    chos nicht aufhalten lässt. Ähnlich viel Auf-
    merksamkeit erregte sie als rebellische
    Heldin in Margaret Atwoods Dystopie „A
    Handmaid’s Tale“ über Frauen als ver-
    sklavte Geburtsmaschinen. In ihrem neu-
    en Horrorfilm „Der Unsichtbare“ muss sie
    sich einmal mehr eines toxischen Mannes
    erwehren. Zum Interview im London West
    Hollywood Hotel erscheint sie mit einem
    Bob-Dylan-T-Shirt, mehreren goldenen
    Halsketten und einer sehr reifen Banane,
    die sie, bevor es losgeht, noch schnell isst.


SZ: Mrs. Moss, wie wichtig ist es für Sie in
der gegenwärtigen Lage, weibliche Wut
zu kanalisieren?
Elisabeth Moss(lächelt): Außerordentlich
wichtig! Von dieser Idee, dass man in span-
nende Geschichten durchaus tiefere Bot-
schaften einbetten kann, hat mich Marga-
ret Atwood bei „A Handmaid’s Tale“
überzeugt. Als ich das Skript von „Der
Unsichtbare“ bekam, fragte ich mich erst,
was ich damit jetzt anfangen soll, wie ich
da reinpassen könnte. Doch der Regisseur
Leigh Whannell hat aus dem alten Horror-
konzept eine Analogie auf vergiftete Bezie-
hungen gemacht, und wie man sich daraus
befreit. Ein Ansatz, der mich überzeugte.


Kann das Horrorgenre solche Themen
transportieren?
Oh, absolut! Ich liebe Horror, seit ich elf
oder zwölf Jahre alt bin, und als Teenager
habe ich die Klassiker wie Stanley Ku-
bricks „The Shining“, „Poltergeist“ und
„Der Exorzist“ gesehen. Das waren nicht
nur Achterbahnfahrten, sondern auch im-
mer Analogien zu politischen und gesell-
schaftlichen Themen, die bis heute rele-
vant sind. Jordan Peele, mit dem ich vor
Kurzem den Horrorfilm „Us / Wir“ ge-
macht habe, nennt das „nachdenkliches
Popcornkino“. Das Adrenalin brodelt, man
darf schreien und lachen, aber nachher
setzt man sich vielleicht zusammen und


führt ein gutes Gespräch über das, was
man da gerade durchgemacht hat.

Frauen unter starkem Druck, das scheint
ihr Ding zu sein. Schon vor zwanzig Jah-
ren in „Girl, Interrupted“ spielten sie ei-
nen Teenager in einer geschlossenen An-
stalt, der sich das Gesicht verbrannt hatte.
Nur wenige Schauspielerinnen haben das
in sich, ohne theatralisch zu wirken.
Ich suche nach Menschlichkeit in meinen
Rollen. Und als Menschen – Frauen wie
Männer – sind wir verwundbar und stark
zugleich. Wir können sehr intelligent sein
und gleichzeitig furchtbar schlechte Ent-
scheidungen fällen. Ich mag nun mal Figu-
ren, die mich herausfordern. Die etwas
überwinden müssen. Tja, und die Aufgabe,
die wir als Frauen in dieser Welt oft lösen
müssen, heißt nun mal: das Patriarchat
überwinden.

Die Serienadaption von „A Handmaid’s Ta-
le“ mit Ihnen in der Hauptrolle hatte 2017
Premiere. Im gleichen Jahr entstand die
„Me Too“-Bewegung. Gerade erst gab es
ein Urteil in New York im Prozess gegen
Harvey Weinstein, mit dessen Enttarnung
als Sexualstraftäter diese Bewegung
begann. Wo stehen die Frauenrechte
heute?
Ich denke, dass bisher viel Gutes gesche-
hen ist. Eine überfällige Debatte ist ange-
stoßen worden. Aber wir haben noch eine
weiten Weg vor uns. Und es ist wichtig,
dass man es nicht als einen Trend oder ei-
ne Bewegung ansieht, die jetzt drei Jahre
alt ist, sondern als eine fortdauernde Aus-
einandersetzung. Sollte das Thema auf
Twitter mal nicht mehr trenden, heißt es
noch lange nicht, dass die Probleme damit
beendet wären.

Und die andere Seite schläft nicht...
Keinesfalls, man muss alles tun, damit das
alles im Gespräch bleibt. Das Fernsehen

und das Kino sind für uns Frauen Kanäle,
um unsere Frustrationen auszudrücken.
Es gibt auch andere Wege. Ich bin keine
Politikerin. Ich kann nur die Plattformen
nutzen, die mir zur Verfügung stehen.

Sie sind ein Vorbild für Frauen in aller
Welt. Trotzdem nehmen Sie sich die Frei-
heit, weibliche Selbstzweifel und Mängel
zu verkörpern. Widerspricht sich das oder
ist es notwendig?
Ich denke, das geht Hand in Hand. Selbst
wenn Sie sich Gal Gadot als „Wonder Wo-
man“ ansehen, ist diese Figur auch ver-
wundbar. Sie ist nicht perfekt. Genau das
ist so wichtig. Sie ist natürlich ein extremes
Beispiel – eine echte Superheldin. Aber sie
zeigt, dass man auch als starke Frau keine
Angst haben muss, Schwäche zu zeigen.
Frauen sind menschlich. Und wir sind so fa-
cettenreich wie Männer. Ich denke, eine
Vorbildfunktion sollte auch beinhalten,
dass man manchmal verletzlich sein kann.

Schon in jungen Jahren, heißt es in Ihrer
Biografie, wurden Sie von Bette Davis in-
spiriert. Wie darf man sich das vorstellen?
Mir imponiert an Bette Davis, wie sie ihre
Karriere und ihren Platz in Hollywood ge-
staltet hat. Es ging ihr nicht nur um ihre
Rollen. Sie war stets offen und gradlinig,
mutig und keck. Sowohl im Privatleben als
auch in ihrer Art, Geschäfte zu machen. Sie
stand ihre Frau. Das brachte ihr den Ruf
ein, schwierig zu sein. Was ja nichts Neues
ist, wenn Frauen für sich Stellung bezie-
hen. Da war sie damals auch nicht alleine,
Frauen wie Mary Pickford und andere ha-
ben sich ihren festen Platz in der Film-
industrie erkämpft. Die ließen sich nicht
herumschubsen. Zudem war Bette Davis
eine unglaublich gute Schauspielerin.

In der Serie „Mad Men“ spielten Sie auch
so eine Figur, die ihre Frau stand. Peggy
Olson hat sichin der sexistischen New Yor-
ker Werbewelt der Sechzigerjahre durch-
gesetzt. Haben Sie sich Gedanken darüber
gemacht, wie es mit Peggy in den Siebzi-
gerjahren weitergegangen wäre?
Ja, ich habe öfter daran gedacht. Wir wis-
sen ja, was mit diesen ambitionierten Frau-
en passierte. Sie durchliefen alle mögli-
chen Positionen, und am Ende leiteten sie
die Firma. An Peggy mag ich ihre Kompro-

misslosigkeit. Und dass sie letztendlich
mit ihrem besten Freund zusammenkam.

In Schweden drehten Sie unter der Regie
von Ruben Östlund „The Square“, der
2017 in Cannes gewann. Wie ist Ihre Ver-
bindung zum europäischen Kino?
Ich wuchs damit auf. Als Teenager hatte
ich eine längere French-New-Wave-Phase
(lacht), schaute auch viel Fellini. Es gab so
viele tolle Filme zu entdecken. Die Darstel-
lerinnen, die ich bewundere, Frauen wie
Kristin Scott Thomas und Marion Cotil-
lard, drehen europäische Filme. Es gibt da
andere Geschichten zu erzählen. Und ich
mag daran auch, dass das Autorenkino
dort staatlich gefördert wird. Man hat
mehr Zeit und es wird einem weniger rein-
geredet als hier in der amerikanischen
Filmindustrie.

Film in Europa ist eben nicht wirklich eine
Industrie...
Während hier in den USA alles unter sehr
kommerziellen Gesichtspunkten ge-
schieht. Ich mag die Möglichkeit, mit mög-
lichst vielen unterschiedlichen Filmema-
chern zu arbeiten. Dabei ist mir egal, wo-
her sie kommen. Wenn es an mir läge, wür-
de ich in jedem Land einen Film drehen.

Gerade haben Sie in Frankreich in Wes An-
dersons neuem Film „The French Dis-
patch“ mitgewirkt. Wie fühlte es sich an,
in diese Filmfamilie um Bill Murray, Tilda
Swinton, Willem Dafoe, Owen Wilson und
die anderen aufgenommen zu werden?
Unfassbar gut, die coolste Erfahrung mei-
nes Lebens. Ich fühlte mich wie auf einem
Trip oder in einem Traum, der wahr wur-
de. Weil ich so ein Riesenfan von Wes bin.
Jeden Tag schaute ich mich um, sah all die-
se bekannten Gesichter und dachte: „Das
sieht aus wie ein Wes-Anderson-Film. Ich
sehe aus wie in einem Wes-Anderson-
Film. Oh mein Gott, ich bin in einem Wes-
Anderson-Film!“(lacht)Und mit Bill Mur-
ray fachsimpelte ich immer über unser
Lieblingsbaseballteam, die Chicago Cubs.

Wissen Sie schon,ob der Film die Filmfest-
spiele in Cannes eröffnen wird?
Nein, aber das wäre toll.

interview: richard pleuger

Lyriker des Freiheitskampfes


Dernicaraguanische Priester, Dichter und Fürsprecher des sandinistischen Regimes, Ernesto Cardenal, ist gestorben


„Fernsehen und Kino
sindfür uns Frauen
Kanäle, um unsere
Frustrationen auszudrücken.“

Feuilleton
Der Hohenzollernstreit führt in
ein neurechtes Netzwerk in
den Geisteswissenschaften 11

Literatur
Aris Fioretos’ Roman nach dem
Vorbild der Fliegerin Melli Beese:
„Nelly B.s Herz“ 12

Forum
Beharren mit System: Warum die
Krankenversicherung erneuert
werden muss. Lesermeinungen 13

Wissen
Nicht nur die Schlafdauer ist
wichtig – auch auf den
Rhythmus kommt es an 14

www.sz.de/kultur

„Das Patriarchat überwinden“


Elisabeth Moss, bekannt für kämpferische Frauenrollen, über Wut, Vorbilder und ihren neuen Film


Der Polit-Hip-Hop-Pionier William Jona-
than Drayton, Jr. alias Flavor Flav ist nicht
mehr Teil vonPublic Enemy. Der 60 Jahre
alte Rapper war 37 Jahre lang Mitglied der
legendär aggressiv-sozialkritischen Hip-
Hop-Band. Mit Public-Enemy-Kopf Carl-
ton Ridenhour alias Chuck D – der auch die
Rechte am Bandnamen hält – hatte sich
Flavor Flav über einen Wahlkampfauftritt
der Gruppe für Bernie Sanders zerstritten.
Flavor Flav, so Chuck D in einem offiziellen
Statement, habe sich entschieden, „nur für
Geld zu tanzen und nicht für einen wohltä-
tige Zweck wie diesen“. sz

Adam Fischer, Chefdirigent der Düsseldor-
fer Symphoniker, bleibt bis 2025 auf sei-
nem Posten. Der 70-jährige Ungar habe sei-
nen Vertrag verlängert, teilte das städti-
sche Orchester mit. Fischer arbeitet auch
mit Orchestern wie den Wiener, Berliner
und Münchner Philharmonikern. In die-
sem Frühjahr dirigiert er an der Scala in
Mailand Wagners „Tannhäuser“ und in
Wien Beethovens „Fidelio“. Für sein huma-
nitäres Engagement erhielt er 2018 den is-
raelischen Wolf-Preis. Den Menschenrech-
ten widmet Fischer jährlich ein Sonderkon-
zert in Düsseldorf. dpa

Las die Bibel als urkommunistisches Ma-
nifest: Ernesto Cardenal, der am Sonntag
in Managua verstarb. FOTO: AFP

von jörg häntzschel

D


iese Woche soll endlich alles gut
werden für das Humboldt-Forum.
Am Mittwoch trifft sich der Stif-
tungsrat, bald darauf soll der Eröffnungs-
termin verkündet werden, 11. September,


  1. September oder 3. Oktober. Das von
    Baupannen, internen Kämpfen und der Ko-
    lonialismusdebatte verfolgte Großprojekt
    muss auf die Zielgerade, Kulturstaatsmi-
    nisterin Monika Grütters besteht darauf.
    Doch ob das wirklich gelingt, daran ha-
    ben die Verantwortlichen immer größere
    Zweifel. Das geht aus einem Papier hervor,
    das die Ergebnisse der „Akteursrunde“
    vom 12. Februar zusammenfasst und das
    der SZ vorliegt. Dort trafen sich Vertreter
    der vier beteiligten Institutionen – Stif-
    tung Humboldt-Forum, Staatliche Muse-
    en, Humboldt-Universität und Stadtmuse-
    um Berlin –, um sich auf den Terminplan
    zu einigen: in diesem Herbst also die Eröff-
    nung von Erdgeschoss und erstem Stock
    mit einer Ausstellung zum Thema Elfen-
    bein, mit der Berlin-Schau und dem Hum-
    boldt-Lab der Humboldt-Universität (HU).
    Im nächsten Jahr dann erst der West- dann
    der Ostflügel der oberen Stockwerke, be-
    spielt von Ethnologischem Museum und
    Museum für Asiatische Kunst.
    Doch es ging bei der Sitzung auch um
    vieles andere: um Veranstaltungsräume,
    um Außenflächen, sogar um Maßnahmen
    gegen Terroranschläge. Vor allem ging es
    darum, was „eröffnungskritisch“, was „in
    Verzug“ oder „ablauferschwerend“ ist, was
    „Eröffnung 1 gefährden“ kann, und wo
    „Imageschäden“ drohen. In einer Daten-
    bank sollen die Mitarbeiter alle „Vorgän-
    ge“ nach diesen Kriterien klassifizieren.
    „Irgendwie eröffnen“, „irgendwas eröff-
    nen“, so sagen Beteiligte, nur das zähle
    noch nach 20 Jahren Planung für das wohl
    größte neue Kulturprojekt in der Geschich-
    te der Bundesrepublik. Letztlich konstatie-
    ren aber auch die Verantwortlichen, dass
    die „Baufertigstellung zu August realisier-
    bar, aber risikobehaftet“ sei, und: „Es gibt
    keine weiteren Puffer für Verzögerungen
    und eintretende Risiken.“
    Eine solche Verzögerung gibt es bereits:
    Der für die Luftbefeuchtung zuständige
    Teil der Klimaanlage war zu klein bemes-
    sen, Kompressoren seien ausgefallen, sagt
    ein Mitarbeiter. Deshalb müssten jetzt
    neue Leitungen verlegt werden. Die Stif-
    tung bestätigt – und beschwichtigt: Noch
    im März würde die Sache behoben.


An diesem Punkt stand man schon ein-
mal: Die Eröffnung im November 2019 fiel
unter anderem deshalb aus, weil die Klima-
anlage nicht funktionierte und weil Muse-
en ihre Stücke nicht in ein Haus ohne stabi-
les Klima verleihen. Wenn nun, wie im
Papier festgehalten, bis Juli ein „4-monati-
ges Klimaprotokoll erzeugt werden“ soll,
was notwendig sei „um die Leihgaben zu er-
halten und im August einzubringen“, müss-
te die Klimaanlage ab sofort stabil laufen.
Auch für die Außenflächen sind „Be-
schleunigungsmaßnahmen erforderlich“,

heißt es, vieles soll nur „provisorisch her-
gerichtet“ werden. Und selbst bei der Vor-
sorge vor Anschlägen gegen das Haus und
seine 3,5 Millionen jährlich erwarteten Be-
sucher denkt man pragmatisch: „Ein tem-
porärer Schutz vor großen LKWs“ könne
„nur mit immensen Aufwänden erreicht
werden. ... Es wird deshalb nach einer vor-
läufigen Sicherung gegen PKWs gesucht“.
Es gibt durchaus Teile des Schlosses, so
die Berlin-Ausstellung, in denen der Auf-
bau nach Plan läuft. In anderen aber ist
man lange im Verzug. Dazu gehört auch
das „Lab“ der HU, dessen Macher seit Mo-
naten darauf warten, mit der Installation
beginnen zu können. „Wir hätten die Flä-
chen im Oktober übernehmen sollen, dann
hieß es ,Anfang Januar‘, jetzt haben wir
März. Wir kompensieren viel von der Ver-
peiltheit, aber irgendwann sind wir mit un-
serem Latein am Ende“, so ein Beteiligter.

Jetzt soll alles gleichzeitig passieren:
der „Baubetrieb“ soll „beschleunigt“ wer-
den, „Baufertigstellung und Probebetrieb
weitgehend parallel“ laufen (aber so, „dass
sich die beiden Vorgänge möglichst nicht
gegenseitig einschränken“), die „Spender-
tage“ im August sollen als „Generalprobe“
firmieren, und außerdem wird ab sofort
„zügig“ mit der „Besiedelung“ von Büros
im Schloss begonnen. Und das, obwohl die
Betriebsgenehmigung, wenn überhaupt,
erst Ende August erteilt wird.
Offiziell spricht die Stiftung von „Zwi-
schennutzung“ und „Vorbereitung der IT-
oder Veranstaltungstechnik“, andere sa-
gen, man quartiere die Mitarbeiter dort
ein, weil deren Zahl, zur Zeit sind es 200,
bald fast 400, so schnell wachse, dass
anderswo kein Platz mehr sei.
Es knirscht aber auch zwischen den In-
stitutionen, die hier in eine irre Struktur
von Kreuz- und Quer-Loyalitäten und -Zu-
ständigkeiten gezwungen wurden. Auf der
einen Seite stehen die wenigen, mager
ausgestatteten Kuratoren von den Museen
und der HU, auf der anderen das Heer neu
angestellter Mitarbeiter der üppig finan-
zierten Stiftung. Die Museumsleute fühlen
sich an den Rand gedrängt von den selbst-
bewussten Kollegen, denen sie nicht viel
zutrauen. Die Stiftungsleute klagen über
die „Engstirnigkeit“ der Museumsmen-
schen, die nicht auf der Höhe der Debatte
seien. Als Raffael Gadebusch, Sammlungs-
leiter des Museums für Asiatische Kunst,
sein Konzept für die Elfenbeinschau vor-
stellte, war „der Gegenwind“, so die einen,
die „Übergriffigkeit“, so die anderen, so hef-
tig, dass er als Kurator hinschmiss.
Nicht überforderte Kompressoren, son-
dern überforderte Menschen sind das wah-
re Problem des Humboldt-Forums. Es ist
die Angst, das Festhalten an teils 20 Jahre
alte Konzepte und die Erwartung, wenn
das Haus nur fristgerecht fertig würde,
seien alle zufrieden. Es wird umgekehrt
sein: Jeder Konflikt, den man heute, weil
„ablauferschwerend“, unterdrückt, jede
Debatte, die man nicht führt, wird den Ver-
antwortlichen um so krachender auf die
Füße fallen, wenn das Haus eröffnet ist.

DEFGH Nr. 52, Dienstag, 3. März 2020 HF2 9


Die Museumsleute fühlen sich an
den Rand gedrängt von
den Kollegen der Stiftung

Es gibt Teile des
Schlosses, in denen der Aufbau
Monate im Verzug ist

Kompensation der


Verpeiltheit


Das Humboldt-Forum soll im Herbst eröffnet


werden. Ob das gelingt, ist fraglich


„Public Enemy“


entlässt Flavor Flav


Dirigent Adam Fischer


bleibtin Düsseldorf


Bloß weil niemand zu sehen ist, heißt das nicht, dass kein toxischer Mann in der Nähe wäre – Elisabeth Moss im Horrorthriller „Der Unsichtbare“. FOTO: UNIVERSAL


So leitartikelig es in seinen
Gesängen oft zuging, er konnte
auch hemmungslos lieben

FEUILLETON


HEUTE

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