Handelsblatt - 03.03.2020

(やまだぃちぅ) #1
„Heute ist die Zeit klarzustellen, dass die
EU bereit ist, alle verfügbaren
Politikoptionen zu nutzen – falls und wenn sie
nötig sind –, um unser Wachstum vor den
Risiken des Abschwungs zu schützen.“
Paolo Gentiloni, EU-Wirtschaftskommissar, erwägt wegen der
Coronavirus-Krise Konjunkturmaßnahmen.

Worte des Tages


US-Demokraten


Selbstloser


Akt


P


ete Buttigieg wurde als
„Dorfvorsteher“ verspottet,
der sich anmaßt, Präsident
werden zu wollen. Das hat den ehe-
maligen Bürgermeister aus South
Bend nicht davon abgehalten zu
kämpfen. Der 38-Jährige hat mit sei-
ner starken Rhetorik und seiner
pragmatischen Nüchternheit den
rationalen Diskurs im Wahlkampf
gestärkt, was in diesen Tagen in
den USA keine Selbstverständlich-
keit ist. Und er hat als bekennender
Homosexueller ein Stück Normali-
tät in den USA geschaffen, einem
Land, in dem Homosexualität in
weiten Teilen tatsächlich als Tod-
sünde betrachtet wird.
Buttigieg gebührt Respekt für all
das. Nun hat er die einzig richtige
Entscheidung getroffen und kurz
vor dem wichtigen Super Tuesday,
an dem in 14 Bundesstaaten abge-
stimmt wird, seinen Rückzug ange-
kündigt. Denn damit erhöht er für
die übrigen Kandidaten der Mitte
die Chance, sich gegen Bernie San-
ders, den bekennenden „demokra-
tischen Sozialisten“, durchzuset-
zen. Buttigieg gibt seinen Unterstüt-
zern die Möglichkeit, für jene
moderaten Bewerber zu stimmen,
die tatsächlich eine Chance haben:
allen voran den ehemaligen Vize-
präsidenten Jo Biden, der in South
Carolina einen ebenso fulminanten
wie überraschenden Sieg hingelegt
hat, aber auch für Michael Bloom-
berg, den New Yorker Milliardär,
der erst am Dienstag in das Rennen
einsteigt.
Am Ende ist aus Sicht der Demo-
kraten nicht nur die Frage wichtig,
wer die besten Chancen hat, Kandi-
dat der Partei zu werden. Es geht
vor allem darum, wer gegen Donald
Trump bestehen kann. Da gehört
der junge Mann aus Indiana sicher-
lich nicht dazu. Allerdings war But-
tigieg, der zum Abschied noch ein-
mal eine fast formvollendete Rede
gehalten hat, bei Weitem nicht der
aussichtsloseste Bewerber. Er hat in
Iowa gesiegt, in New Hampshire
war er Zweiter dicht hinter Sanders.
Sein Verzicht ist am Ende also
auch ein Akt der Selbstlosigkeit –
auch das ist in diesen Tagen in
Amerika alles andere als eine
Selbstverständlichkeit.


Pete Buttigieg verzichtet auf eine
Kandidatur, um das moderate
Lager zu stärken. Ein richtiger
Schritt, analysiert Jens Münchrath.

Der Autor leitet das
Auslandsressort.
Sie erreichen ihn unter:
[email protected]


D


ie Festung Europa verteidigt sich mit
Blendgranaten, Tränengas und Pfeffer-
spray. Nicht gegen bewaffnete Aggres-
soren, sondern gegen Flüchtlinge und
Migranten aus den Kriegs-, Krisen- und
Armutsregionen dieser Welt, die oft nicht mehr be-
sitzen als das, was sie am Leibe tragen. Wer noch
den Glauben an ein humanes Europa hatte, dem
droht dieser angesichts der Bilder von Frauen und
kleinen Kindern im Tränengasnebel endgültig ab-
handenzukommen. Was sich im türkisch-grie-
chischen Grenzgebiet abspielt, ist menschenunwür-
dig. Aus machtpolitischem Kalkül schickt der türki-
sche Präsident Recep Tayyip Erdogan die Flüchtlinge
auf die Reise. Aus innenpolitischen Motiven lässt die
EU sie nicht rein. Leidtragende sind die Menschen,
die nun bei Frost im Niemandsland campieren.
Dass es so weit kommen konnte, hat auch mit ei-
ner Art politischem Niemandsland zu tun. Das lässt
sich in Brüssel genauso verorten wie in Berlin und
anderen europäischen Hauptstädten. In diesem Nie-
mandsland sind die politischen Bemühungen ge-
strandet, für eine konsistente und humane europäi-
sche Flüchtlingspolitik zu sorgen. Hier regieren nur
noch Mut- und Tatenlosigkeit, die einer Kapitulati-
onserklärung gleichkommen.
Mit dem maßgeblich auf Drängen von Bundes-
kanzlerin Angela Merkel zustande gekommenen EU-
Türkei-Abkommen haben sich die Europäer Zeit ge-
kauft. Doch ließen sie die Jahre seit 2016, in denen
Erdogan als Türsteher an der Schwelle zu Europa
wachte, ungenutzt verstreichen. Weder gibt es inzwi-
schen ein gemeinsames europäisches Asylrecht noch
wenigstens einen solidarischen Verteilmechanismus,
mit dem sich auf die derzeitig zu beobachtende Zu-
spitzung der Flüchtlingssituation reagieren ließe.
Wer sie sehen wollte, konnte die Folgen dieses
Scheiterns längst in einem anderen Niemandsland
beobachten: in den überquellenden und eines hu-
manen Europas unwürdigen Lagern auf den grie-
chischen Inseln. Trotz vollmundiger Versprechen,
für einen gemeinsamen Schutz der EU-Außengrenze
und eine humane Unterbringung von Asylbewerbern
zu sorgen, lassen die übrigen EU-Staaten das schwa-
che Griechenland mit den Bootsflüchtlingen weitge-
hend allein. Dass an Europas südöstlicher Grenze
jetzt das Asylrecht für einen Monat einfach außer
Kraft gesetzt wird, ist aus Athens Perspektive ver-
ständlich, aber ein weiterer Beleg dafür, dass das
Fundament der Grundwerte, auf denen das europäi-
sche Selbstverständnis ruht, immer brüchiger wird.
Weil Europa sich zu lange blind auf das EU-Türkei-
Abkommen und die geschlossenen Grenzen entlang

der Balkanroute verlassen hat, ist es erpressbar ge-
worden. Und jetzt, da Erdogan die Grenzen öffnet,
ist die Erpressung da. Ohne Unterstützung der Nato
in Syrien, ohne mehr Geld für die in der Türkei le-
benden Flüchtlinge werden sich die Trecks wieder
auf den Weg durch Europa machen, warnt Ankaras
Machthaber – so wie 2015.
Und in Berlin? Eine Situation wie 2015 dürfe sich
nicht wiederholen, heißt es dort – da sind sich Kanz-
lerin Merkel und ihre potenziellen Nachfolger rasch
einig. Eine Antwort auf die Frage, wie sich eine Wie-
derholung denn vermeiden lässt, haben sie aller-
dings nicht. Der Einsatz von Tränengas oder – Gott
behüte – irgendwann vielleicht auch Schusswaffen
kann jedenfalls nicht die Lösung sein. Brüssel und
Berlin werden kaum eine andere Wahl haben, als Er-
dogan entgegenzukommen. Nicht militärisch, weil
der Krieg in Syrien nicht mehr zu gewinnen ist und
der von Russland unterstützte Machthaber Assad das
Land bald wieder ganz kontrollieren wird. Aber bei
der Aufnahme der Zivilisten, die vor den Truppen
des Regimes und russischen Luftangriffen fliehen.
Nur zur Erinnerung: Es waren nicht zuletzt die
EU-Staaten, die zu Beginn des Bürgerkriegs und in
der Hoffnung auf einen zweiten „arabischen Früh-
ling“ die syrische Opposition bestärkt hatten. Da ge-
bietet es die politische Verantwortung, Flüchtlinge,
die die Rache des Diktators fürchten müssen, zu un-
terstützen. Auch wenn es Erdogan war, der durch
den Einmarsch seines Militärs den Krieg noch ein-
mal zusätzlich angeheizt hat.
Europa steht vor der Wahl, Hunderttausende
Flüchtlinge in der umkämpften Region bei Idlib ih-
rem Schicksal zu überlassen oder Flüchtlinge aus
der Türkei aufzunehmen. Da mit gesamteuropäi-
scher Solidarität nicht zu rechnen ist, braucht es ei-
ne „Koalition der Willigen“. Deutschland ist als größ-
te Volkswirtschaft der EU hier besonders gefragt.
Wenn aus Angst vor Stimmengewinnen der AfD jetzt
die Humanität geopfert wird, haben die Rechten
schon gewonnen. Deutschland sollte der Türkei ein
Kontingent von Flüchtlingen abnehmen und hoffen,
dass andere EU-Staaten mitziehen. Ein Land, in dem
man sich dafür entschuldigen müsse, in Notsituatio-
nen ein freundliches Gesicht zu zeigen, sei nicht
mehr ihr Land, hat Kanzlerin Merkel einst gesagt.
Die Menschen in den Tränengaswolken an der tür-
kisch-griechischen Grenze warten darauf, dass
Deutschland wieder sein freundliches Gesicht zeigt.

Flüchtlingskrise


Politisches


Niemandsland


Wenn Flüchtlinge
zum Spielball
werden, stirbt die
Humanität. Die
Politik hat sich zu
lange auf den
Türkei-Pakt
verlassen, meint
Frank Specht.

Die Europäer


ließen die


Jahre, in denen


Erdogan als


Türsteher an der


Schwelle zu


Europa wachte,


ungenutzt


verstreichen.


Der Autor ist Korrespondent in Berlin.
Sie erreichen ihn unter:
[email protected]

Meinung

& Analyse

DIENSTAG, 3. MÄRZ 2020, NR. 44
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„Die Herausforderung, der
Griechenland jetzt
gegenübersteht, ist eine
europäische Herausforderung.“
Ursula von der Leyen,
EU-Kommissionspräsidentin hat Griechenland
und Bulgarien weitere Hilfe zur Bewältigung
erhöhter Ankunftszahlen von Migranten in
Aussicht gestellt.

„An bestimmten Stellen in
Deutschland wird der
Alltag ein Stück
eingeschränkt sein
müssen.“
Jens Spahn, Bundesgesundheitsminister, zu
den Auswirkungen des neuen Coronavirus

Stimmen weltweit


Zur Öffnung der Grenzen zur EU durch die
Türkei schreibt die „Neue Zürcher Zeitung“:

D


ie Bilder von der Grenze rufen Erinne-
rungen an die Flüchtlingskrise wach und
sollen das aus Ankaras Sicht sicherlich
auch tun. Eine Rückkehr zu den Verhältnissen
von 2015 wäre aber kaum im Interesse der Tür-
kei. Vielmehr soll der Preis für die Zusammenar-
beit in der Flüchtlingsfrage in die Höhe getrie-
ben werden. Das Abkommen zwischen der EU
und der Türkei, in dem sich Ankara zu einem
stärkeren Grenzschutz verpflichtet hat, sorgte ab
2016 für einen drastischen Rückgang des Migra-
tionsstroms nach Europa. Konkrete Forderun-
gen hat Ankara bisher nicht gestellt, doch ist
man sowohl auf militärische als auch auf diplo-
matische und finanzielle Unterstützung angewie-
sen. (...) Erdogan hat mit seinem Manöver auf
dem Rücken der Flüchtlinge den Europäern vor
Augen geführt, dass Idlib und Syrien auch ihr
Problem ist. Das Spiel ist zynisch, wirkungslos
ist es aber nicht.

Die belgische Tageszeitung „De Standaard“
geht davon aus, dass die wirtschaftliche Lage
weltweit unter dem Ausbruch des Coronavirus
leiden wird, bis hin zur Rezession:

E


s drängt sich die Frage auf, ob die von
China getroffenen drastischen Maßnah-
men im Nachhinein klug waren. War das
Mittel nicht schlimmer als die Krankheit? Diese
Frage wird vielleicht nie beantwortet werden.
Schließlich lässt sich nicht prüfen, inwieweit die
Maßnahmen die Ausbreitung des Virus verlang-
samt haben. Fest steht jedoch, dass die Wirt-
schaft unter Druck gerät, auch in Europa. Selbst
eine weltweite Rezession ist nicht länger auszu-
schließen. (...) Die Regierungen haben bewie-
sen, dass sie in der Lage sind, schnell und ange-
messen auf die Bedrohung zu reagieren, die das
Virus für die öffentliche Gesundheit darstellt.
Nun gilt es, ebenso entschlossen zu handeln,
um die Gefahr für die Wirtschaft in Grenzen zu
halten. Vielleicht kann dann eine Rezession
REUTERS, imago images/Hans Lucas, imago images/Metodi Popownoch vermieden werden.

Die Londoner „Financial Times“ kommentiert
die Handelsgespräche zwischen
Großbritannien und der EU über die künftigen
Handelsbeziehungen:

Z


um Beginn der Gespräche in Brüssel gibt
es zwischen beiden Seiten Übereinstim-
mung in substanziellen Bereichen und die
Konturen einer „Landing Zone“ – sofern sie zu
Kompromissen bereit sind. Das ist jedoch kein
Grund, selbstgefällig zu sein. Die Regierung von
Premierminister Boris Johnson glaubt, eine wag-
halsige Politik und Drohungen hätten im vergan-
genen Jahr die Kompromisslösung für das EU-
Austrittsabkommen ermöglicht. (...) Die EU und
die Wirtschaft sollten seine Drohung, den Ver-
handlungstisch zu verlassen, ernst nehmen. Eine
akzeptable Vereinbarung ist zwar möglich, aber
sie ist nicht vorprogrammiert. (...) Ein Deal wäre
immer noch ein Hauptgewinn. Sollte der Handel
mit der EU nur noch zu den Konditionen der
Welthandelsorganisation möglich sein, würde
den Volkswirtschaften beider Seiten allein schon
durch die Einführung von Zöllen (...) schwerer
Schaden zugefügt werden.“

L


udwig Erhard wusste schon: Die Wirtschaft be-
steht zu 50 Prozent aus Psychologie. Olaf Scholz
hat das offenbar verstanden. Der Bundesfinanz-
minister beruhigte am Wochenende die Nerven von In-
vestoren und Unternehmen, indem er versicherte, man
könne sehr schnell ein Konjunkturprogramm auflegen.
Der nominelle Nachfahre von Ludwig Erhard im Bun-
deswirtschaftsministerium, Peter Altmaier, verkennt
dagegen den Ernst der Lage.
Auch ohne die Auswirkungen des Coronavirus ist die
Lage der deutschen Wirtschaft kritisch. Die Industrie be-
findet sich bereits seit einiger Zeit in der Rezession, das sa-
gen die Konjunkturforscher genauso wie die Wirtschafts-
weisen. Der Bundeswirtschaftsminister spielt dagegen auf
Zeit. Er will immer noch seine Fakten sortieren. Altmaier
hat offensichtlich nicht wahrgenommen, dass die Börsen
in der letzten Woche ihre schwärzeste Zeit seit der Leh-
man-Krise hatten. Auch damals unterschätzte die Bundes-
regierung die Auswirkungen der Finanzkrise. Seinerzeit
war es Peer Steinbrück, der lange beschwichtigte und so-
mit die Situation entgegen vielen Warnungen verschärfte.

Jetzt scheint Altmaier den gleichen Fehler zu bege-
hen. Dabei könnte man aus den Maßnahmen von vor
über zehn Jahren lernen. Wirkungsvoll waren die Steu-
ersenkungen, das Kurzarbeitergeld, die Liquiditätshil-
fen und überraschenderweise auch die umstrittene Ab-
wrackprämie. Die öffentlichen Investitionen hingegen,
die angereizt wurden, blieben schwach. Außerdem wur-
de die damalige Breitbandstrategie als Konjunkturmaß-
nahme verkauft. Die Funklöcher gibt es bis heute.
Jetzt wäre ein gemeinsames Vorgehen von Wirt-
schafts- und Finanzminister umso dringender. Allein
der Ankündigungseffekt würde die Nerven beruhigen.
Die liegen an den Börsen blank, und die Verunsiche-
rung in der Realwirtschaft steigt auch.
Die SPD hat schon vor der Corona-Krise ein Vorzie-
hen der Abschaffung des Solidaritätszuschlags gefor-
dert. Ihn müsste man natürlich komplett abschaffen –
das würde auch dem Mittelstand helfen und neue Spiel-
räume eröffnen. Arbeitsminister Hubertus Heil hat be-
reits öffentlich darauf hingewiesen, dass das Kurzarbei-
tergeld wieder schnell aufleben kann. Und schnelle Li-
quiditätshilfen für notleidende Unternehmen könnte
heute wie während der Finanzkrise schnell die KfW be-
reitstellen.
Altmaier will nun eine Vorlauffrist von drei bis vier
Wochen abwarten. Die erste Meldung über das Corona-
virus gab es schon Ende letzten Jahres. Da hätte man ei-
gentlich vermuten können, dass Altmaier ein paar Maß-
nahmen in der Schublade hat. Momentan hat man den
Eindruck der Orientierungslosigkeit. Und den hat man
nicht zum ersten Mal.

Coronavirus


Altmaiers Fehleinschätzung


Der Wirtschaftsminister will erst
mal die Fakten sortieren. Das hört
sich gut an, ist aber ein Ausdruck
von Orientierungslosigkeit,
argumentiert Thomas Sigmund.

Der Autor ist Ressortchef Politik.
Sie erreichen ihn unter:
[email protected]

Wirtschaft & Politik


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