Der Spiegel - 29.02.2020

(Jeff_L) #1

Das Verständnis von Hitler und seiner
Ideologie ist durch seinen Rassenwahn,
den Vernichtungskrieg im Osten und den
Holocaust geprägt. In einer Biografie, die
nun auf Deutsch erscheint, bricht der Ire
Simms, 52, mit vielen verbreiteten Ansich-
ten über die Intentionen und Antriebskräfte
des Dik tators. Simms ist Professor für
Geschichte der internationalen Beziehun-
gen in Cambridge.


SPIEGEL: Mr Simms, über Adolf Hitler,
das »Dritte Reich« und den Zweiten Welt-
krieg gibt es unzählige Veröffentlichungen.
Was hat Sie bewogen, dieser langen Liste
einen weiteren Titel hinzuzufügen?
Simms: Alle diese Werke haben entschei-
dende Beiträge zu unserem Verständnis
von Hitler geleistet. Sie sind Produkte
ihrer Zeit, sie spiegeln unterschiedliche
Ansätze und wissenschaftliche Trends
wider –  Totalitarismusforschung, Sozial-
geschichte, Kultur und Psychologie. Ich
glaube jedoch, dass all diesen Studien, so
bedeutend sie sind, zwei oder drei wichti-
ge Dimensionen fehlen.
SPIEGEL: Was haben sie übersehen?
Simms: Vor allem Hitlers überaus heftige
Gegnerschaft zum internationalen Kapita-
lismus. Und dann seine beharrliche Aus -
einandersetzung mit den Briten und den
Amerikanern, mit der deutschen Auswan-
derung nach Amerika, mit dem Rassen-
kampf nicht allein gegen die Juden oder
die Slawen, sondern mit den Angelsachsen.
Dazu seine höchst zwiespältige Haltung
zum deutschen Volk.
SPIEGEL: Wollen Sie behaupten, dass Hit-
lers Hauptaugenmerk gar nicht, wie weit-
hin angenommen, dem Bolschewismus,
der Sowjetunion und den Juden galt?


Brendan Simms: »Hitler. Eine globale Biographie«.
Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt. DVA;
1056 Seiten; 44 Euro. Erscheint am 9. März.


Simms: Die Furcht vor dem Kommunis-
mus war sehr ausgeprägt, das zu bestreiten
wäre absurd. Meine These lautet aber, dass
sie seinem Hass auf den globalen Kapita-
lismus und seiner Furcht vor der anglo-
amerikanischen Macht nachgeordnet war.
Sein politischer Orientierungspunkt am
Ende des Ersten Weltkriegs war nicht die
Russische Revolution, sondern die Nieder-
lage gegen die westlichen Alliierten und
die Mächte des internationalen Kapitalis-
mus, die von Großbritannien und Amerika
verkörpert wurden. Auch seine ersten do-
kumentierten antisemitischen Ausfälle aus
dem Sommer 1919 entspringen eindeutig
seiner Haltung zum Kapitalismus, nicht
zum Bolschewismus.
SPIEGEL: Sein Antisemitismus hatte weni-
ger eine antikommunistische als eine anti-
kapitalistische Stoßrichtung?
Simms: Hitler wurde zum Feind der Ju-
den, bevor er zum Gegner der Russischen
Revolution wurde. Und er war zum Geg-
ner Großbritanniens und der Vereinigten
Staaten von Amerika geworden, bevor er
zum Judenfeind wurde. Tatsächlich wurde
er zum großen Teil wegen seines Hasses
auf die kapitalistischen, angloamerikani-
schen Gegner Deutschlands zum Antise-
miten. Es ist entscheidend, die kausale Ver-
knüpfung richtig zu verstehen.
SPIEGEL: Hitler hatte den Ersten Welt-
krieg im Westen mitgemacht, wo den
Deutschen britische und am Ende auch
amerikanische Soldaten gegenüberstan-
den. Aber hat er danach, in den Wirren
der ersten Nachkriegsjahre, die rote Ge-
fahr nicht als viel bedrohlicher angesehen?
Simms: Wenn man Hitlers politisches
Weltbild in seiner Entstehung und Ent-
wicklung durch die Zwanziger- und Drei-
ßigerjahre und auch noch durch den
von ihm angezettelten Krieg verfolgt,
dann ergibt sich eindeutig, dass der
Hauptfeind Angloamerika und der inter-

nationale Kapitalismus bleibt. Den Bol-
schewismus betrachtet er nur als Virus,
dessen Ausbreitung Deutschlands natio-
nale Wirtschaftskraft zertrümmern  und
damit reif für die Übernahme durch die
Kräfte des internationalen Kapitalismus
machen würde.
SPIEGEL: Der Bolschewismus ist für ihn
ein Instrument des internationalen Kapi-
talismus? Das klingt ziemlich verquer.
Simms: Nicht, wenn Sie seiner Logik fol-
gen und seine Prämissen verstehen, wobei
ich betonen möchte, dass man sich als His-
toriker in seine Gedankenwelt versetzen
muss, um sie deuten zu können, ohne sie
zu übernehmen oder sich von ihr anste-
cken zu lassen. Dann stoßen Sie auf sein
Argument, dass der internationale Kapi-
talismus und Angloamerika alle möglichen
Mittel nutzten – die Gewerkschaften, den
Liberalismus, die Demokratie, den Mar-
xismus, die Sozialdemokratie und den Bol-
schewismus –, um die nationale Volkswirt-
schaft Deutschlands zu zerstören.
SPIEGEL: Machen Sie da aus Hitler einen
der ersten Globalisierungskritiker?
Simms: Noch einmal: Ich will Hitler nicht
rechtfertigen. Aber sein gesamtes Denken
und die Politik des »Dritten Reichs« waren
im Wesentlichen eine Reaktion auf die
enorme globale Macht des britischen Em-
pire und der Vereinigten Staaten.
SPIEGEL: Sein Verhältnis zu Großbritan-
nien und den USA war durch Furcht und
Bewunderung geprägt. Warum?
Simms: Bewunderung und Respekt ent-
sprangen seinen Erfahrungen im Krieg.
Hitler kam immer wieder auf die Zähigkeit
der Briten zu sprechen, wie er sie an der
Front erlebt hatte. Die Kämpfe im Osten
berührten sein Bewusstsein dagegen zu
dieser Zeit kaum. Hinzu kam die Be -
gegnung mit amerikanischen Soldaten
im Sommer 1918, frischen Truppen, die
hoch motiviert gegen erschöpfte Deutsche

117

Kultur

»Hitler marschierte nach


Osten, weil er den


Westen im Blick hatte«


SPIEGEL-GesprächDer Historiker Brendan Simms zeichnet in einer kontroversen Biografie
ein neues Bild von Adolf Hitler. Dessen Hauptfeinde seien das britische Empire

und die USA gewesen – nicht die Sowjetunion. Daraus erkläre sich sogar der Holocaust.


DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020

Free download pdf