Der Spiegel - 29.02.2020

(Jeff_L) #1
Kultur

antraten. Darunter befanden sich auch
Deutschstämmige. Hitler schilderte in spä-
teren Reden wiederholt, wie dieses Aha-
Erlebnis ihm die Augen geöffnet habe: Das
Reich sei über Jahrhunderte durch die Aus-
wanderung seiner besten rassischen Ele-
mente ausgehöhlt worden.
SPIEGEL: Armutsflüchtlinge würde man
diese Emigranten heute nennen.
Simms: Diesen meist jungen Männern, die
ein besseres Leben in der Ferne suchen,
schreibt man auch in der aktuellen Migra-
tionsdebatte oft eine besondere Dynamik
zu. Hitler sah damals zwei Mächte mit
scheinbar unbegrenzten natürlichen und
ökonomischen Ressourcen, die in ihren
territorialen Weiten, im amerikanischen
Westen, in Kanada, Australien und Neu-
seeland, Millionen Menschen deutscher
Herkunft aufnahmen, sie zu guten Neu-
bürgern machten und nunmehr gegen ihr
Ursprungsland einsetzten.
SPIEGEL: Die Vorstellung vom fehlenden
»Lebensraum« hatte Ihrer Meinung nach
hier ihren Grund?
Simms:Hitler entwickelte seine Weltan-
schauung und seine Geopolitik als Gegen-
entwurf nicht zu den Bolschewiki im rück-
ständigen Russland, sondern zu Anglo-
amerika als Inbegriff der Modernität.
SPIEGEL: Er sah demzufolge in der Sowjet-
union die Beute, die er sich holen wollte,
und weniger die Gefahr, der er mit einem
Präventivkrieg zuvorkommen wollte?
Simms: Er missachtete die Sowjetunion
weitgehend und unterschätzte ihre Stärke.
Diese Fehleinschätzung sollte sich später
im Krieg aus begreiflichen Gründen än-
dern. Aber die absoluten Gegner, wie er
sagte, waren für ihn Großbritannien, Ame-
rika und der internationale Kapitalismus.
SPIEGEL: Nicht die Juden?
Simms: Hitlers Antisemitismus entsteht
nicht in seiner Zeit als junger Mann in
Wien, höchstwahrscheinlich auch nicht
während des Kriegs, sondern danach. Die
Juden sind in Hitlers Augen die Agenten
des Großkapitals, das die Kriegsführung
der Alliierten finanzierte und Deutsch-
lands Wirtschaft strangulierte. Damit wer-
den sie in seiner Analyse zur zentralen Par-
tei im feindlichen Bündnis. Deshalb redet
er von den Amerikanern und den Juden
in nahezu austauschbaren Begriffen.
SPIEGEL: Was waren Hitlers Ziele?
Simms: Ihm schwebte ursprünglich eine
Art globale Parität vor, eine Aufteilung der
Welt, in der Deutschland Kontinental -
europa beherrschen und genug Raum ge-
winnen würde, um sich als ebenbürtige
Weltmacht gegenüber den Angelsachsen
behaupten zu können. Deshalb war der
Feldzug im Osten in seiner Planung zwin-
gend, während er einen Konflikt im Wes-
ten, wenn möglich, vermeiden wollte.
SPIEGEL: Ein Griff nach der Weltmacht,
aber nicht der Weltherrschaft?


Simms:Mit Kriegsbeginn drehte er dann
immer größere Runden, nicht aus Gier und
Größenwahn, wie er es sah, sondern aus
Notwendigkeit. Aber zunächst ging es ihm
um Gleichrangigkeit. Dafür reichte es aller-
dings nicht, die Grenzen von 1914 wieder -
her zustellen, es brauchte mehr. Er meinte,
Deutschland müsse Weltmacht sein, oder es
werde gar nichts sein. Die Bedingung dafür
sah er im Raumgewinn. Briten und Ameri-
kaner hatten bewiesen, dass sie das Reich
mit ihrer Blockadepolitik niederringen konn-
ten. Damit bedrohten sie, wie er meinte, die
Überlebensfähigkeit der Deutschen. Der er-
oberte Raum im Osten sollte die strategische
Tiefe bringen und die Versorgung sichern.
SPIEGEL: Fürchten Sie nicht, dem Irrsinn
im Nachhinein einen Anstrich von ratio-
naler Realpolitik zu verpassen?
Simms: Ich würde Hitlers Weltbild nicht
rational nennen, das war es offensichtlich
nicht, wohl aber kohärent, wenn man von
seinen Prämissen ausgeht.
SPIEGEL: Ist es nicht gefährlich, nach einem
scheinbar wahren Kern in dieser Ideologie
zu suchen und so, ohne es zu wollen, rechts-
extremes Gedankengut zu befeuern?
Simms: Es geht nicht darum, nach einem
vermeintlich wahren Kern in Hitlers Den-
ken zu suchen. Viel wichtiger ist es heraus-
zuarbeiten, was er wollte –  die deutsche
Herrschaft über Europa und die Aufwertung
des deutschen Volks zu einer Herrenrasse.
SPIEGEL: Auch damals existierte bereits
eine alternative Idee zu dem Streben nach
Hegemonie: Paneuropa oder eine europäi-
sche Integration.
Simms: Hitler verachtete den Gedanken,
die Rettung für Deutschland in der euro-
päischen Integration zu suchen. Ein freies
Paneuropa würde in seinen Augen immer
nur eine Allianz von Klein- und Randstaa-
ten bleiben. Es wäre nicht stark genug, um
sich gegen die wirklich Großen wie die
USA zu behaupten – solange es nicht un-
ter deutscher Vorherrschaft stünde.
SPIEGEL: Zeigt sich hier nicht ein funda-
mentaler Widerspruch? Wie konnte Hitler

* Mit dem Redakteur Romain Leick in Simms’ Büro
in Cambridge.

der angloamerikanischen Welt eine so ein-
drucksvolle Stärke zuschreiben, wenn er
sie zugleich für jüdisch beherrscht hielt?
Simms: Daraus ergibt sich wirklich ein lo-
gisches Problem. Er assoziierte Juden als
angebliche Regenten der Börse so eng mit
dem angloamerikanischen Kapitalismus,
dass er an ein symbiotisches Verhältnis
glaubte. Wenn Briten und Amerikaner so
stark und rassisch wertvoll waren, wie er
meinte, warum hatten sie sich dann nicht
von den Juden befreit? Der sogenannte
Rassenkampf, auf den er sich bezog, war
für ihn auch, und sogar in erster Linie, eine
Konfrontation zwischen Deutschen und
Angelsachsen. Diese bildeten für ihn die
eigentliche Herrenrasse, zu der das deut-
sche Volk erst durch ein soziales, ökono-
misches und eugenisches Verbesserungs-
programm erhoben werden musste. Die
Faszination durch Angloamerika bestärkte
Hitler in seiner Einschätzung der rassi-
schen Unzulänglichkeit der Deutschen.
SPIEGEL: Zog Hitler bei seinen Expansions -
plänen eine Analogie zur Eroberung des
amerikanischen Westens?
Simms: Er fand die schiere Weite Nord-
amerikas überwältigend. Die Zukunft
gehörte seiner Ansicht nach den Riesenstaa-
ten; er sprach bewundernd vom amerika-
nischen Koloss mit seinen enormen Reich-
tümern. Als Hauptgrund für die Stärke der
USA hatte er die Demografie ausgemacht,
da der Kontinent durch »nordische« Ele-
mente erschlossen worden sei. Pläne wur-
den entworfen, um diese angeblich wert-
vollen rassischen Elemente zurückzuholen
oder gegen deutsche Juden auszutauschen.
Hitler stand ja vor dem Paradox, dass sei-
ne Eroberungen für ein »Volk ohne Raum«
zu einem »Raum ohne Volk« führten.
SPIEGEL: Dieser Raum war nicht men-
schenleer.
Simms: Hitler war überzeugt, dass man
den Boden germanisieren könne, nicht die
Menschen. Er schwankte gelegentlich et-
was zwischen dem britischen und dem
amerikanischen Modell der Kolonisierung:
unterworfene Rassen wie in Indien oder
Besiedlung des gewaltsam geräumten Ter-
ritoriums wie in Nordamerika? Letzterem
gab er eindeutig den Vorzug. Notgedrun-
gen wurde im Verlauf des Kriegs dennoch
ein Assimilationsprogramm ins Werk ge-
setzt, mit dem Teile der slawischen Bevöl-
kerung »eingedeutscht« werden sollten.
Die Logik von Krieg und Expansion trieb
ihn dazu, den Konflikt immer weiter aus-
zudehnen, bis er in der Niederlage gegen
die Angelsachsen endete.
SPIEGEL: Sie stellen damit die zentrale
militärische Bedeutung des Kampfs gegen
die Sowjetunion infrage. Hatte aber nicht
die Rote Armee den größten Anteil am
Sieg über das »Dritte Reich«?
Simms: Hitler marschierte nach Osten,
während und weil er den Westen im Blick

118 DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020

ANDREA ARTZ / DER SPIEGEL
Simms (r.) beim SPIEGEL-Gespräch*
»Präventivschlag gegen Amerika«
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