Der Spiegel - 29.02.2020

(Jeff_L) #1

Ereignis, danach passierte allerdings nicht
mehr viel. Das Land schien froh, dieses Ka-
pitel endlich hinter sich zu haben. Malcolm
X wurde umgebracht, Martin Luther King
erschossen, Polizisten misshandelten oder
töteten weiterhin Afroamerikaner und
wurden anschließend oft freigesprochen,
manchmal, wie 1992 in Los Angeles, kam
es danach zu Ausschreitungen. Allein Soul-
musik und später Gangsta-Rap erinnerten
an alte und aktuelle Gräuel.
Als Deutscher, der sich mit dem Holo-
caust auseinanderzusetzen hatte, wunder-
te man sich in den USA immer, dass es in
all den Jahrzehnten seit 1965 kaum Fort-
schritt gegeben hatte und sich die Spuren
von Rassismus weiterhin durch das täg -


liche Leben in einer Stadt wie New York
ziehen, für Schwarze wie auch für Weiße.
»Yeah, man«, sagt Coates.
Er hat uns hochgeführt in die menschen-
leere Bibliothek des Instituts. Wir sitzen
am Fenster und blicken über New Yorks
East Village. Coates’ Stimme hat einen
warmen Klang und holpert in schläfrigem
Rhythmus vor sich hin wie die des Rappers
Jay-Z.
»Yeah, man. Versklavung ist die Grund-
lage von Amerika. Punkt. Wenn du
schwarz bist, ist dir das sonnenklar. Ich
wurde 1975 geboren, 110 Jahre nach Ab-
schaffung der Sklaverei. Meine Vorfahren
in diesem Land haben aber zuvor 250 Jah-
re in Versklavung gelebt, also viel länger,

als wir bisher in Freiheit leben. Die Skla-
verei hat die Geburtsjahre dieser Nation
definiert und war immer an die Institutio-
nen des Wohlstands geknüpft. Es wäre
merkwürdig, wenn das keine Spuren hin-
terlassen hätte. Es wäre verrückt anzuneh-
men, dass die Sklaverei zwar stattgefun-
den, aber nichts damit zu tun hat, dass die
betroffene Bevölkerungsgruppe sich heute
am unteren Ende nahezu jeder sozioöko-
nomischen Kategorie wiederfindet.«
Coates sagt, er habe als junger Mann
selbst hart daran arbeiten müssen zu ver-
stehen, warum das im Einzelnen so ist, er
habe viel dafür lesen und denken müssen.
Intuitiv aber habe er die Zusammenhänge
schon immer befürchtet.
»Jeder fühlt es in seinen Knochen. Ich
habe als Kind früh erkannt, dass mein Vier-
tel irgendwie gefährlicher ist. Dass die
Menschen um mich herum ärmer sind.
Und die Schulen beides, ärmer und gefähr-
licher. Doch dann schaltest du das Fernse-
hen an, und du siehst: Die meisten Ameri-
kaner leben gar nicht so. Das bist nur du!«
Ta-Nehisi Coates ist auf der Westside
von Baltimore aufgewachsen, in einer Ge-
gend, die seit der Sozio-Drogenhandels-
Serie »The Wire« eine gewissen Reputa -
tion hat, mit ihren Straßen voller zugena-
gelter Häuser, 13-jähriger Corner Boys, die
Heroin an die Eltern verkaufen, und den
Polizisten, die wissen, dass sie mit ihren
Festnahmen nie etwas verändern werden.
Coates’ Vater war bei den Black Panthers
und hat mit vier Frauen sieben Kinder ge-
zeugt, Ta-Nehisis Mutter, eine Lehrerin,
war die letzte in der Reihe. Über all das
hat Coates 2008 in einer Art Coming-of-
Age-Buch berichtet, in »The Beautiful
Struggle«.
»Und dann merkst du, das trifft nicht
nur auf dich und deine Leute in West
Baltimore zu, sondern das gibt es auch in
Chicago oder New York. Überall, wo
schwarze Menschen sind, da ist dein Vier-
tel, deine Hood, da ist die Armut. Und
dann fängst du an, dich zu fragen, warum.
Du beginnst nachzudenken und zu lesen.
Und ziemlich schnell kommst du zur Ge-
schichte der Sklaverei.«
Deswegen hat Coates gleich nach »The
Beautiful Struggle« mit einem Roman über
die Sklaverei begonnen, er wusste sonst
nicht, wohin mit all dem Herausgefunde-
nen und Gelesenen über seine Vorfahren
und ihr Leben als Sklaven. Er hat mehr
als zehn Jahre gebraucht für das Buch.
Aber er konnte auch, als er anfing zu
schreiben, nicht ahnen, dass er als Essayist
berühmt sein würde, wenn der Roman
herauskäme.
Das Verblüffende ist: Der Roman klingt
tatsächlich völlig anders als Coates’ essay-
istische Texte. Während in Letzteren As-
soziationen und Paradoxien ins Fliegen
kommen, ist der Roman stilistisch und er-

DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020 121


VINCENT TULLO / DER SPIEGEL
Autor Coates: »Die Sklaverei hat die Geburtsjahre dieser Nation definiert«
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