Der Spiegel - 29.02.2020

(Jeff_L) #1

D


ieses Werk ist ein Angriff auf die
Etablierten. Ja, fehlt es denn da-
ran?, möchte man fragen. Sind
diese Etablierten zurzeit nicht oh-
nehin von allen Seiten scharfen Angriffen
ausgesetzt? Sind die Etablierten von einst
nicht längst die Zittrigen von heute? Und
muss man in dieser Situation ihre sturm-
reife Festung noch bombardieren?
Doch das Interessante an »Die recht-
schaffenen Mörder«, dem neuen Roman
von Ingo Schulze, 57, der am 4. März er-
scheint, ist, dass hier von innen geschossen
wird: aus der Festung gegen die Mauern,
die das Innere und ihre etablierten Bewoh-
ner doch eigentlich schützen sollen. Es ist
ein Buch über den von Hass und Ressen -
timents beherrschten Osten Deutschlands,
aus der Perspektive von einem, der weg-
gegangen ist. Der seine Herkunftswelt hin-
ter sich gelassen hat, um im Westen Erfolg
zu haben. Und der sich jetzt fragt: Hat sein
Verrat, seine »Selbstentleibung« Ost, zu der
Situation, wie sie heute ist, beigetragen?


Es beginnt im Legendenton,mit der Be-
schreibung einer Welt, die lang schon un-
tergegangen ist: »Im Dresdner Stadtteil
Blasewitz lebte einst ein Antiquar, der we-
gen seiner Bücher, seiner Kenntnisse und
seiner geringen Neigung, sich von den Er-
wartungen seiner Zeit beeindrucken zu las-
sen, einen unvergleichlichen Ruf genoss.«
Er heißt Paulini und ist ein geistiger Herr-
scher der alten DDR, eine Art Gegenkönig
zu der Draußenwelt, er scheidet in seinem
Antiquariat die geistigen Werte in bleiben-
de und vergängliche. Er ist der Herr des
Kanons, ein Bauherr der geistigen Grund-
lagen der Zeit und einer, der durch seine
literarischen Kenntnisse die alte Buchwelt
zum Leben zu erwecken vermag. Im Ge-
spräch mit den Besuchern seiner Welt.
Geld spielt in diesem Laden kaum eine
Rolle. Wertvolle Werke gibt er auch mal
für beinahe nichts ab, wenn der Kunde
ihm gefällt und wenig Geld hat.
Den Sommer und Herbst 1989 unter-
schätzt dieser Paulini dann jedoch. Er
macht bei den Demonstrationen nicht mit,
warnt, man dürfe den Machthabern nicht
ins offene Messer laufen, und weiß, es wür-


Ingo Schulze: »Die rechtschaffenen Mörder«. S. Fischer;
320 Seiten; 21 Euro.


de sich sowieso nichts ändern. Zu viel Kon-
takt mit der Ewigkeit kann den Blick auf
die Gelegenheiten des Jetzt schon trüben.
Nach der sogenannten Wende geht es
mit Paulini und seiner Welt bergab. Die
Kunden bleiben aus, haben Besseres zu tun,
als alte Bücher zu kaufen, und Paulinis Be-

stände verlieren von einem Tag auf den
anderen komplett ihren Wert. Erschüttert
sieht der Antiquar Bücherberge auf Müll-
halden, die gesamte DDR-Produktion,
Klassiker, Dissidentenwerke, Neues, Altes:
Was eben noch ein wertvoller Schatz war,
ist plötzlich Abfall, der von Müllbaggern

110 DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020


Kultur

Der Verrat


Literatur Ingo Schulze wurde in Dresden geboren und nach der Wende einer der erfolgreichsten
Schriftsteller des Landes. Hat er sich den Erfolg durch Verleugnung des Ostens

und seiner selbst erkauft? Sein neuer Roman ist ein Geständnis. Von Volker Weidermann

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