Der Spiegel - 29.02.2020

(Jeff_L) #1
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Literatur

Chemnitzer


Kämpferinnen


 Einfach mal die Welt verän-
dern, Musik machen und Spaß
haben. Dafür ist Gisela von
Dresden nach Chemnitz gezo-
gen. So ein Umzug ist für ech-
te Dresdner natürlich ein Ver-
rat. Von der Schönheit ins
verachtet Hässliche, das macht
man einfach nicht. Paula
Irmschler, 1989 in Dresden
geboren, »Titanic«-Redakteu-
rin, hat ihren ersten Roman
»Superbusen« genannt. So
heißt auch die Band, die die
Romanheldin Gisela in Chem-


nitz mit Freundinnen gründet.
Einfach um für immer zusam-
men zu sein, gemeinsam poli-
tisch links zu bleiben, zu trin-
ken und zu feiern. Die Band
hilft dabei, nicht alt und lang-

weilig und konservativ zu
werden. Von solchen Leuten ist
die Welt ohnehin schon voll
genug. Irmschler erzählt vom
Partyleben in Chemnitz,
vor allem aber von der Politik.
Von den Nazis der Stadt, der
Toleranz der Bürger gegenüber
den Rechtsextremen. Sie er -
zählt von den alltäglichen Be -
drohungen, denen erkennbar
Linke und Menschen, die für
Ausländer gehalten werden,
ausgesetzt sind. Staunend und
spöttisch beschreibt die
Autorin die Sekundenbesuche
wohlmeinender Demons -
tranten, Musiker, Politiker in
der Stadt immer dann, wenn
die Nazis der Stadt allzu

auffällig geworden sind. Und
sie be richtet von der Stille und
dem alltäglichen Kampf da -
nach. »Superbusen« ist auch
ein Roman über den Kampf
der Protagonistin mit sich
selbst. Gisela entspricht nicht
der Körpernorm, ist super-
dick – und davon erzählt die-
ses eindrucksvolle Debüt
ebenfalls: über die Scham, das
Leiden, den nie endenden
Spott, die Angst und die
Schwierigkeiten der Heldin,
selbst mit den besten Super -
busen-Freundinnen über das
Offensichtliche zu reden.VW

Paula Irmschler: »Superbusen«.
Claassen; 320 Seiten; 20 Euro.

Kino

Herz in der


Finsternis


 Die junge Frau heißt Waad
al-Kateab, sie kam nach
Aleppo, um dort zu studie-
ren – und geriet in eine
Re volution, die sich zu einem
Krieg ent wickelte. »Für
Sama«, die oscarnominierte
Dokumen tation der syrischen
Journalistin Waad al-Kateab,
erzählt von einer Heldin,
die inmitten der Kämpfe und
Bom bardements Mutter
wird. Die Filmarbeit begann
als eine Art visuelles Tage-
buch, gefilmt mit dem Smart -
phone. Mit Unterstützung

des britischen Filmemachers
Edward Watts wurde daraus
eine mehrere Jahre umspan-
nende Chronik des massen-
haften Sterbens, der wachsen-
den Verzweiflung und der
nie versiegenden Hoffnung.
Die Bilder blutiger und
schwer versehrter Körper
sind manchmal kaum zu
ertragen. Doch Kateabs
Entschluss, den Umständen
zum Trotz ihrer Tochter
Sama das Leben schenken,
gibt dem Film enorme Kraft.
Er wirkt wie ein heroischer
Akt des Wi de r stands gegen
eine Welt, die unmensch -
licher kaum sein könnte. Ein
ebenso harter wie zartfüh -
lender Film. LOB

Jazz
Große Veteranin

 So alt, wie sie heute ist, 83
Jahre, hätte sie noch mit den
Großen des goldenen Jazz-
zeitalters spielen können,
damals, in den späten Fünfzi-
gern und frühen Sechzigern.
Aber Carla Bleys Zeit begann
eigentlich erst, als Jazz nicht
mehr supercool war, sondern
schon eine Musik für Ken-
ner, die im Schatten des Rock
stand. Heute macht die Pia-
nistin Jazz, der fast wie klassi-
sche Sonaten aufgebaut ist –
in mehrsätzigen Kompositio-
nen. Das vierteilige Titelstück

ihres neuen Albums »Life
Goes On« ist Kammermusik
auf Basis des Blues: drei
Instrumentalisten, neben
Bley ihr Lebensgefährte, der
Bassist Steve Swallow, sowie
Andy Sheppard am Saxofon,
vereint in gelassener Kön -
nerschaft, in der Liebe zum
Spiel miteinander und zur
Melodie. Es ist ein wunderba-
res, leichtherzig stimmendes
Werk, getragen von Reue und
Zuversicht. Die goldene Zeit
des Jazz mag lange vorbei
sein – aber diese Platte ver-
mittelt eine Ahnung davon:
So ist das, wenn die Großen
miteinander musizieren. SHA

Malerei
Fieberndes Genie

 Rom feiert von kommender
Woche an den Renaissance-
künstler Raffael mit einer
spektakulären Schau – sollte
sich das Coronavirus nicht
weiter im Land ausbreiten, so -
dass die Museen schließen
müssen. Raffael starb vor bald
500 Jahren, am 6. April 1520,
der 37-Jährige war einem mys-
teriösen Fieber erlegen. Seine
Zeitgenossen verehrten ihn
als »Gott der Kunst«. Gleich
zwei Päpste hat er porträtiert,
Julius II. und Leo X., und
in der Jubi läumsschau werden
beide Bildnisse erstmals zu -
sammen zu sehen sein, eine

Sensation. Das eine wird
von der National Gallery in
London ausgeliehen, das
andere von den Uffizien in
Florenz, dort allerdings ist
der wissenschaft liche Beirat
gerade zurückgetreten,
weil er mit dem Transport der
alten Tafel nicht einverstan-
den war. In Rom – in der Aus-
stellungshalle Scuderie del
Quirinale – hängen die Papst-
bilder also von Donnerstag
an neben Darstellungen
lieb licher Madonnen und
auch neben dem freizügigen
Porträt einer jungen Frau,
von der spätere Raffael-Be -
wun derer annahmen, sie
sei die Geliebte des Künstlers
gewesen. UK

CATERINA DI PERRI / ECM RECORDS
Bley

PRIVAT
Irmschler
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