Handelsblatt - 03.03.2020

(やまだぃちぅ) #1
Ozan Demircan, Gerd Höhler Doyran, Athen

M


asoud hat drei Nächte unter frei-
em Himmel übernachtet. Es ist
windig in Doyran an der türkisch-
griechischen Grenze, rund 30 Ki-
lometer südlich vom offiziellen
Grenzübergang an der türkischen Stadt Edirne.
Der Grenzfluss Evros, auf Türkisch Meriç, ist 100
Meter entfernt. Unter einer Baumgruppe haben
der 25 Jahre alte Afghane und gut 150 andere Men-
schen kampiert. Baumstümpfe brennen allmählich
aus, überall liegen Plastikflaschen und Konserven-
büchsen. Zwei Kinder spielen mit Plastiktüten im
Wind, mehrere junge Frauen sitzen in Wolldecken
eingehüllt auf der Wiese. Es riecht nach verbrann-
tem Plastik.
Masoud ist aus der türkischen Hafenstadt Izmir
hierhergekommen, mit Dutzenden anderen Lands-
leuten nach einer siebenstündigen Fahrt in einem
Reisebus. Er hatte eine Arbeit in Izmir, schwarz na-
türlich, und eine Unterkunft. Aber: „In Europa geht
es mir besser“, glaubt er. Am offiziellen Grenzüber-
gang ließ man sie nicht durch, also fuhren sie nach
Doyran. Dort bildet der 30 Meter breite Fluss Meric
die Grenze.

„Ich will nach Frankreich oder
Deutschland“
Mit einem kleinen Motorboot kamen Masoud und
einige andere tatsächlich auf die griechische Seite,
erzählt er aufgeregt. Dann habe die griechische Po-
lizei sie erwischt und fünf Stunden lang festgehal-
ten. „Sie haben mein Geld und mein Mobiltelefon
geklaut und mich dann wieder zurückgeschickt.“
Nun wisse er nicht weiter. „Ich will nach Frank-
reich oder Deutschland“, sagt Masoud, „aber ich
werde wohl in der Türkei bleiben müssen.“
Tausende harren wie Masoud derzeit an der 212
Kilometer langen Landgrenze zwischen der Türkei
und Griechenland aus. Ein Treck an Flüchtlingen
hat sich aufgemacht, seitdem der türkische Präsi-
dent Recep Tayyip Erdogan verkündet hat, die
Grenze zu Griechenland zu öffnen. Auslöser war
ein syrischer Luftangriff auf türkisches Militär im
syrischen Idlib, bei dem mindestens 36 Soldaten
getötet worden waren. Am Sonntag startete die
Türkei daraufhin ihre Militäroperation „Frühlings-
Schutzschild“. Erdogan will die Europäische Union
unter Druck setzen: Europa soll die Türkei bei dem
Bestreben unterstützen, rund drei Millionen Men-

schen in der letzten syrischen Rebellenhochburg
Idlib zu schützen. Deshalb droht der türkische Prä-
sident mit einem neuen Flüchtlingsansturm.
Bisher haben die griechischen Sicherheitskräfte
dem Ansturm der Migranten weitgehend standge-
halten – unter anderem mit Tränengas und Blend-
granaten. Nach Angaben aus griechischen Regie-
rungskreisen wurden seit Sonntag 9 877 illegale
Grenzübertritte vereitelt. 68 Migranten, denen es
gelang, die Sperren zu überwinden, wurden festge-
nommen. Migranten berichten von Misshandlun-
gen durch die griechischen Sicherheitskräfte.
Am Montag entwickelten sich am Grenzüber-
gang Pazarkule/Kastanies neue Scharmützel zwi-
schen der griechischen Polizei und Migranten, die
seit Tagen zu Tausenden den Übergang belagern.
Mehrere Hundert Migranten versuchten, die Sper-
ren an dem Grenzübergang zu überwinden. Der
Flüchtlingsstrom sei von der Türkei „inszeniert
und koordiniert“, sagt der griechische Regierungs-
sprecher Stelios Petsas. Griechenland sei einer
„schweren asymmetrischen Bedrohung der natio-
nalen Sicherheit“ ausgesetzt.
Die griechischen Streitkräfte begannen am Mon-
tag Manöver an der Landgrenze zur Türkei und in
der östlichen Ägäis. Bei der Übung werde mit
scharfer Munition geschossen, teilte das Verteidi-
gungsministerium mit. Alle Sicherheitskräfte wur-
den in höchste Alarmbereitschaft versetzt. Um un-
kontrolliert einreisende Migranten ohne Registrie-
rung abweisen zu können, setzt Griechenland seit
Sonntag alle neuen Asylverfahren aus. Asylgesuche
werden nicht mehr entgegengenommen. Festge-
nommene Migranten sollen, soweit möglich, direkt
in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden.
Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis will am
Dienstag in Begleitung von EU-Ratspräsident
Charles Michel, Kommissionspräsidentin Ursula
von der Leyen und dem Präsidenten des Europäi-
schen Parlaments, David Sassoli, die Grenzregion
besuchen, um sich vor Ort ein Bild von der Lage zu
machen.
Die Regierung in Athen hat die EU-Grenzschutz-
agentur Frontex um Verstärkung gebeten. Nun
prüft die Organisation, wie man Griechenland
schnell und wirksam helfen kann. Nach Informatio-
nen aus Regierungskreisen wünscht sich Athen vor
allem weitere Patrouillenboote für den Einsatz in
der Ägäis. Bisher ist Frontex in Griechenland mit

„In Europa

geht es mir

besser“

Tausende Menschen warten an der


türkisch-griechischen Grenze. Athen


spricht von einer „Bedrohung“ und hat


die europäische Grenzschutzagentur


Frontex um Hilfe gerufen.


Flüchtlingsstrom:
Tausende Migran-
ten wollen über die
griechisch-türki-
sche Grenze nach
Europa gelangen.

Anadolu Agency/Getty Images

Flüchtlinge in Griechenland
Aktuelle Zahlen
auf den griechischen Inseln 1

Nationalitäten der Ankommen-
den im Januar 20202

21 630

7 880

5 812

3 975

2 574

162

42 033

Lesbos

Samos

Chios

Kos

Leros

Sonstige Inseln

1 573

645

186

109

104

519

Afghanistan

Syrien

D. R. Kongo

Irak

Palästina

Andere Länder

HANDELSBLATT

1) Stand: 27.2.2020; 2) Festland und griechische Inseln
Quellen: General Secretariat for Information and Communication, UNHCR

Gesamt
3 136

Gesamt

Wirtschaft

& Politik

DIENSTAG, 3. MÄRZ 2020, NR. 44
6

etwa 600 Mann an der Land- und Seegrenze zur
Türkei im Einsatz. Am Sonntag setzte die Organisa-
tion die Alarmstufe an den Grenzen zur Türkei auf
„hoch“ herauf.
„Wir dachten, die Grenze sei geöffnet“, klagt ei-
ne Mutter in Doyran, die ein kleines Kind auf dem
Arm hält. Beide husten ständig. Sie habe am Frei-
tag von der angeblichen Grenzöffnung erfahren
und sofort ihre Kinder aus der Schule und dem
Kindergarten geholt. Auch sie stammen aus Afgha-
nistan, wohnten seit zwei Jahren im türkischen Is-
parta. Das ist mehr als neun Autostunden von dem
Ort entfernt, an dem sie jetzt unter einem Baum
schlafen mussten. Sie lächelt, während sie sagt,
dass sie eigentlich gar kein Geld mehr für eine
Rückkehr habe.
Die Grenzöffnung durch die Türkei trifft die EU
ins Mark. Ist es noch demokratisch, jemanden wie
Erdogan zu unterstützen? Sich erpressen zu las-
sen? Ist es menschlich vertretbar, jetzt die Grenzen
dicht zu halten? „Wir können euch nicht aufneh-
men“, sagte Friedrich Merz an Menschen wie Ma-
soud gerichtet. Grünen-Chefin Annalena Baerbock
hingegen fordert: „Es müssen Kontingente von
Flüchtlingen, so schnell es geht, in der EU verteilt
werden.“

Athen erwartet, dass die Flüchtlings-
route sich in die Ägäis verlagert
Griechische Experten vermuten, dass sich der Mi-
grationsdruck in den kommenden Tagen von der
Landgrenze, an der die meisten Migranten bisher
scheitern, in die Ägäis verlagern wird, wo die Insel-
lager jetzt bereits mehr als fünffach überbelegt
sind. Auf den griechischen Inseln trafen seit Sonn-
tag nach Angaben der Behörden mehr als 1 000
Migranten ein. Das ist die höchste Zahl in einem
solchen Zeitraum seit der Flüchtlingskrise von


  1. Damals kamen an manchen Tagen bis zu
    10 000 Menschen aus der Türkei zu den Inseln.
    Nach der Schließung der Balkanroute und dem In-
    krafttreten des Flüchtlingspaktes im März 2016 gin-
    gen die Zahlen stark zurück. Am Montagmorgen
    ertrank beim Untergang eines Flüchtlingsboots vor
    der Insel Lesbos ein Kleinkind.
    Es sind vor allem Menschen aus Afghanistan,
    Irak und dem Iran sowie aus Somalia und Eritrea,
    die an der Grenze ihr Glück versuchen. Syrer sind
    seltener zu finden. Sie genießen unter dem Schutz-
    schirm des Flüchtlingspaktes zwischen der EU und
    der Türkei besonderen temporären Schutz. Die EU
    zahlt der Türkei bis zu sechs Milliarden Euro, dafür
    dürfen Syrer in der Türkei zum Arzt, in die Schule
    und erhalten in Härtefällen eine Art Sozialhilfe. Für
    Menschen, die aus anderen Teilen der Welt in die
    Türkei fliehen – ob aus wirtschaftlichen Gründen
    oder weil ihr Leben bedroht ist –, gelten diese Vor-
    teile nicht.
    Die anfängliche Euphorie unter den Migranten
    ist gewichen. „Niemand hat uns gesagt, dass die
    Grenze nach Griechenland in Wahrheit geschlos-
    sen bleibt“, sagt ein Mann. Er steigt in einen türki-
    schen Reisebus. „Wir fahren zurück nach Istanbul
    und warten auf die nächste Gelegenheit.“


Grenze

EU-Staaten verkneifen sich Kritik


an Griechenland


E


s soll ein politisches Signal
sein: EU-Kommissionschefin
Ursula von der Leyen, Rats-
präsident Charles Michel und der
Präsident des Europaparlaments,
David Sassoli, besuchen am Diens-
tag gemeinsam mit Griechenlands
Ministerpräsident Kyriakos Mitsota-
kis die Landgrenze zur Türkei. Mit-
sotakis sprach von einem „wichti-
gen Zeichen der Unterstützung in ei-
ner Zeit, in der Griechenland erfolg-
reich die EU-Grenzen verteidigt“.
Tatsächlich beeilten sich die Ver-
antwortlichen in Brüssel sowie die
Bundesregierung, Athen ihrer Un-
terstützung zu versichern – und ver-
kniffen sich jegliche Kritik am har-
ten Vorgehen der griechischen Be-
hörden gegen ankommende
Migranten. Die Lage an der Grenze
sei „eine europäische Herausforde-
rung“, betonte von der Leyen. Auch
Frankreichs Außenminister Jean-
Yves Le Drian versprach der grie-
chischen Regierung die „uneinge-
schränkte Solidarität“.
Kritisch zu Wort meldeten sich an-
dere: „Jegliche gewalttätigen staatli-
chen Übergriffe sind inakzeptabel
und müssen umgehend aufhören“,
forderte die SPD-Europaabgeordnete
Birgit Sippel. Griechenland sei ver-
pflichtet, alle nationalen, EU- und in-
ternationalen Gesetze einzuhalten.
Der Europa-Fraktionschef der
Christdemokraten, Manfred Weber,
widersprach: Wer sich an den „kol-
lektiven Angriffen auf die Grenze“
beteilige, könne nach einem Urteil
des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte auch kollektiv zu-
rückgeführt werden, sagte der CSU-
Politiker im Deutschlandfunk. „Das
wird jetzt in Griechenland auch
durchgeführt.“ Die Politik will unbe-
dingt verhindern, dass sich die chao-
tischen Zustände vom Herbst 2015
wiederholen, als sich Hunderttau-
sende selbst über die EU-Staaten ver-
teilten. 2015 werde sich nicht wieder-
holen – dieser Satz von Kanzlerin An-
gela Merkel gelte weiterhin, betonte
Regierungssprecher Steffen Seibert.
Erst das Flüchtlingsabkommen
mit der Türkei hatte die Lage im
März 2016 unter Kontrolle gebracht.
Auch diesmal liegt der Schlüssel
nach Überzeugung der Bundesre-
gierung in einer Verständigung mit
Ankara. Die jetzige Situation müsse
überwunden werden, „das geht nur
im Gespräch“, sagte Seibert. Die
Türkei trage eine gewaltige Last, in-
dem sie mehr als 3,5 Millionen
Flüchtlinge und Migranten beher-
berge. Über die Unzufriedenheit
der Türkei mit der Auszahlung der
sechs Milliarden Euro an EU-Hilfen
für syrische Flüchtlinge in dem
Land müsse gesprochen werden.
Berlin wäre durchaus bereit, auf
die Forderung von Präsident Recep
Tayyip Erdogan nach zusätzlichen
Milliarden einzugehen. Der Staats-
minister im Auswärtigen Amt, Mi-
chael Roth (SPD), machte dies be-
reits am vergangenen Dienstag bei
einem Ministertreffen in Brüssel

deutlich. In der Runde sprachen
sich aber mehrere EU-Staaten dage-
gen aus. So lehnte etwa Zypern wei-
tere Zahlungen ab, das über die tür-
kischen Gasbohrungen vor seiner
Küste erbost ist. Am Montagnach-
mittag suchten die EU-Botschafter
nach einer gemeinsamen Linie, am
Freitag sollen zudem die Außenmi-
nister über die Lage in der Türkei
und in Syrien beraten.
Die 2016 zugesagten sechs Milliar-
den Euro etwa für Schulen oder die
Gesundheitsversorgung für syrische
Flüchtlinge sind inzwischen voll-
ständig verplant. Ab Sommer oder
Herbst könnte den ersten EU-finan-
zierten Projekten das Geld ausge-
hen, heißt es in Brüssel. Daher müs-
se man sich über eine Anschlussfi-
nanzierung Gedanken machen.
Allerdings ist die Bereitschaft in
der EU gering, die Mittel direkt an
die türkische Regierung zu überwei-
sen, wie Erdogan dies wünscht. Bis-
lang fließen die Gelder an private
Hilfsorganisationen. Die Unterstüt-
zung sollte auch bei möglichen wei-
teren Zahlungen „nicht direkt in den
türkischen Haushalt fließen“, sagte
der Vorsitzende des Auswärtigen
Ausschusses im Europaparlament,
David McAllister, dem Handelsblatt.
Es gibt aber auch Überlegungen,
die neuen Finanzhilfen stattdessen
an Griechenland zu überweisen.
Dies werde nun in den kommenden
Tagen weiter diskutiert, heißt es in
Brüssel. Griechenland kämpft be-
reits seit Langem mit überfüllten
Lagern auf den Inseln in der Ägäis.
Zudem hat die Regierung Unterstüt-
zung der EU-Grenzschutzagentur
Frontex angefordert. Andere EU-
Staaten sollen nun kurzfristig zu-
sätzliche Beamte und Ausrüstung
mobilisieren.
Erdogan verlangt zudem die volle
Unterstützung der EU für sein Vor-
gehen in Syrien. Damit sind viele
Mitgliedstaaten aber ganz und gar
nicht einverstanden. „Alles, was wir
in Syrien tun, sollte das Mandat des
UN-Sicherheitsrates haben und
nicht auf einseitigen Schritten beru-
hen“, sagte der Sprecher des EU-Au-
ßenbeauftragten Josep Borrell. Lin-
ke, Grüne und einige Experten for-
derten nun Lösungen für die
Menschen an der türkisch-grie-
chischen Grenze. Es brauche end-
lich einen Plan, wie in Griechenland
ankommende Flüchtlinge in der EU
verteilt werden, sagte die Sachver-
ständige Petra Bendel.
Friedrich Merz, Kandidat für
den CDU-Vorsitz, lehnte die Auf-
nahme weiterer Flüchtlinge aus
der Türkei aber strikt ab: „Wir kön-
nen euch hier nicht aufnehmen“,
sagte er an deren Adresse. Norbert
Röttgen wiederum, Konkurrent
um die Parteispitze, mahnte: „Ent-
weder wir Europäer helfen den
Flüchtlingen in der Türkei unter
Kooperation mit der Türkei, oder
die Flüchtlinge werden aus ihrer
Not getrieben zu uns kommen“. E.
Fischer, T. Hoppe, T. Hanke

imago images/Belga

Die


Herausforderung,


der Griechenland


gegenübersteht, ist


eine europäische


Herausforderung.


Ursula von der Leyen,
EU-Kommissionspräsidentin

ddp images/Sven Simon,

Jeder Staat hat


das Recht, seine


Grenze zu


schützen und zu


sagen, ich lasse


jemanden rein


oder nicht rein.


Manfred Weber
EVP-Fraktionschef

Masoud an
der Grenze:
Er möchte
die Türkei
Ozan Demircan verlassen.

Europa


DIENSTAG, 3. MÄRZ 2020, NR. 44
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