Christoph Kapalschinski Berlin, Hamburg
M
illie treibt an: Noch zehn Sekun-
den Hampelmann-Sprünge for-
dert die animierte Comicfigur ein.
Dem Kameraauge des iPhone ent-
geht nicht, dass der erschöpfte
Hobbysportler nicht mehr ganz aufrecht in die Hö-
he springt: Gnadenlos geht die Punktezahl zurück.
Die noch namenlose Sport-App mit der virtuel-
len Trainerin „Millie“ ist Ergebnis von über vier
Jahren Entwicklungsarbeit. Der Deutsche Roland
Memisevic hat in Berlin und Toronto ein Start-up
aufgebaut, das mit Künstlicher Intelligenz (KI) Be-
wegungsmuster von Menschen erkennt. Hundert-
tausende von Videoschnipseln hat sein Unterneh-
men Twenty Billion Neurons dafür von Crowdwor-
kern aufzeichnen lassen, hat Leute springen,
winken, gehen lassen. „Wir brauchten tiefen Glau-
ben und langen Atem, um das durchzuexerzieren“,
sagt er dem Handelsblatt. Er geht persönlich ins Ri-
siko: Für sein Start-up hat Memisevic eine Profes-
sur in dem Bereich aufgegeben. Nach einigen klei-
neren Lizenzdeals folgt ab Mai die Bewährungspro-
be: Wird die App, die die Bewegungen von
Fitness-Sportlern besser analysieren soll als alle bis-
herigen, ein Erfolg?
Twenty Billion Neurons ist eine Ausnahme in der
deutschen KI-Szene: Es ist das einzige Start-up, das
es in die Liste der 100 meistversprechenden KI-
Start-ups der renommierten Analyseplattform
„CBInsights“ geschafft hat – und auch das vielleicht
nur deshalb, weil Memisevic in Kanada Talente aus
den dortigen Hochschulen anwerben konnte, an
denen er lange aktiv war.
Eine aktuelle Studie, die dem Handelsblatt vorab
vorliegt, zeigt das Problem: Obwohl KI nach Mei-
nung der meisten Tech-Experten zu einer Schlüs-
seltechnologie für das 21. Jahrhundert wird, geht
die Zahl der Neugründungen in Deutschland zu-
rück. Anfang 2020 gab es gerade einmal 33 mehr
aktive KI-Start-ups als ein Jahr zuvor. Insgesamt
zählte das Münchener Gründer-Zentrum Unterneh-
merTUM nur 247 Start-ups, die sich in Deutschland
mit echten KI-Anwendungen befassen. Diese
Schwäche wird zum Problem im digitalen Wandel.
Potenziell kann KI sehr viele Branchen verän-
dern. Die Technologie beruht auf Forschung zu neu-
ronalen Netzen, die erst durch stärkere Rechenleis-
tung um 2012 zum Durchbruch kam. Grundlage
sind große Datenmengen, aus denen die Technik
Muster herausdestilliert. Anwendungsfelder sind et-
wa die inhaltliche Erkennung von Bildern, also die
Antwort auf die Frage, was konkret auf einem Bild
zu sehen ist. Ähnlich kann KI Muster in Texten inter-
pretieren. Die Hoffnung ist, dass große Datenmen-
gen, die ungeordnet etwa in E-Mails und Verträgen
vorliegen, erstmals maschinenlesbar werden.
Euler Hermes sucht Partner
Experte Philipp Hartmann von UnternehmerTUM
sieht zu wenig Mut in der deutschen KI-Szene: „Wir
sollten uns Sorgen machen, dass große Plattfor-
men etwa aus den USA auch dieses Feld dominie-
ren und eine weitere grundlegende Technik an uns
vorbeigeht.“ Zwar ist 2019 das Investment je Start-
up von 15,6 auf 19,4 Millionen Euro gestiegen –
doch für Hartmann ist das zu wenig: „Im interna-
tionalen Maßstab ist die Gesamtsumme von knapp
2,2 Milliarden Euro, die in deutsche KI-Start-ups ge-
flossen ist, ernüchternd.“ Das zeige der Vergleich:
So viel Geld wie alle deutschen KI-Start-ups zusam-
men habe allein das chinesische KI-Unternehmen
SenseTime eingesammelt. Die Universitätsausgrün-
dung bietet Gesichtserkennung an – auch für den
staatlichen Überwachungsapparat.
Solche Nutzungen schließen sich im freiheitli-
chen Europa weitgehend aus, doch es gibt andere
Bereiche, in denen Deutschland sein spezifisches
Potenzial verpasst. Experte Hartmann sieht etwa in
der gewachsenen industriellen Basis ein gutes Fun-
dament, das bisher zu wenig belastet wird: „Viele
deutsche Gründungen wachsen solide in einem
B2B-Umfeld, aber eben langsam“, sagt Hartmann.
„Die Frage ist, ob dann nicht irgendwann die Gro-
ßen aus Übersee auch hier die Märkte fressen – wie
wir das in anderen Bereichen bereits gesehen ha-
ben“, warnt er.
Vor allem der Zugang zu Daten ist ein Problem.
Wenige der Start-ups nehmen sich wie Twenty Bil-
lion Neurons mit seiner Bewegtbildsammlung die
Zeit, einen eigenen Datensatz aufzubauen. Die Val-
ley-Riesen wie Google und Apple verfügen dagegen
von vornherein über riesige Datenschätze, in China
profitieren Gründer wie SenseTime vom laschen
Datenschutz. Deutsche B2B-Gründer haben es hin-
gegen schwer: „Die deutschen Unternehmen ma-
chen oft Testprojekte mit KI-Start-ups über ihre In-
novationsabteilungen, lassen sie aber nicht an die
Kerndaten. Hier fehlt es an Bereitschaft“, sagt Hart-
mann. „Zu viel bleibt im Bereich Innovation oder
Marketing – Bereiche, in denen der Einsatz ver-
meintlich nicht wehtut.“
Tom Alby möchte ein Gegenbeispiel sein: Er will
KI im Kernbereich seines Geschäftsmodells einset-
zen – doch ihm fehlen bislang die passenden Start-
ups als Partner. Der studierte Computerlinguist lei-
tet die digitale Transformation beim Kreditversi-
cherer Euler Hermes. Die Allianz-Tochter ist vor
einem Monat aus ihrem angestammten Sitz, einem
weißen Hochhaus in Hamburg-Bahrenfeld, in ei-
nen Neubau nebenan gezogen. Der Backsteinbau
ist sichtlich kleiner – auch weil viele Kilometer Ak-
Zu wenig
Künstliche Intelligenz
Eine neue Studie zeigt: Die Zahl der Gründungen bei der Schlüsseltechnologie
sinkt. Dabei gibt es Erfolgsfälle, die zeigen, was möglich wäre.
Moment/Getty Images
Wir sollten
uns Sorgen
machen, dass
große
Plattformen
auch dieses
Feld
dominieren
und eine
weitere
grundlegende
Technik
an uns
vorbeigeht.
Philipp Hartmann
UnternehmerTUM
Unternehmen
& Märkte
DIENSTAG, 3. MÄRZ 2020, NR. 44
16
ten nun nicht mehr bei Euler Hermes lagern. In
den Monaten vor dem Umzug veranstaltete das Un-
ternehmen regelrechte Wettbewerbe, welcher Mit-
arbeiter die meisten Dokumente scannt. Das spart
nicht nur Platz. Alby kann jetzt auch auf einen rie-
sigen digitalisierten Datenpool zugreifen. Das Pro-
blem: Die Schriftstücke sind bislang für Maschi-
nen unverständlich. „Bald gehen auch bei uns die
Babyboomer in Rente – und mit ihnen in Jahrzehn-
ten aufgebautes Fachwissen. Wir müssen uns jetzt
überlegen, wie wir diese Expertise konservie-
ren und gleichzeitig sicherstellen, dass sie sich
weiterentwickelt“, sagt Alby.
Doch kein Gründer steht mit einer Lösung
bereit. „Ich bekomme fast jeden Tag Anrufe
von Dienstleistern, die sagen, dass sie
etwas mit KI machen – aber bei genau-
em Blick dahinter ist es dann doch nur
lineare Regression.“ Also will er selbst zu-
sammen mit einer der Hamburger
Hochschulen eine echte KI über ei-
nen längeren Zeitraum so trainieren,
dass sie Texte aus dem Bereich des
Kreditversicherers verstehen kann. Eine
Partnerhochschule will der Euler-Her-
mes-Manager über eine neue Einrich-
tung finden, die auch Gründern offen-
steht.
Der lokalen Politik dämmert bundes-
weit: Die Stärke der KI-Szene wird zum
Standortfaktor im Wettbewerb zwischen
den deutschen Regionen. Mitte Februar
steht daher Hamburgs Wirtschaftssenator
Michael Westhagemann vor einer Glasfront mit
spektakulärem Blick auf den Hafen. In einem
schiffsförmigen Bürobau entsteht das „Artificial In-
telligence Center Hamburg“, kurz Aric. Es ist ein
konkreter Ort für die Vernetzung von Wissenschaft,
Start-ups und Traditionsunternehmen. „Ein Punkt,
den ich schon lange in dieser Stadt vermisst habe,
ist: Was machen wir eigentlich im Bereich Künst-
liche Intelligenz?“, sagt der parteilose Senator.
„Es gibt einen Zusammenhang zwischen wissen-
schaftlicher Entwicklung und wirtschaftlicher Um-
setzung“, pflichtet ihm der Chef der Hamburger
Förderbank IFB, Ralf Sommer, bei. „Daher ist es
wichtig, dass wir ein Ökosystem auch in diesem Be-
reich entwickeln.“ Als ersten Schritt erhält der Aric-
Verein einen riesigen symbolischen Scheck aus den
Händen des Senators und des Förderbankers – und
400 000 Euro Förderung.
KI als regionaler Standortfaktor
Laut der UnternehmerTUM-Studie sind in Ham-
burg im vergangenen Jahr immerhin sechs neue KI-
Start-ups entstanden, die Gesamtzahl verdoppelt
sich damit fast auf 14. Doch die Hansestadt liegt da-
mit immer noch deutlich hinter München und be-
sonders hinter Berlin zurück.
In der Hauptstadt ist Adrian Locher einer der
Unternehmer, auf denen der Vorsprung beruht.
Der Schweizer Seriengründer bringt zusammen
mit dem KI-Experten Rasmus Rothe aus einem
Souterrain an der Friedrichstraße die Szene voran.
Dort hat er einen Inkubator speziell für KI aufge-
baut. Er gibt Gründern die Möglichkeit, eigene Ge-
schäftsmodelle aufzubauen – auch mithilfe eines 25
Millionen Euro schweren Fonds. „Wir haben in
Europa gar keine Wahl: Wir müssen in die Technik
investieren“, sagt er. „Allerdings gibt es hier im Ver-
gleich zu Amerika und Asien viel zu wenig Leute,
die wirklich groß denken.“ Bei Merantix steckt er
daher die Ziele hoch: Eine der ersten Ausgründun-
gen, die mit KI Mammografiebilder nach Brust-
krebstumoren untersucht, soll ein Marktführer für
die Analyse medizinischer Bilddaten werden. „Wir
wollen konkrete Beispiele schaffen“, sagt Locher.
Eine echte Zusammenarbeit mit etablierten Unter-
nehmen funktioniert nur, wenn die KI-Start-ups ein
Geschäftsmodell mitdenken, ist Lochers These:
„Den Kunden ist letztlich egal, ob KI drin ist oder
nicht. Sie wollen, dass ein Problem gelöst wird.“
Optimistisch stimmt den Unternehmer, dass er in
der Szene immer mehr konkrete Geschäftsmodelle
sieht. „Noch vor einem Jahr haben viele Gründer
etwas mit KI gemacht und dann ein Problem dafür
gesucht, das sie lösen können. Heute denken sie
mehr von Geschäftsmodellen aus“, sagt sein Part-
ner Rothe.
So wie Celonis: In wenigen Jahren ist aus einem
Münchener Studentenprojekt ein Konzern für Un-
ternehmenssoftware geworden. Ende 2019 sam-
melte das Unternehmen 290 Millionen Dollar bei
Investoren ein, die es so mit stolzen 2,5 Milliarden
Dollar bewerteten. Das Erfolgsgeheimnis: Celonis
greift auf vorhandene Daten aus SAP zurück. Auch
DeepL gilt als ein deutscher KI-Star. Die Kölner nut-
zen neuronale Netze, um Übersetzungen zu ver-
bessern – anhand von bereits übersetzten Texten.
Solche Beispiele für solide Geschäftsmodelle ma-
chen Hoffnung: Experte Hartmann hat beobachtet,
dass im Vergleich zu anderen Tech-Start-ups nur
relativ wenige KI-Gründer aufgeben. Selbst von den
2018 aufgeführten Start-ups sind noch drei Viertel
aktiv. „Das ist ein Zeichen dafür, dass der Sektor
reifer wird“, sagt der Experte. Noch hat Deutsch-
land sein KI-Potenzial nicht verspielt.
> Leitartikel Seite 28
Claudia Nemat
„Es mangelt
an Spielraum
und Willen“
Die Technologie-Vorständin der
Deutschen Telekom sagt, Europa
könnte bei KI ein Gegengewicht
zu China und USA aufbauen.
Claudia Nemat:
Seit 2017 Techno-
logievorständin
der Telekom.
Lemrich für Handelsblatt
Berlin 95
München 61
Hamburg 14
Karlsruhe 9
Frankfurt 6
Düsseldorf 5
Potsdam 4
Leipzig 4
Köln 4
Bielefeld 3
Würzburg 2
Tübingen 2
Stuttgart 2
Münster 2
Kassel 2
Freiburg 2
Dresden 2
Darmstadt 2
Chemnitz 2
Bremen 2
Aachen 2
Seeshaupt
Städte mit
einem Start-up:
Saarbrücken
Pfaffenhofen
Passau
Oberursel
Nürnberg
Kleinmachnow
Ludwigsburg
Lippstadt
Kaiserslautern
Ingolstadt
Hofheim
Hannover
Gilching
Essen
Zukunftsmarkt
Künstliche Intelligenz
Zahl der Start-ups in Deutschland
Zahl der aktiven Start-ups
Eingesammeltes Geld
2018
132
2019
214
2020
804 1 236 2 159
Mio. €
247
Start-ups nach Branchen 2020
HANDELSBLATT Stand: Januar 2020 • Quelle: UnternehmerTUM
Logistik, Verkehr
Pharma
Firmensoftware
Mode
Landwirtschaft
Finanzen
Auton. Fahren
Handel
Beratung
Gesundheit
Anderes
Verarbeit. Industrie
Transport, Verkehr 21
20
16
16
12
10
10
9 9 4 4 3 3
Derzeit sieht Telekom-Vorständin Clau-
dia Nemat Deutschland beim Thema
Künstliche Intelligenz (KI) noch nicht
optimal aufgestellt.
Frau Nemat, fällt Deutschland beim
Thema KI weiter zurück?
Vorneweg, Deutschland hat erkannt,
dass KI das Zukunftsthema schlechthin
ist. Der Umgang mit Daten und Algo-
rithmen wird nicht nur über unsere
Wettbewerbsfähigkeit entscheiden, son-
dern auch über den Erfolg politischer
Systeme am Ende des 21. Jahrhunderts.
Allerdings sind wir in Deutschland kei-
ne Weltmeister darin, Daten in Massen
- Stichwort Big Data – nutzbar zu ma-
chen, zu interpretieren, sinnvolle Algo-
rithmen im großen Stil zu entwickeln,
Machine Learning und KI über alle Sek-
toren hinweg voranzutreiben.
Wie lässt sich erreichen, dass mehr KI-
Start-ups gegründet werden?
Generell mangelt es uns in Deutschland
nicht an Ideen und an exzellenter For-
schung. Es mangelt aber häufig an
Spielraum und Willen, sie auszuprobie-
ren und in der Praxis einzuführen. Und
dann – wenn erfolgreich – zu skalieren.
Für Letzteres fehlt auch Wachstumska-
pital, vor allem Later Stage Finanzie-
rung. Und größere Unternehmen soll-
ten partnerschaftlich unter die Arme
greifen. Nur zwei Beispiele von uns:
Unser Start-up-Inkubator hub:raum un-
terstützt Gründer in der Frühphase
nicht nur mit Mentoring und finanziel-
len Mitteln, sondern zum Beispiel auch
mit frühem Zugang zum 5G-Netz. Und
unser Start-up-Programm TechBoost
gibt Start-ups mit cloudbasiertem Ge-
schäftsmodell ein Guthaben für IT-Res-
sourcen.
Warum wäre das wichtig?
Viele Strategien sehen die Verfügbar-
keit von Daten und die Ausbildung von
Fachkräften für KI-Forschung und
-kommerzialisierung als Vorausset-
zung für langfristigen wirtschaftli-
chen Erfolg. Ich bin überzeugt,
dass wir mit einer zielgerichte-
ten Industrie- und Forschungs-
politik Entwicklung und Ein-
satz von KI beschleunigen und
Fehlentwicklungen vermeiden
können. Die Chance, ein
europäisches Gegenge-
wicht zu China und den
USA aufzubauen, ist noch
da. Wir sollten sie enga-
giert nutzen.
Die Fragen stellte
Stephan Scheuer.
Unternehmen & Märkte
DIENSTAG, 3. MÄRZ 2020, NR. 44
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