Der Spiegel - 29.02.2020

(Jeff_L) #1
des Universitätskrankenhauses im Stadt-
teil Eppendorf.
Keine Frage: Covid-19, wie die vom
Sars-CoV-2 verursachte Erkrankung heißt,
ist in Deutschland angekommen. Wir be-
fänden uns hierzulande »am Beginn einer
Corona-Epidemie«, sagte Bundesgesund-
heitsminister Jens Spahn nach wochenlan-
gem Abwiegeln. Es sei »fraglich, ob unsere
bisherige Strategie, das Virus einzugren-
zen und Infektionsketten zu beenden,
auch weiterhin aufgeht«.
Im Gesundheitsministerium ist von ei-
ner »dynamischen Lage« die Rede, die sich
stündlich ändere. Noch am Mittwoch be-
rief Spahn eine Telefonkonferenz mit allen
Gesundheitsministern der Länder ein und
bat sie, ihre Pandemiepläne zu aktualisie-
ren. Mitarbeiter des Robert Koch-Instituts
(RKI) schrieben derweil laut Sprecherin
Susanne Glasmacher mit Hochdruck an
einem neuen »Rahmenkonzept«, das sich
anders als der Nationale Pandemieplan
nicht auf Influenzaerreger, sondern auf das
neuartige Coronavirus bezieht.
Während in China die Zahl der Neuin-
fektionen zurückgeht, breitet sich der Er-
reger inzwischen in Südkorea, Iran und
Italien aus und zieht von dort in die Welt.
Irak, Afghanistan, Bahrain, Oman, Geor -
gien, Norwegen, Griechenland, Rumänien,
Brasilien, Österreich und die Schweiz, sie
alle meldeten in den vergangenen Tagen
ihre ersten Fälle.
In den USA hatte Nancy Messonnier, Di-
rektorin des National Center for Immuni-
zation and Respiratory Diseases, der Seu-
chenbehörde, am Dienstag eine klare Bot-
schaft für ihre Landsleute. Die Frage sei
nicht, ob sich das Coronavirus in den USA
ausbreiten werde, sagte sie, sondern wann


  • und wie viele Amerikaner dann schwer
    erkranken würden: »Unser tägliches Leben
    könnte massiv eingeschränkt werden.«
    Zwar versuchen die Behörden weltweit
    immer noch, die Ausbreitung des Virus so
    gut es geht zu bremsen, Experten hoffen,
    den neuartigen Erreger wenigstens so
    lange in Schach halten zu können, bis die
    Influenzasaison zu Ende ist, damit sich
    nicht auch noch zwei Seuchenwellen über-
    lagern. Aber inzwischen dürfte klar sein:
    Nun gilt es ebenso dringend, sich auf die
    medizinische Versorgung Tausender, viel-
    leicht Hunderttausender Infizierter allein
    in Deutschland vorzubereiten.
    Was in den vergangenen Tagen an eini-
    gen Orten passierte, kann als Testlauf ver-
    standen werden für das, was in den
    kommenden Wochen auf Ärzte, Kranken-
    häuser, Gesundheitsämter, Ministerien
    und jeden Bürger zukommen wird. Ist
    Deutschland wirklich so gut vorbereitet,
    wie Gesundheitsminister Spahn seit Wo-
    chen behauptet? Reicht die »aufmerksame
    Gelassenheit«, die er zu Beginn empfahl,
    wirklich aus, um die Krise zu bewältigen?


Ist Deutschland gerüstet gegen ein Virus,
das einen Schaden anrichten könne, der
»weit über die Folgen eines reinen Gesund-
heitsnotstands hinausgeht«, wie Jeremy Far-
rar analysiert, Direktor des Well come Trust,
einer der weltgrößten Gesundheitsstiftun-
gen? Er glaubt, das Virus könne eine Ket-
tenreaktion auslösen mit dem »Potenzial
der Finanzkrise von 2008« (siehe Seite 13).
Am Mittwochnachmittag sitzt der Erke-
lenzer Pflegedirektor Stephan Demus in
der leeren Kantine seines Krankenhauses.
Geschlafen hat er kaum in der Nacht zuvor.
Immer noch sind entscheidende Fragen
ungeklärt: Mit wem hatten Bernd B. und
seine Frau Kontakt? Und wo haben sie sich
angesteckt?
Ihre beiden Kinder und die Großmutter
stehen unter häuslicher Quarantäne. Ein
Bürgertelefon wird eingerichtet. Mehrere
Mitarbeiter des Erkelenzer Krankenhau-
ses, die mit B. in Kontakt gekommen wa-
ren, müssen in häusliche Isolierung und
sollen dort nun Tagebuch über ihren Ge-
sundheitszustand führen.
Am Mittwoch tauchen zahlreiche Men-
schen in der Klinik auf, die sich ganz ohne
Symptome auf das Virus testen lassen wol-
len. Die Telefone am Empfang und in den
Büros klingeln durchgehend. »Wir wurden
mit Anfragen überflutet. Es ist ein Wahn-
sinn«, sagt Demus.
Die nächste Schreckensnachricht: Die
Frau von Bernd B. arbeitet als Erzieherin
in einer Kita. Behörden ordneten umge-
hend an, bis Montag alle Schulen und Kin-
dertagesstätten im Kreis zu schließen.
»Wir können nicht garantieren, dass wir

die Infektionsketten gekappt kriegen«,
gab NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef
Laumann (CDU) am Mittwoch bei einer
Pressekonferenz zu.
Auch in Köln ist man alarmiert. Zwei-
mal seit Mitte des Monats, am 13. und am


  1. Februar, war Bernd B. für ambulante
    Untersuchungen, eine Magenspiegelung
    und einen Ultraschall, im Kölner Univer-
    sitätsklinikum. Noch am Dienstagabend
    trifft sich deshalb Johannes Nießen, der
    Leiter des Kölner Gesundheitsamts, mit
    Ärzten der Kölner Uniklinik und weiteren
    Experten zu einer Krisensitzung, die bis
    tief in die Nacht dauern wird.
    B. hatte während seiner Untersuchun-
    gen Kontakt zu zehn Mitarbeitern der Kli-
    nik sowie zu 31 Patienten; das lässt sich
    dem Terminkalender im Klinikcomputer
    entnehmen. Noch in der Nacht rufen Nie-
    ßen und sein Stellvertreter die zehn Kli-
    nikmitarbeiter an und bitten sie, am nächs-
    ten Tag zu Hause zu bleiben. Einer hält
    das zunächst für einen Karnevalsscherz.
    Alle Patienten zu erreichen wird länger
    dauern. »Einer«, sagt Nießen, »ist inzwi-
    schen in Tripolis.«
    Bis Donnerstagabend waren zwar alle
    Tests in Köln negativ. Dennoch: Längst hat
    sich das Virus verbreitet, spätestens wohl
    aus der Karnevalssitzung heraus. So sind
    inzwischen eine Mitarbeiterin aus Bernd
    B.s Immobilienfirma und ihr Lebensgefähr-
    te positiv auf das Coronavirus getestet
    worden. Auch ein Stabssoldat der Flugbe-
    reitschaft aus der Bundeswehrkaserne in
    Köln-Wahn wurde isoliert und in ein Trup-
    penkrankenhaus nach Koblenz gebracht.
    Er hatte mit Bernd B. in Gangelt-Lang-
    broich gefeiert. Das Virus ließ sich bei
    einem Arzt aus Mönchengladbach nach-
    weisen; er war ebenfalls bei der Kappen-
    sitzung dabei. Und schließlich wurden am
    Donnerstagabend 14 weitere Covid-19-Fäl-
    le aus dem Kreis Heinsberg gemeldet.
    Doch wenn schon nach wenigen Tagen
    in Deutschland Ärzte infiziert, viele Kran-
    kenhausmitarbeiter isoliert, die Infektions-
    ketten kaum noch nachvollziehbar und
    alle Verantwortlichen erschöpft sind, was
    soll dann erst passieren, wenn in den
    nächsten Wochen vielleicht Tausende In-
    fizierte in den Wartezimmern sitzen?
    Dass Horrorvisionen, wie sie in Filmen
    wie »Outbreak« oder »Contagion« gezeigt
    werden, ins Reich der Fantasie gehören, da-
    rin sind sich alle Experten einig. Dafür ist
    die Tödlichkeitsrate von Covid-19, die der-
    zeit groben Schätzungen zufolge zwischen
    etwa 0,2 und 2,5 Prozent liegt, zu niedrig.
    Andererseits wäre eine Letalität von 0,
    Prozent doppelt so hoch wie bei einer
    durchschnittlichen saisonalen Grippe – und
    die tötet jedes Jahr Hunderte bis Tausende
    Menschen in Deutschland.
    Mit einer Tödlichkeitsrate von 0,7 Pro-
    zent, wie sie die WHO in China für die


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Titel

MATT ROTH / DER SPIEGEL

US-Epidemiologin Nuzzo

37 %


Quelle: DKI

aller Krankenhäuser in Deutschland mussten
aus Personalmangel im ersten Halbjahr 2019
Intensivbetten sperren.
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