Der Spiegel - 29.02.2020

(Jeff_L) #1
Fehlen jedweder Nachwendeweinerlichkeit
an. Endlich also einer, der nicht jammert.
Der beschreibt, staunt, großartig schreiben
kann und Erfolg hat im neuen Land.
Nach seiner Rückkehr aus Sankt Peters-
burg zog er nach Berlin, hat seitdem fast
ununterbrochen im Westen gelebt. Er fügt
hinzu: »Der Verlag, die Zeitungsrezensio-
nen, die Lesungen, das war alles Westen.
Erst bei einem Interview 1998 sagte mir ein
Journalist von der ›Süddeutschen Zeitung‹:
›Sie müssen mir das nicht alles erklären, ich
bin auch aus dem Osten.‹ Da merkte ich
zum ersten Mal, dass ich ganz selbstver-
ständlich immer einen West-Gesprächspart-
ner voraussetzte und mich auch so verhielt.«
Das neue Buch schwankt zwischen den
Welten, erzählt auf unsicherem Grund, das
ist seine große Qualität. Es besteht aus drei
Teilen. Der erste ist eine Beschwörung der
alten Bücherwelt. Vorbild für den gewähl-
ten Ton war, so Schulze, die fantastische
Legende von Joseph Roth »Der Korallen-
händler« über einen Juden am Rand der
Donaumonarchie, Liebhaber und Verkäu-
fer jener herrlichen Unterwasserwesen.
Bis ein anderer Händler künstliche Koral-
len verkauft. Billiger und makelloser. Na-
türlich kaufen alle nur noch die tollen
Kunstkorallen. Eine Welt stürzt ein.
Die DDR als untergehende Buchlegen-
de also. Schulze beschreibt dieses von der
Außenwelt hermetisch abgeschlossene, eli-
täre Buchstabenreich beschwörend genau.
Ein verführerisches Land im Land, wo
man sich, von Büchern beschützt, für die
Ewigkeit einrichten konnte. Das Draußen
war klein und egal.
Der zweite Teil ist aus der Sicht dieses
Schultze geschrieben. Er hat Erfolg im Wes-
ten und vergisst Paulini. Hat deshalb auch
ein schlechtes Gewissen, das er auffängt, in-
dem er einen ehrenvollen Festvortrag über
ihn hält. Da kann Paulini sich doch freuen.
Der große Schultze, der den kleinen Buch-
händler auch im Erfolg nicht vergessen hat.

Aber da kommt Lisa ins Spiel.Sie ist mit
beiden liiert, zunächst geblendet vom West -
erfolgstypenSchultze, doch je länger es
währt, desto härter rechnet sie mit ihm ab.
Wirft ihm Verrat am Osten vor, Selbstent-
leibung, Ostentleibung. Schultze fragt sich:
»Machte ich Konzessionen? Oder merkte
ich das schon nicht mehr? War ich für Lisa
einer jener Hampelmänner, von denen sie
sprach, die überall und immer verfügbar
waren, wenn sie nur einen Zipfel Öffent-
lichkeit ergattern konnten, die ganz auto-
matisch, wenn sie sprachen, sich an ein Pu-
blikum im Westen wandten?«
Lisa hat, in der Perspektive des Romans,
ziemlich recht. Schultze hat Paulini und
dessen Welt verraten. Und Paulini driftet
ab ins Ressentiment, gegen Ausländer, ge-
gen die ganze neue Welt da draußen. Ein
Rechtsextremer. Lisa entscheidet sich ge-


gen das Erfolgswürstchen Schultze und für
den verlorenen Antiquar. Das bekommt
beiden nicht gut, von der herrlichen Gold-
steinaussicht in der Sächsischen Schweiz
stürzen sie in den Tod. War es Mord? Hat
der rechtschaffene Schultze die beiden ge-
stoßen? Aus Eifersucht? Oder um seine ei-
gene peinliche Herkunftswelt endgültig
zum Verstummen zu bringen?
Wer auch immer der Mörder war – falls
es überhaupt ein Mord gewesen ist: Ingo
Schulze hat in seinem neuen Roman einen
Rechtsextremen zum Opfer gemacht. Op-
fer der Verhältnisse, Opfer des Verrats der
angepassten Superwestler, Opfer einer Li-
teratur, die die eigene Herkunft vergessen
hat. Muss das sein? Brauchen wir in diesen
Tagen wirklich einen verständnisvollen
Mitleidsroman für Rechtsextreme? Ist
nicht Entschlossenheit gegen rechte Idio-
ten gefragt? Die Antwort ist natürlich: ja.
Trotzdem ist es erstens literarisch im-
mer interessant, sich seiner eigenen Sache
nicht ganz sicher zu sein, Fragen zu stellen,
wo die Welt von allen Seiten mit klaren
Antworten umstellt ist. Zweitens ist es ein-
fach eindrucksvoll, die Geschichte der Wie-
dervereinigung noch einmal als eine Ge-
schichte der Zerstörung der geistigen
Grundlagen einer Welt darzustellen, von
einem Tag auf den anderen. Das Bild der
Büchermüllberge, die Geschichte eines
Mannes, der einfach den Boden unter den
Füßen verliert. Wo er eben noch auf den
Werken der Ewigkeit stand.

Und das ist alles nicht aus der Perspek-
tive eines Uwe Tellkamp geschrieben, der
in seinem Erfolgsroman »Der Turm« eine
ganz ähnliche, luftabgeschlossene höhere
Herkunftswelt entwarf und der in seiner
1000-seitigen Fortsetzung womöglich –
das legen die politischen Äußerungen Tell-
kamps und die bekannten ersten Passagen
nahe – eine rechtsextreme und ausländer-
feindliche Gesinnung der gefallenen Hel-
den als folgerichtige Konsequenz der West-
dominanz beschreiben wird.
Ein solcher entschuldigender Fatalismus
der Geschichte liegt Ingo Schulze fern. Er
will es sich nur nicht zu einfach machen.
Er sitzt jetzt hier an seinem Tisch in der
Wohnung am See und sagt: »Ich wollte na-
türlich was viel Kritischeres über das
Rechtsaußen schreiben und merkte plötz-
lich – da kommen wir Etablierten ja viel
mehr in den Blickpunkt.« Und er fügt hin-
zu: »So ein Etablierter bin ich natürlich
auch. Es ist durchaus auch eine Auseinan-
dersetzung mit mir und meiner Rolle.«

In den ersten beiden Teilen gelingt Schul-
ze das großartig. Die Legende des Bücher-
reichs im ersten, der schwankende Schult-
ze im zweiten. Der abschließende dritte
Teil ist der schwächste. Das liegt daran,
dass ihm die Selbstbezichtigung in letzter
Konsequenz nicht gelingt. Es sind sehr
komische Szenen, wie jetzt der Autor an
seinem Tisch den Kritiker von der Schuld
seines Alter Ego zu überzeugen versucht.
»Lesen Sie doch mal hier.« »Dort, das ist
doch ein Indiz. Was macht der Schultze
denn zur Tatzeit bitte in der Sächsischen
Schweiz?« Und schließlich: »Ich denke
schon, dass er ein Mörder ist.«
Das denken wir leider nicht. Wir müs-
sen den verdächtigen Selbstverleugner
Schultze in diesem Indizienprozess frei-
sprechen. Der Mann mit dem »t« im Na-
men ist einfach ein etwas zu gutmütiger,
selbstgenügsamer, harmloser Herr, als
dass er die verlorenen Ostler da von der
Goldsteinaussicht wirklich hinabstürzen
würde. Wahrscheinlich sind die beiden
selbst gesprungen – oder ein Nazi hat sie
hinabgestoßen.
Ingo Schulze will seinem literarischen
Spiegelbild einen Mord in die Schuhe
schieben, will ihn und sich selbst schuldi-
ger machen, als sie beide wohl sind. Es
scheint, als kennte er vielleicht sein Werk
und sich selbst nicht wirklich genau. Für
die Leser aber ist dieses Schwanken, sind
diese Fragen, diese Zweifel, Selbstzweifel
und auch die Irrtümer ein Glück. Erzählt
dieses Werk doch nicht nur von den fata-
len blinden Flecken der deutschen Ge-
schichte der vergangenen 30 Jahre, son-
dern auch von der Selbstbezichtigung,
dem Schwanken und der Schwäche derer,
die eigentlich kämpfen müssten.

112 DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020

WALTRAUD GRUBITZSCH / DPA / PA
Entsorgte DDR-Bücher 1991
Zerstörung der geistigen Grundlagen

Wahrscheinlich sind die
beiden selbst gesprun-
gen – oder ein Nazi
hat sie hinabgestoßen.
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