Carsten Volkery Cornwall
M
anchmal, wenn es
zu stürmisch ist und
er nicht rausfahren
kann, sitzt Andrew
Trevarton in seinem
Wohnzimmer und blickt aufs Meer.
Was er dort in britischen Gewässern
sieht, verschlechtert seine Laune
noch mehr: Sechs Seemeilen vor der
Küste ziehen französische Kutter ihre
Netze durch sein Revier. „Ich frage
mich, warum die aus hundert Meilen
Entfernung herkommen dürfen,
während ich nicht fischen kann“,
sagt er. Die französischen Boote sind
größer und seetüchtiger, deshalb
können sie auch fernab ihres Heimat-
hafens bei hohem Wellengang arbei-
ten. Direkt vor England.
Trevarton lebt in Mevagissey, ei-
nem idyllischen Fischerdorf in der
Grafschaft Cornwall im äußersten
Südwesten des Landes. Wie die meis-
ten Einheimischen fischen der
53-Jährige und sein Sohn James mit
einem Boot, das nur zwölf Meter lang
ist. Das macht sie abhängiger von
Wind und Wetter. In dieser Februar-
woche waren sie erst einen Tag auf
dem Wasser, und der Fang war wie-
der einmal enttäuschend.
Konfliktpotenzial im Kanal
In Zukunft soll das alles anders wer-
den – wenn Großbritannien erst wie-
der „ein unabhängiger Küstenstaat“
ist, wie Trevarton sagt. Der Brexit gilt
unter den Fischern Cornwalls als ein-
malige Gelegenheit, ihre siechende
Branche wiederzubeleben. Es gehe
nicht darum, alle französischen Kut-
ter aus britischen Gewässern zu ver-
bannen, betont Trevarton. „Aber es
muss gerechter zugehen.“
In Brüssel beginnen diese Woche
die Gespräche über ein Freihandels-
abkommen zwischen Großbritannien
und der Europäischen Union (EU).
Die Fischerei ist einer der größ-
ten Streitpunkte, denn der Ärmelka-
nal wird von beiden Seiten als
Heimat revier beansprucht. Fischer
aus Cornwall und der Bretagne po-
chen auf ihr jahrhundertealtes Ge-
wohnheitsrecht. Immer wieder
kommt es zu Machtspielen in der
Meerenge. Dann umzingeln die Boo-
te der einen die anderen. Mal geht es
um die Hummerkörbe, mal um die
Jakobsmuscheln, mal um den Kabel-
jau. Die Franzosen zögen ihre schwe-
ren Netze häufig über die Hummer-
körbe auf dem Seeboden und mach-
ten diese so unauffindbar, erzählt
ein Fischer im Hafen von Newlyn.
„Das ist denen vollkommen egal.“
Am Verhandlungstisch sollen nun
die Regeln neu geschrieben werden.
Statt der bisher geltenden histori-
schen EU-Fangquoten will die briti-
sche Regierung die Anteile jährlich
neu verhandeln – so wie Norwegen
es auch macht. „Wir werden die Ho-
heit über unsere Küstengewässer zu-
rückerlangen“, bekräftigte Vize-Pre-
mier Michael Gove vergangene Wo-
che im britischen Parlament.
Die Europäer hingegen, allen vo-
ran Frankreich, wollen ihren Fi-
schern den Zugang zu den britischen
Gewässern auf Dauer sichern. Denn
diese zählen zu den ertragreichsten
Europas. Laut Verhandlungsmandat
strebt die EU „stabile Quoten“ an, die
nur in beiderseitigem Einvernehmen
geändert werden können. „Die Fi-
scher haben ein Recht, geschützt zu
werden“, sagte die französische Eu-
ropaministerin Amelie de Montcha-
lin. „Sie wissen, dass sie viel verlieren
werden, wenn wir einen schlechten
Deal unterschreiben.“
Gesamtwirtschaftlich gesehen ist
der Kampf ums Meer nur eine Rand-
notiz. Die Fischerei macht auf beiden
Seiten einen verschwindend geringen
Anteil der Wirtschaftsleistung aus. In
Großbritannien sind es weniger als
0,1 Prozent. Zum Vergleich: Die Fi-
nanzindustrie erwirtschaftet rund
sieben Prozent des Bruttoinlandspro-
dukts.
Politisch könnte die Bedeutung der
Fischerei kaum größer sein. Beide
Seiten greifen zu scharfer Rhetorik.
Der Streit könne die Handelsgesprä-
che zwischen Briten und Europäern
insgesamt zum Scheitern bringen,
warnt De Montchalin.
Die britische Regierung hat die
Kontrolle über die eigenen Gewässer
zum Lackmustest für den Brexit er-
hoben. In der Brexit-Folklore ist der
Fischer aus Cornwall zum Symbol
des benachteiligten „kleinen Man-
nes“ geworden, dem in Brüssel übel
mitgespielt wird.
Das Gefühl der Ungerechtigkeit
lässt sich anhand von Zahlen illustrie-
ren. EU-Kutter haben ein Anrecht auf
mehr als 60 Prozent des Fischs in bri-
tischen Gewässern – und sie dürfen
auf bis zu sechs Seemeilen an die
Küste heranfahren. Die Briten hinge-
gen müssen auf der gegenüberliegen-
den Seite zwölf Seemeilen Abstand
halten, die doppelte Distanz.
Festgelegt wurde dies in der ge-
meinsamen europäischen Fischerei-
politik. Sie wurde 1970 mit dem Ziel
formuliert, allen europäischen Fi-
schern gleichen Zugang zu EU-Ge-
wässern zu gewähren. Als Großbri-
tannien 1973 der Gemeinschaft bei-
trat, musste sich London auf Quoten
einlassen, die an historischen Fang-
mengen bemessen waren.
Heutzutage legen die EU-Agrarmi-
nister jeden Dezember eine Gesamt-
fangmenge für das kommende Jahr
fest. Diese richtet sich im Sinne der
Nachhaltigkeit danach, wie sich die
Fischbestände entwickelt haben.
Aber die Anteile der einzelnen
Länder bleiben unverändert. Bis heu-
te stehen den Franzosen so 84 Pro-
zent des Kabeljaus vor Cornwall zu –
und den Briten nur neun Prozent.
„Es war der politische Preis, den wir
für den EU-Beitritt zahlen mussten“,
sagt Paul Trebilcock vom Fischerei-
verband Cornwall in Newlyn.
Schrumpfende Branche
Künftig soll damit aus britischer Sicht
Schluss sein. Mindestens müsse die
Exklusivzone von sechs auf zwölf
Meilen vergrößert werden, fordert
Trebilcock. Allein das würde den
Umsatz der lokalen Fischer um 30
Prozent erhöhen.
Aus dem Fenster seines Büros
blickt der Verbandsvertreter auf das
Treiben im Hafen von Newlyn. Rund
100 Fischerboote liegen hier. Im Un-
terschied zu den großen schottischen
Häfen, wo es auch größere Unterneh-
men gibt, besteht die Branche in
Cornwall im Wesentlichen aus klei-
nen Familienbetrieben: zwei, drei
Mann mit einem Boot. Auch Trebil-
cock ist praktisch auf dem Boot sei-
nes Vaters groß geworden, hat sich
dann aber für den Schreibtischjob
beim Verband entschieden. Die Bran-
che schrumpft seit Jahren, landesweit
gibt es noch 12 000 Fischer und
6 000 Boote. Das Durchschnittsalter
der Fischer liegt bei über 50, der
Nachwuchs lässt sich nur schwer für
den schlecht bezahlten Knochenjob
begeistern.
Die Crews sind häufig Zuwanderer
aus Asien, Afrika und Osteuropa. „Ich
würde nicht auf einem Fischerboot
arbeiten“, sagt ein junger Verkäufer
auf dem Fischmarkt in Newlyn. Der
Verdienst schwanke zu stark: An
manchen Tagen verdiene man viel,
an anderen Tagen gar nichts. „Am
Ende des Tages muss man seine Fa-
milie ernähren können“, sagt er.
Vom Brexit erhoffen sich viele Fi-
scher nun eine Renaissance ihres Be-
rufs. „Wir sehen schon mehr Interes-
se in der jüngeren Generation“, sagt
Trebilcock. Der Verband entwickele
gerade ein Ausbildungsprogramm.
Wenn es einen klaren Karriereweg
gebe, kämen die jungen Leute wie-
der. Der dreifache Familienvater
hofft, dass auch seine Kinder Fischer
werden: „Den Opa würde es freuen.“
Auch Andrew Pascoe erwartet neu-
es Wachstum. Das Geschäft habe sich
seit dem Brexit-Votum im Jahr 2016
schon verbessert, erläutert der
50-jährige Skipper. Er steht auf dem
Deck seines Kutters „Ajax“, während
dieser vollgetankt wird. Dank des
schwachen Pfunds exportiere man
mehr in die EU. Zugleich seien die
Fischpreise auf dem Heimatmarkt
um 20 Prozent gestiegen. Wenn dem-
nächst noch die Fangquoten erhöht
würden, könne man den Umsatz wei-
ter steigern.
Er plädiert dafür, die britischen
Fangquoten schrittweise anzuheben.
Es ergebe keinen Sinn, die Quote auf
einen Schlag zu erhöhen und dann
gar nicht alle Fische fangen zu kön-
Handelsgespräche
Fischer
warnen Johnson
vor Verrat
Briten und Franzosen streiten um Fischfanggründe
im Ärmelkanal. Der Konflikt droht die
Handelsgespräche in Brüssel zu torpedieren. Die
Fischer erhöhen den Druck auf Premier Johnson.
Wir werden
die Hoheit
über unsere
Küsten -
gewässer
zurück -
erlangen.
Michael Gove
britischer Vizepremier
Wirtschaft & Politik
DIENSTAG, 3. MÄRZ 2020, NR. 44
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nen, sagt er. Die britische Flotte sei
nicht groß genug. Die Europäer soll-
ten daher nicht komplett aus den
Küstengewässern verbannt werden.
„Wir wollen nicht, dass französische
Fischer ihre Jobs verlieren“, sagt er.
„Sie arbeiten genauso hart wie wir
und haben auch Familien zu ernäh-
ren.“ Es könne aber nicht so weiter-
gehen, dass er und seine Kollegen re-
gelmäßig zu viel gefangene Fische
über Bord werfen müssten, weil ihre
Quote zu knapp bemessen sei.
Premierminister Boris Johnson hat
die Fischerei zu einer seiner fünf
Prioritäten in den Verhandlungen mit
Brüssel erklärt. In den Fischerdör-
fern halten sie viel von der konserva-
tiven Regierung.
Landwirtschaftsminister George
Eustice hat seinen Wahlkreis in Corn-
wall und kennt die Sorgen der Ein-
heimischen. Auch Vize-Premier Go-
ve, früher selbst Landwirtschaftsmi-
nister, gilt als Verbündeter. „Die
Regierung sagt die richtigen Sachen“,
sagt Trebilcock. „Wir können uns
nicht beschweren. So wichtig wie im
Moment war die Fischerei in der Po-
litik noch nie.“
Doch ist die Sorge groß, dass der
Premier sich am Ende auf einen Kuh-
handel mit der EU einlässt – und die
Forderungen der Fischer für die Inte-
ressen der viel wichtigeren Banker
oder Autobauer opfert. Die Regie-
rung betont zwar, man werde den
Zugang zu britischen Gewässern
nicht mit dem Zugang zum Binnen-
markt verknüpfen. Vielmehr wolle
man ein separates Abkommen errei-
chen.
EU größter Exportmarkt
Aber die Fischer sind skeptisch. Sie
wissen, wie einflussreich die Kollegen
auf dem Kontinent sind. „Die franzö-
sischen Fischer haben ihre Regierung
in der Hand“, sagt Iain Haggis auf
dem Fischmarkt in Newlyn. „Die pro-
testieren, bis sie ihren Willen bekom-
men.“ Sie könnten etwa die Häfen
blockieren.
„Wir sind besorgt, dass sich nicht
genug ändert“, bestätigt Trebilcock.
Allerdings habe Johnson so hohe Er-
wartungen geweckt, dass er kaum
hinter seine Worte zurückkönne.
„Wenn die Regierung nicht einmal
die Kontrolle über unsere Gewässer
wiederherstellen kann, wird die Öf-
fentlichkeit denken, dass sie den Bre-
xit gar nicht liefern kann“, sagt er.
Auch Trevarton warnt den Premier,
dass der Status quo nicht akzeptabel
sei. „Wenn Boris Johnson nachgibt,
wäre das eine nationale Schande“,
führt er aus, „dann wird er nicht lang
an der Macht bleiben.“
Am Ende führt jedoch kein Weg an
einer neuen Kooperation mit den Eu-
ropäern vorbei, da sind sich alle ei-
nig. Denn es geht nicht nur um die
Quoten, sondern auch um den Ab-
satzmarkt.
Drei Viertel des britischen Fischs
werden in die EU exportiert. Fischer
Tom McClure fürchtet vor allem, dass
Zölle und Grenzkontrollen den Ex-
port verteuern oder unmöglich ma-
chen. Bisher laufe es so, dass er sei-
nen Fang abends in Newlyn auslade
und dieser am nächsten Tag schon in
Europa sei, erzählt er. Da Fisch leicht
verderblich sei, könne man sich Pro-
bleme beim Transport nicht leisten.
Der britische Markt könne den gan-
zen Fisch gar nicht aufnehmen. „Die
Briten essen nicht so viel Fisch.“
Fischer vor der britischen
Küste: Die Branche setzt auf
bessere Fangregelungen.
Bloomberg/Getty Images
Kampf mit Symbolcharakter: Fischfang im Ärmelkanal
Großbritannien und die 6-Meilen-Grenze
Anteil am Bruttoinlandsprodukt Großbritanniens 2018
nach Sektoren in Prozent
75 %
Sonstige
Bereiche
Mevagissey
Le Havre
Brest
Calais
6-Meilen-Zone
Newlyn Ärmelkanal
Fischerei
0,1 %
Landwirt-
schaft
0,5 %
Cornwall
Großbritannien
London
Frankreich
Finanzdienst-
leistungen
6,9 %
Industrie/
Produktion
17,5 %
HANDELSBLATT
Quellen: Landwirtschaftsministerium, House of Commons Library, Statista, ONS
50 km
Verhandlung über US-Deal
Räucherlachs
gegen
Cowboyhüte
K. Leitel, C. Volkery London
W
ährend in Brüssel die Ver-
handlungsteams der EU
und Großbritanniens offi-
ziell die Gespräche über einen Han-
delsdeal begonnen haben, gab der
britische Premier Boris Johnson in
London den Startschuss für die Ge-
spräche über ein Abkommen mit den
USA. „Indem wir Räucherlachs aus
Schottland gegen Stetson-Hüte aus-
tauschen, werden wir unseren Kon-
sumenten niedrigere Preise und
mehr Auswahl bieten“, sagte der Re-
gierungschef am Montag und kündig-
te an, „hart zu verhandeln“.
Noch im März sollen die Verhand-
lungen zwischen den USA und Groß-
britannien offiziell starten. Die USA
sind nach der EU der zweitgrößte
Handelspartner Großbritanniens.
2018 ging fast ein Fünftel aller briti-
schen Exporte nach Amerika, wäh-
rend elf Prozent aller Importe von
dort bezogen wurden. Im Vergleich
dazu gingen 45 Prozent der briti-
schen Exporte in die EU, 53 Prozent
der Importe kamen aus der EU.
Würde man die Handelsbeschrän-
kungen aufheben, hätte das „enor-
me“ Vorteile für die britische Wirt-
schaft, vor allem für kleine und mit-
telgroße Unternehmen, warb die
britische Regierung in dem Doku-
ment zu ihrer Verhandlungsposition.
Auf einer der 148 Seiten nennt die Re-
gierung auch Zahlen: Ein Handelsab-
kommen mit den USA könnte das
Wirtschaftswachstum Großbritan-
niens im Vergleich zu 2018 langfristig
um 0,07 bis 0,16 Prozent steigern.
Auch für die USA wäre ein Deal vor-
teilhaft, werben die Briten, hier sei
ein Plus von 0,03 beziehungsweise
0,05 Prozent zu erwarten.
In dem 30-seitigen Dokument zu
den EU-Verhandlungen, das die briti-
sche Regierung vergangene Woche
veröffentlicht hatte, waren derartige
Schätzungen nicht enthalten. Gleich-
wohl herrscht unter Experten die An-
sicht vor, dass die wirtschaftlichen Fol-
gen des EU-Abschieds durch einen
US-Deal nicht wettgemacht werden
können. Auch Gewerkschaftschefin
Frances O’Grady vom Trades Union
Congress (TUC) kritisiert die Regie-
rung: Diese sollte sich darauf konzen-
trieren, sich mit der EU zu einigen,
und ihre Hoffnungen nicht in US-Prä-
sident Donald Trump setzen, sagte
sie. Zudem sei auch der US-Deal ein
schwieriges Unterfangen, meint Han-
delsexpertin Anahita Thoms von der
Anwaltskanzlei Baker McKen-
zie. „Es ist unmöglich, bis
Ende des Jahres ein Freihan-
delsabkommen mit der EU
und eins mit den
USA auszuhan-
deln“, sagt sie.
Trump könne al-
lenfalls einem
„Pseudo-Deal“
zustimmen, um
die EU vorzufüh-
ren. Die Europäer
müssten Londons
Gespräche mit den
USA jedoch genau
verfolgen, denn sie
könnten Konsequen-
zen für das britisch-
europäische Abkom-
men haben.
Boris Johnson:
Der Premier
arbeitet am
US-Deal.
dpa
Wirtschaft & Politik
DIENSTAG, 3. MÄRZ 2020, NR. 44
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