Der Spiegel - 29.02.2020

(Jeff_L) #1

zusammengeschoben wird. Der Mann, der
eben noch auf dem festen Grund der Ewig-
keit thronte, verliert den festen Boden unter
sich. Aus dem Haus im Dresdner Villen-
stadtteil Blasewitz muss er auch raus, er
zieht mit den geretteten Büchern aufs Land,
wo die Elbeflut seinen Buchbestand bald
weiter dezimiert. Seine Frau, erfährt er, hat
ihn und seine Bücherfreunde jahrelang an
die Stasi verraten. Paulini – ein Hiob der
alten DDR. Man muss sich schon sehr eng
mit der Ewigkeit verbunden wissen, um all
diese Schicksalsschläge zu verkraften.
Am tiefsten aber, so erzählt es der Ro-
man, trifft ihn der Verrat. Verrat seiner al-
ten Kunden, der Menschen, denen er einst
geistiger Führer ins Bücherreich gewesen
ist, denen er die lebendige Welt der Lite-
ratur eröffnet hatte. Besonders der Verrat


von zweien trifft ihn ins Herz. Sie sind bei-
de höchst erfolgreiche Schriftsteller gewor-
den in der Zeit nach dem Mauerfall. Sie
haben Preise, Ruhm, Geld und Erfolg er-
rungen, aber, so sieht es der Antiquar, um
den Preis des Vergessens. Um den Preis
der Verleugnung ihrer geistigen Herkunft,
Verleugnung von ihm, Paulini.
Einer heißt Gräbendorf, ist Götterlieb-
ling des Feuilletons West. Bei den alljähr-
lichen Empfängen der Villa Massimo, der
Repräsentanz westdeutschen Dichterglan-
zes in Italien, führt er sich auf wie ein Au-
ßenminister des Geistes. Der Schriftsteller
Durs Grünbein dürfte das Vorbild dieser
Figur sein. Der andere, etwas weniger ar-
riviert und abgehoben, aber nicht weniger
ostflüchtig und selbstverleugnend, trägt
im Buch einen weniger verhüllenden Na-

men. Er heißt Schultze. Der Mittelteil des
Romans wird von diesem Schultze in der
Ichperspektive erzählt. Und vielleicht ist
er sogar der Mann, der Paulini eines Tages
von einem Felsen stürzen wird. Warum?

Wir klingeln beim echten Schulze,Ingo
Schulze ohne t. Er wohnt im westlichsten
Westen Berlins, in einer Altbauwohnung
am Lietzensee. Die Klingel unten ist ein
ultramoderner Touchscreen, man muss die
Namen der Bewohner alphabetisch herun-
terscrollen, bis man bei S angelangt ist.
»Ja, ja, peinlich diese Klingel«, sagt der
Schriftsteller bei der Begrüßung. Müsse er
sich jedes Mal aufs Neue für entschuldigen.
Er lebt in einem herrlichen Altbau, große
Wohnküche, langer Holztisch, Fenster-
front auf den See hinaus. Unten ein kleiner
Garten mit Pavillon am See, der Sturm der
letzten Tage hat große Äste von den Bäu-
men gerissen, jetzt liegen sie, zu einer klei-
nen Barrikade gestapelt, aufeinander.
Ingo Schulze ist ein freundlicher, offener
Mann mit einem weichen Gesicht, runder
Brille, die Locken kurz geschnitten, er for-
muliert langsam und etwas umständlich.
Verliert während eines Satzes öfter mal
den Faden. Er beginnt das Gespräch mit
dem etwas irritierenden Satz: »Selbstver-
ständlich steh ich zu dem Buch und habe
da jeden Satz geschrieben, aber ...« Was
ist denn das? Wir haben doch noch gar
nicht angefangen? Sind wir mit unserem
besonders kritischen Gesicht gekommen?
Schulze fährt fort: »Es gab noch kein Buch
von mir, bei dem es mir so schwerfiel, drü-
ber zu reden.« Im weiteren Verlauf des
Gesprächs wird Schulze immer wieder sa-
gen: »Aha, so sehen Sie das?« und »Sehen
Sie, das hab ich noch gar nicht kapiert.«
Vor allem ist er sehr daran interessiert, sei-
ner Romanfigur Schultze den Mord an sei-
ner Hauptfigur Paulini anzuhängen – der
im Buch gewaltsam zu Tode kommt, ohne
dass der Täter explizit genannt wird –,
während wir Leser den Mann für harmlos
und zu einem Mord nicht fähig halten.
Ingo Schulze ist seit vielen Jahren der
vielleicht beliebteste Ost-Erklärer des Wes-
tens. Während der Wendetage gründete er
im thüringischen Altenburg eine Zeitung,
ging 1993 im Auftrag eines Unternehmers
nach Sankt Petersburg, um dort ein Anzei-
genblatt zu gründen, kam zurück und
schrieb sein erstes Buch, das gleich das
Glück im Titel führte: »33 Augenblicke des
Glücks«. Einen großen Erfolg feierte er
dann mit den 1998 erschienenen Geschich-
ten aus der ostdeutschen Provinz, »Simple
Storys«, ein fantastisches Buch, lakonisch,
cool, selbstironisch. Als besondere Qualität
des Bandes führt Wikipedia heute noch das

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FABIAN ZAPATKA / DER SPIEGEL

Autor Schulze (r.), Redakteur Weidermann
»Lesen Sie doch mal hier«
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