Handelsblatt - 03.03.2020

(やまだぃちぅ) #1

Verkehr


Freitickets


als Goodie


L


uxemburg hat für alle Bürger
am Wochenende freie Fahrt
mit allen öffentlichen Ver-
kehrsmitteln eingeführt. Nur in der
ersten Klasse müssen die Fahrgäste
noch etwas bezahlen. Damit ist Lu-
xemburg das erste Land weltweit,
das die Verkehrs- und Klimawende
so radikal angeht. Ein Vorbild?
Im Grunde wäre es kein Problem,
auch in Deutschland die Benutzung
von Bussen und Bahnen kostenfrei
zu stellen. Nur sind die Konsequen-
zen ganz andere. In Luxemburg le-
ben rund 600 000 Bürger, dazu
kommen viele Pendler aus den
Nachbarstaaten. Kurzum: Die Ver-
kehrsfrage stellt sich für den Staat
Luxemburg in einer Größenord-
nung wie für die Stadt Düsseldorf.
Wäre der gesamte öffentliche Ver-
kehr inklusive Fernverkehr der
Deutschen Bahn in Deutschland
kostenfrei, würden den Verkehrsun-
ternehmen rund 18 Milliarden Euro
Einnahmen aus dem Verkauf von
Fahrkarten fehlen. Luxemburg kos-
tet das 41 Millionen Euro pro Jahr.
Aber selbst das gewaltige Finanzie-
rungsloch muss kein Argument ge-
gen einen kostenlosen öffentlichen
Verkehr sein. Es ist nicht einmal ge-
sagt, dass der Staat den Einnahme-
ausfall komplett subventionieren
müsste, vorausgesetzt, die Wirt-
schaft ginge etwas kreativer an das
Thema heran. Etwa mit einer Mobili-
tätscard statt eines Firmenwagens.
Dann hätten Mitarbeiter ein gut ge-
fülltes Mobilitätskonto, das sie privat
wie beruflich im Laufe des Jahres ab-
fahren könnten. Pendeln und Ur-
laubsreisen auf Firmenkosten. Sol-
che Modelle gibt es schon, aber viel
zu selten. In Zeiten knapper Fach-
kräfte wäre eine solche Mobilitäts -
card sicher auch ein gutes Werbe -
argument für neue Mitarbeiter.
Geld muss kein Hindernis sein.
Das eigentliche Problem sind die
Kapazitäten. Denn erst müssen
Gleise und Bahnhöfe ausgebaut,
Busse und Züge beschafft werden.
Luxemburg hat schon vor Jahren
damit begonnen, sein Netz zu er-
weitern – immer das Ziel vor Augen,
eines Tages die Tickets abzuschaf-
fen. Denn sonst heißt es: Freie
Fahrt für alle – wegen Überfüllung
aber leider geschlossen.


Firmen sollten die Chance nutzen,
Mitarbeiter mit Mobicards für
Bus und Bahn zu locken,
fordert Dieter Fockenbrock.

„In jedem Fall steht der EZB-Rat bereit,
alle seine Instrumente anzupassen,
wenn erforderlich.“
Luis de Guindos, Vizepräsident der Europäischen Zentralbank,
verspricht, dass die EZB die Wirtschaft wegen des Ausbruchs des
Coronavirus mit geldpolitischen Mitteln stützen könnte.

Worte des Tages


Der Autor ist Chefkorrespondent
im Ressort Unternehmen &
Märkte. Sie erreichen ihn unter:
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D


er Widerspruch könnte kaum größer
sein. Alle großen Konzerne beschäfti-
gen sich mit Künstlicher Intelligenz
(KI), wollen die marktreife Technolo-
gie für sich nutzbar machen oder gar
schon Produkte daraus entwickeln. Doch aufseiten
der Gründer herrscht Flaute. Die Zahl der neu ge-
gründeten KI-Start-ups in Deutschland sinkt. Und
das Kapital, das in diese jungen Unternehmen fließt,
ist verglichen mit den USA oder China bescheiden.
Diese Entwicklung lenkt den Blick auf ein generel-
les Problem. Deutsche Gründer denken häufig nicht
groß genug. Eine zu frühe Orientierung am leicht Er-
reichbaren führt zu Nischen-Geschäftsmodellen.
Doch diese Bescheidenheit ist nicht mehr ange-
bracht. Es ist mehr Orientierung an den globalen
Chancen nötig.
Die Grundlagen für eine ausgeprägtere Start-up-
Dynamik in Deutschland sind da. Geld zu bekommen
ist kein Problem mehr, wenn Team und Geschäfts-
idee stimmen. Beim internationalen Investorenkon-
gress Super Venture in Berlin war dies offensichtlich.
Risikokapitalgeber aus Übersee würden liebend gern
noch mehr Geld in Europa ausgeben. In Nordameri-
ka ist nämlich die Konkurrenz um Gründer inzwi-
schen so stark, dass sie die Rendite der Risikokapital-
geber drückt. In Europa erwarten die Investoren we-
niger Wettbewerb – und erwirtschaften bereits oft
die besseren Renditen für ihre Anleger.
Für die Gründer ist es zudem leichter geworden,
das Geld anzunehmen: Inzwischen verzichten die
Amerikaner darauf, europäischen Gründern nach ei-
nem Investment den Umzug des rechtlichen Sitzes
nach Amerika nahezulegen. Solche Holding-Kon-
struktionen haben sich als kompliziert und unnötig
erwiesen. Erfolge wie die Bewertung von 2,5 Milliar-
den Dollar für das KI-Start-up Celonis belegen, dass
hiesige Gründer attraktiv sein können, wenn sie nur
mutig genug sind.
Allerdings wollen die Großinvestoren auch poten-
ziell große Geschäftsideen sehen – und daran hapert
es gerade bei deutschen Gründern. Das hat mehrere
Ursachen. Zum einen ist die Gründerkultur an deut-
schen Hochschulen noch jung. Schon der Schritt in
die Selbstständigkeit gilt daher als besonders mutig,
selbst wenn die große Vision fehlt.
Viele Ausgründungen entstehen aus Fachprojek-
ten an den Lehrstühlen, die oft eng gesteckte Spezi-
alprobleme behandeln. Deutsche Gründer sehen
zwar zu Recht Chancen in der Anbindung ihrer Ide-
en an die gewachsene produzierende Industrie in
Deutschland. Doch eine zu enge Orientierung an den
Problemen einzelner Erst-Unternehmenskunden

kann dazu führen, dass die Lösungen nur für Ni-
schenmärkte taugen.
Dazu kommt eine gewisse Provinzialität der Start-
up-Szene, die selbst in Berlin zu beobachten ist. Es
sind oft immer wieder dieselben Köpfe, die hinter
Gründungen stecken. Branchentreffen sind ziemlich
deutsch geprägt. Auch die deutschen Wagniskapital-
geber, die Geld bei den hiesigen Family-Offices ein-
gesammelt haben, verknüpfen die Gründer mit deut-
schen Mittelständlern. Die lokalen Kapitalgeber ha-
ben ein Interesse daran, im Wettstreit um die besten
Gründer außereuropäische Investoren außen vor zu
halten. Prominente Investoren wie Klaus Hommels
argumentieren daher gern mit dem vermeintlichen
Ausverkauf der Start-up-Szene nach Übersee. Dabei
fehlt das Bewusstsein: Wenn deutsche Gründungen
internationales Geld anziehen, ist das ein Zeichen
für ihre Stärke. Denn große Geschäftsideen sind von
Anfang an global gedacht.
Sicher gibt es einige echte Standortnachteile.
Deutschland ist für Fachkräfte wegen der Sprachbar-
riere und der neuen Diskussion um Fremdenfeind-
lichkeit ein weniger attraktiver Standort als andere,
insbesondere englischsprachige Länder. Zudem ist
Deutschlands Hochschulszene zwar in der Breite
stark, nicht aber in der Spitze.
Dennoch hat Deutschland als Teil Europas beste
Chancen, von der Flut von Risikokapital zu profitie-
ren. Dazu brauchte es weniger Selbstzufriedenheit
im risikoscheuen Mittelstand, bei den Landes- und
Bundespolitikern und auch bei den Gründern selbst.
Sie müssen erkennen, dass im internationalen Spiel
mehr Mut zu größeren Wetten nötig ist. Internatio-
nale Investoren mit weltweiter Perspektive brauchen
einen leichteren Zugang zur deutschen Start-up-Sze-
ne, da sie den Gründern bei der interkontinentalen
Expansion besser helfen können.
An einigen Stellen tut sich etwas: Der neu formier-
te Start-up-Verband dringt bei der Bundesregierung
mit seiner Forderung nach besseren steuerlichen Re-
geln für Mitarbeiterbeteiligung durch. EU, Bund und
Länder statten ihre Förderbanken besser aus. Ande-
re Dinge gehen zu langsam, etwa die Stärkung der
Hochschulen bei IT-Professuren und die Verknüp-
fung mit internationalen Gründern und Konzernen.
Die deutsche Gründerszene braucht einen stärke-
ren internationalen Blick, um die wirklich großen
Chancen zu ergreifen. Sie muss den Zufluss interna-
tionalen Geldes und Know-hows nutzen.

Start-ups


Deutschen


Gründern fehlt Mut


Geld für junge
Unternehmen ist
inzwischen genug
da. Doch es
braucht mehr
global denkende
Visionäre, meint
Christoph
Kapalschinski.

Selbst in Berlin


ist eine gewisse


Provinzialität


der Start-up-


Szene zu


beobachten.


Der Autor ist Redakteur im Ressort Unternehmen.
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Meinung

& Analyse

DIENSTAG, 3. MÄRZ 2020, NR. 44
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„Das ist das beste
Neugeschäft
aller Zeiten.“
Klaus-Peter Röhler, Deutschlandchef
der Allianz, über die Nachfrage nach
Lebensversicherungen im vergangenen Jahr

„Wie schon bei vergangenen
ähnlichen Situationen wird sich
die Luftfahrt nach zeitlich
begrenzten Einbrüchen
wieder rasch erholen.“
Julian Jäger, Vorstand des Flughafens Wien, über die
durch die Corona-Krise gebremsten Geschäftsaussichten

D


ie Aktien der europäischen Großbanken sind in
den vergangenen Tagen wegen der Coronapanik
an den Märkten gehörig unter die Räder gekom-
men. Die Anleger machen sich Sorgen um den Gesund-
heitszustand der Branche. Sind die Geldhäuser, von de-
nen einige – darunter die Deutsche Bank – immer noch
im Sanierungsprozess stecken, inzwischen stabil genug,
um eine heftige Wirtschaftskrise zu überstehen? Die
Frage ist berechtigt. Denn die Erträge sind wegen der
anhaltend niedrigen Zinsen ohnehin schon unter Druck.
Jeder externe Schock kann sämtliche Renditeziele kip-
pen und den Spardruck noch einmal gewaltig erhöhen.
Fakt ist aber auch: Anzeichen für eine neue systemische
Finanzkrise gibt es – im Moment zumindest – nicht.
Das hat zwei wesentliche Gründe: Erstens sind die
Großbanken heute deutlich besser kapitalisiert. Das
kam nicht ganz freiwillig. Die Aufseher haben den Insti-
tuten die dickeren Kapitalpolster aufgezwungen. Das
verteuerte zwar große Teile des Investmentbankings,
insbesondere im Wertpapierhandel. Es führte aber
eben auch zu einem viel größeren Sicherheitspuffer im

Kreditgeschäft: Faule Kredite können heute nicht mehr
so schnell klaffende Wunden in die Bankbilanz reißen
und ein Institut ins Wanken bringen, weil die Risiken
besser mit Eigenkapital abgesichert sind.
Die Aufseher schauen sich das regelmäßig mithilfe
von Banken-Stresstests an. Dort wird stets auch ein har-
tes Krisenszenario geprüft: eine Rezession, kombiniert
mit einem Anstieg der Arbeitslosigkeit und einem Ein-
bruch der Aktien- und Immobilienmärkte. Fällt die Ei-
genkapitalquote unter eine kritische Marke, müssen die
Geldhäuser nachbessern – obwohl es sich zunächst ein-
mal nur um eine simulierte Krise handelt. Wenn also
das Coronavirus mit seiner rasanten Ausbreitung nun
dazu führt, dass sich die Weltwirtschaft spürbar ab-
kühlt oder gar in den Rückwärtsgang schaltet, dann
sollten die Banken dies grundsätzlich verkraften kön-
nen und nicht in Existenznot geraten. Ansonsten hätten
auch die Aufseher etwas falsch gemacht.
Zweitens haben die Notenbanken ebenfalls aus der
Finanzkrise gelernt. Es ist sehr viel mehr Liquidität im
Markt als 2008. Die milliardenschweren Anleihekäufe
der Europäischen Zentralbank mögen in einigen Län-
dern wie Deutschland umstritten sein. Aber sie sorgen
eben auch dafür, dass das Finanzsystem nicht austrock-
net. Und die Banken haben einen überaus leichten Zu-
gang zum Geldmarkt.
Wer heute also in der Coronadebatte gleich eine neue
Finanzkrise heraufbeschwört, der handelt unverant-
wortlich. Die Banken sind gesünder, das System ist
liquider als damals. Die größte Gefahr ist, dass sich die
Angst verselbstständigt.

Kreditinstitute


Keine Finanzkrise in Sicht


Das Coronavirus mag die Banken
vor Herausforderungen im
Tagesgeschäft stellen. Sie sind
heute aber viel besser kapitalisiert
als 2008, analysiert Kathrin Jones.

Die Autorin ist Ressortleiterin Finanzen.
Sie erreichen sie unter:
[email protected]

Die größte


Gefahr ist,


dass sich


die Angst


verselbst -


ständigt.


AP, dpa, REUTERS

Sparkassen


Überfälliger


Umbau


D


iskussionen über den deut-
schen Finanzsektor drehen
sich häufig um die Com-
merzbank und die Deutsche Bank.
Außer Acht gelassen wird dabei re-
gelmäßig, dass ein großer Teil des
Bankenmarktes vom öffentlich-
rechtlichen Sektor beherrscht wird.
Die Unternehmen der Sparkassen-
Finanzgruppe beschäftigen rund
300 000 Mitarbeiter und kamen zu-
letzt auf ein jährliches Geschäftsvo-
lumen von 2,8 Billionen Euro. Die
Zukunft der deutschen Finanzbran-
che hängt folglich auch ganz we-
sentlich vom Sparkassensektor ab –
und dieser steht vor gewaltigen He-
rausforderungen.
Denn das Geschäftsmodell der
Sparkassen ist vom Zins abhängig –
von seiner bloßen Existenz, von der
Steile der Zinskurve sowie von der
Fristen- und Risikotransformation.
Durch die lange andauernde Nied-
rig- und Negativzinsphase ist dieses
Geschäftsmodell ernsthaft gefähr-
det. Die meisten Institute haben da-
rauf reagiert, Sparmaßnahmen ein-
geleitet und die Gebühren für ihre
Kunden erhöht. Doch in vielen Fäl-
len wird das nicht ausreichen, um
dauerhaft zu bestehen.
Es ist deshalb überfällig, dass der
öffentlich-rechtliche Sektor nun im
Rahmen des Projekts „Sparkasse
reloa ded“ seine Strukturen auf den
Prüfstand stellt, die an vielen Stel-
len zu komplex und zu teuer sind.
Darüber hinaus muss es zu einer
Konsolidierung unter den Spitzen-
instituten kommen. Dass sich die
Sparkassen nach wie vor vier größe-
re Landesbanken, acht Landesbau-
sparkassen sowie elf öffentliche
Versicherer leisten, wirkt wie aus
der Zeit gefallen.
Auch für den Finanzplatz
Deutschland ist zu hoffen, dass sich
die Sparkassen im Gegensatz zu vo-
rangegangenen Reformüberlegun-
gen am Ende zu spürbaren Verän-
derungen durchringen. Denn kleine
kosmetische Eingriffe werden ange-
sichts der schwierigen Rahmenbe-
dingungen nicht ausreichen, um
das Überleben des öffentlich-recht-
lichen Sektors dauerhaft zu sichern.
In diesem Punkt geht es den Spar-
kassen nicht anders als der Deut-
schen Bank und der Commerzbank.

Wenn der öffentlich-rechtliche
Finanzsektor dauerhaft überleben
will, muss er sich grundlegend
reformieren, sagt Andreas Kröner.

Der Autor ist
Finanzkorrespondent in Frankfurt.
Sie erreichen ihn unter:
[email protected]

Unternehmen & Märkte


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